Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Schichten, und dieses Aufstreben ist ein Beweis sür die in diesen Schichten noch Maßgebliches und Unmaßgebliches Schichten, und dieses Aufstreben ist ein Beweis sür die in diesen Schichten noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0591" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224175"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1751" prev="#ID_1750"> Schichten, und dieses Aufstreben ist ein Beweis sür die in diesen Schichten noch<lb/> vorhandne Physische, geistige und sittliche Kraft. An Kraft geht kein Volk zu<lb/> Grunde, wohl aber an Schwäche; wenn sich die Massen in eine unwürdige Lage<lb/> fügen, in der sie geistig und leiblich verkommen, dann ist es Zeit, sür den Staat,<lb/> sür das Volk zu fürchten; bei einem ernsten Zusammenstoße mit einem Nachbar¬<lb/> volke wird es seine Unabhängigkeit schwerlich behaupten. Lohnkämpfe bedrohen den<lb/> Staat gar nicht. Der bedrohliche Anstrich wird ihnen erst durch falsche Maßregel»<lb/> der Behörde» verliehen. Hätte sich ein großer Streik der Hafenarbeiter in Kiel<lb/> oder in Stettin ereignet, so würde wahrscheinlich Militär und eine große Polizei¬<lb/> macht aufgeboten worden sein, das würde zu Zusammenstößen geführt haben, und<lb/> dadurch würde dem Aufstände das Brandmal eines kleinen Aufstandes aufgeprägt<lb/> worden sein. Die Senatoren des ganz aristokratischen Hamburgs aber, obwohl sie<lb/> es schmerzlich genug empfinden mögen, daß ihre Stadt im Reichstage von Sozial-<lb/> demokraten vertreten wird, haben sich doch von dem liberalen Geiste, der einer<lb/> reichen Handelsrepublik geziemt, so viel bewahrt, daß sie auf dergleichen Mittelchen<lb/> verzichtet, für Militär gedankt und keine aufreizende Polizeimacht entfaltet haben.<lb/> So haben denn die Arbeiter beweisen können, daß sie in keinem Sinne staats-<lb/> gefährlich sind, die Hamburger Großhändler aber haben bewiesen, daß sie an Ein¬<lb/> sicht über dem Durchschnitt der deutschen Unternehmer stehen. Die englischen hat<lb/> vor zweiundvierzig Jahren Dickens gar reizend geschildert in Herrn Bouuderby<lb/> von Coketvwu, der darüber klagt, daß seine Arbeiter ein undankbares, wider¬<lb/> spenstiges Pack und beim besten Mokka und Rindfleisch stets unzufrieden seien,<lb/> und daß sie Schildkrötensuppe mit goldnen Löffeln essen wollten. Nirgends in<lb/> der Welt, meint Dickens, giebt es ein so zerbrechliches Porzellan, wie das ist, aus<lb/> dem die Spinner von Coketown bestehen; man mag sie anfassen, so vorsichtig man<lb/> will, so zerbrechen sie. Sie gehen zu Grunde, wenn sie die Fabrikkinder in die<lb/> Schule schicken sollen, sie gehen zu Gründe, wenn der Staat Fabrikinspektoren er¬<lb/> nennt, die es nicht ganz in der Ordnung finden, daß die Arbeiter von den Maschinen<lb/> in Stücke gerissen werden. Sie drohen, daß sie lieber ihr Vermögen tu deu Atlan-<lb/> tischen Ozean werfen, als unter solchen Umständen fortarbeiten lassen wollen. Doch<lb/> sind sie zu patriotisch, diese Drohung, die den Minister des Innern heftig er¬<lb/> schreckt hat, auszuführen. „Und so liegt es denn dort im Nebel, ihr Vermögen,<lb/> gedeiht und Vermehrt sich." Nun, die englischen Unternehmer haben sich scitdeni<lb/> diese Redensarten ein wenig abgewöhnt; die deutscheu stehen vielfach noch auf dem<lb/> Stnndpuukte der damaligen englischen und gehen sogar in einer Beziehung uoch<lb/> weiter: sie schieben statt ihrer eignen werten Person den Staat unter und stellen<lb/> diesen als ein Porzellangefäß hin, das bei jeder Erschütterung des Gewerbelebens<lb/> Zu zerbrechen drohe. Für einen Schaden sür den Staat würden wir es halten,<lb/> wenn die Hamburger Verhältnisse dahin führten, daß der alte, tüchtige Stamm der<lb/> dortigen Hafenarbeiter in ein Lumpenproletariat umgewandelt würde, wie es die<lb/> Londoner °Dockarbeiter sind. Der Aufstand ist unzweifelhaft auch ein Widerstand<lb/> gegen dieses den Leuten drohende Schicksal. Wie vorsichtig man die Angaben<lb/> der Unternehmerorgane aufnehmen muß, beweist der Umstand, daß sich selbst<lb/> die Minister durch hohe Lohnzahlen haben täuschen lassen, die bekanntlich daraus<lb/> entstanden sind, daß der Schauermann bei vierundzwanzig- und sechsunddreißig-<lb/> stündigen Schichten Gehilfen zur Ablösung braucht, deren Lohn mit auf seinen<lb/> Namen eingetragen wird. Komische Leute, diese Schauermänner, schreibt die<lb/> Frankfurter Zeitung: dreizehn Mark kriegen sie für deu Tag, und fünf Mark —<lb/> fordern sie.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0591]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Schichten, und dieses Aufstreben ist ein Beweis sür die in diesen Schichten noch
