Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Kompetenzerweiternng der Amtsgerichte

rücksichtslos zu vertreten, als eine solche, die der Staatsgewalt genehm ist.
Im politischen Interesse ist selbstverständlich die Forderung der Unabhängigkeit
des Richters viel dringlicher als die der freien Advokatur; denn einem wegen
seiner politischen Abhängigkeit kleinmütigen Richter Ware die mißliebige Partei
ohne durchgreifendes Ablehnungsrecht unterworfen, unter den politisch ab¬
hängigen Anwälten dagegen wäre sie nur in ihrer Wahl beschränkt, und es
läge die Gefahr vor, daß sie keinen Anwalt funde, der mit Bloßstellung
seiner eignen Interessen rücksichtslos sür sie in die Schranken träte. Nun
haben sich aber beide Forderungen eine Beschränkung gefallen zu lassen, soweit
sie mit andern nicht minder berechtigten Forderungen in Widerstreit geraten.
Zur vollständige" Wahrung der Unabhängigkeit des Richters wäre eigentlich
erforderlich, daß auch für seine Versetzung und Beförderung eine objektive
Norm, z. B. das Dienstalter, gegeben wäre. Niemand denkt daran, folgerichtig,
aber im Widerstreit mit naheliegenden andern Interessen, diese Forderung so
weit zu treiben. Um so weniger kann es einem Bedenken unterliegen, die
Forderung der freien Advokatur, die weit weniger für die freiheitliche Ge¬
staltung der Verhältnisse ins Gewicht fällt, einer Beschränkung zu unterwerfen,
wenn es gleichberechtigte anderweite Interessen erfordern.

Ein solcher Fall ist aber gegeben, soweit die Freiheit der Advokatur in
Widerstreit gerät mit ihrer Integrität. Als man im Jahre 1876 die Einfüh¬
rung der freien Advokatur beschloß, hielt man die Gefahr, daß eine Überfüllung
dieses Berufs eintreten könnte, fast für ausgeschlossen. Über den Umfang, in
dem die freie Advokatur ihre Wirksamkeit entfalten würde, gab man sich den
sonderbarsten Einbildungen hin. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die
Schrift: "Die freie Advokatur in Preußen" von Professor Gneist, die damals
sür die beschlossene Gestaltung der Dinge von maßgebender Bedeutung war.
Was Gneist von der freien Advokatur erwartete, und was mit ihm Tausende
von ihr erwartet habe", würde man heute nicht für möglich halten, wenn man
es nicht gedruckt vor sich sähe. Zunächst führt er das Aufkommen der Winkel-
kvnsulenten lediglich auf die damals allerdings zweifellos zu geringe Zahl von
Rechtsanwälten zurück; er hegt nicht den geringsten Zweifel, daß sie wie Nebel
vor der Sonne verschwinden würden, sobald man die freie Advokatur einführte.
Sie würden verschwinden nicht allein für die Prozeßführnng. Daß sich das
Publikum beim Abschluß vou Gescllschaftsverträgeu. "Enterprisekontrakten," Voll-
'nnchtsaufträgen, Testamentsentwttrfen nicht an den Rechtsanwalt wende, rühre
ebenfalls nur von der zu geringen Zahl der Rechtsanwälte her; "nach Ein¬
führung der freien Advokatur werden allein diese Geschäfte wahrscheinlich hin¬
reichen, der heutigen Zahl von Rechtsanwälten ein genügendes Auskommen zu
gewähren." Auch die Vermittlung des Jmmvbiliarverkehrs und der großen
Geschäfte des Real- und Personalkredits werde der freien Advokatur zufallen.
Man werde künftig nicht mehr nötig haben, den Rechtsanwalt in seinen Sprech-


Grenzboten IV 1890 l>"
Die Kompetenzerweiternng der Amtsgerichte

rücksichtslos zu vertreten, als eine solche, die der Staatsgewalt genehm ist.
Im politischen Interesse ist selbstverständlich die Forderung der Unabhängigkeit
des Richters viel dringlicher als die der freien Advokatur; denn einem wegen
seiner politischen Abhängigkeit kleinmütigen Richter Ware die mißliebige Partei
ohne durchgreifendes Ablehnungsrecht unterworfen, unter den politisch ab¬
hängigen Anwälten dagegen wäre sie nur in ihrer Wahl beschränkt, und es
läge die Gefahr vor, daß sie keinen Anwalt funde, der mit Bloßstellung
seiner eignen Interessen rücksichtslos sür sie in die Schranken träte. Nun
haben sich aber beide Forderungen eine Beschränkung gefallen zu lassen, soweit
sie mit andern nicht minder berechtigten Forderungen in Widerstreit geraten.
Zur vollständige» Wahrung der Unabhängigkeit des Richters wäre eigentlich
erforderlich, daß auch für seine Versetzung und Beförderung eine objektive
Norm, z. B. das Dienstalter, gegeben wäre. Niemand denkt daran, folgerichtig,
aber im Widerstreit mit naheliegenden andern Interessen, diese Forderung so
weit zu treiben. Um so weniger kann es einem Bedenken unterliegen, die
Forderung der freien Advokatur, die weit weniger für die freiheitliche Ge¬
staltung der Verhältnisse ins Gewicht fällt, einer Beschränkung zu unterwerfen,
wenn es gleichberechtigte anderweite Interessen erfordern.

Ein solcher Fall ist aber gegeben, soweit die Freiheit der Advokatur in
Widerstreit gerät mit ihrer Integrität. Als