vorhandne Physische, geistige und sittliche Kraft. An Kraft geht kein Volk zu
Grunde, wohl aber an Schwäche; wenn sich die Massen in eine unwürdige Lage
fügen, in der sie geistig und leiblich verkommen, dann ist es Zeit, sür den Staat,
sür das Volk zu fürchten; bei einem ernsten Zusammenstoße mit einem Nachbar¬
volke wird es seine Unabhängigkeit schwerlich behaupten. Lohnkämpfe bedrohen den
Staat gar nicht. Der bedrohliche Anstrich wird ihnen erst durch falsche Maßregel»
der Behörde» verliehen. Hätte sich ein großer Streik der Hafenarbeiter in Kiel
oder in Stettin ereignet, so würde wahrscheinlich Militär und eine große Polizei¬
macht aufgeboten worden sein, das würde zu Zusammenstößen geführt haben, und
dadurch würde dem Aufstände das Brandmal eines kleinen Aufstandes aufgeprägt
worden sein. Die Senatoren des ganz aristokratischen Hamburgs aber, obwohl sie
es schmerzlich genug empfinden mögen, daß ihre Stadt im Reichstage von Sozial-
demokraten vertreten wird, haben sich doch von dem liberalen Geiste, der einer
reichen Handelsrepublik geziemt, so viel bewahrt, daß sie auf dergleichen Mittelchen
verzichtet, für Militär gedankt und keine aufreizende Polizeimacht entfaltet haben.
So haben denn die Arbeiter beweisen können, daß sie in keinem Sinne staats-
gefährlich sind, die Hamburger Großhändler aber haben bewiesen, daß sie an Ein¬
sicht über dem Durchschnitt der deutschen Unternehmer stehen. Die englischen hat
vor zweiundvierzig Jahren Dickens gar reizend geschildert in Herrn Bouuderby
von Coketvwu, der darüber klagt, daß seine Arbeiter ein undankbares, wider¬
spenstiges Pack und beim besten Mokka und Rindfleisch stets unzufrieden seien,
und daß sie Schildkrötensuppe mit goldnen Löffeln essen wollten. Nirgends in
der Welt, meint Dickens, giebt es ein so zerbrechliches Porzellan, wie das ist, aus
dem die Spinner von Coketown bestehen; man mag sie anfassen, so vorsichtig man
will, so zerbrechen sie. Sie gehen zu Grunde, wenn sie die Fabrikkinder in die
Schule schicken sollen, sie gehen zu Gründe, wenn der Staat Fabrikinspektoren er¬
nennt, die es nicht ganz in der Ordnung finden, daß die Arbeiter von den Maschinen
in Stücke gerissen werden. Sie drohen, daß sie lieber ihr Vermögen tu deu Atlan-
tischen Ozean werfen, als unter solchen Umständen fortarbeiten lassen wollen. Doch
sind sie zu patriotisch, diese Drohung, die den Minister des Innern heftig er¬
schreckt hat, auszuführen. „Und so liegt es denn dort im Nebel, ihr Vermögen,
gedeiht und Vermehrt sich." Nun, die englischen Unternehmer haben sich scitdeni
diese Redensarten ein wenig abgewöhnt; die deutscheu stehen vielfach noch auf dem
Stnndpuukte der damaligen englischen und gehen sogar in einer Beziehung uoch
weiter: sie schieben statt ihrer eignen werten Person den Staat unter und stellen
diesen als ein Porzellangefäß hin, das bei jeder Erschütterung des Gewerbelebens
Zu zerbrechen drohe. Für einen Schaden sür den Staat würden wir es halten,
wenn die Hamburger Verhältnisse dahin führten, daß der alte, tüchtige Stamm der
dortigen Hafenarbeiter in ein Lumpenproletariat umgewandelt würde, wie es die
Londoner °Dockarbeiter sind. Der Aufstand ist unzweifelhaft auch ein Widerstand
gegen dieses den Leuten drohende Schicksal. Wie vorsichtig man die Angaben
der Unternehmerorgane aufnehmen muß, beweist der Umstand, daß sich selbst
die Minister durch hohe Lohnzahlen haben täuschen lassen, die bekanntlich daraus
entstanden sind, daß der Schauermann bei vierundzwanzig- und sechsunddreißig-
stündigen Schichten Gehilfen zur Ablösung braucht, deren Lohn mit auf seinen
Namen eingetragen wird. Komische Leute, diese Schauermänner, schreibt die
Frankfurter Zeitung: dreizehn Mark kriegen sie für deu Tag, und fünf Mark —
fordern sie.
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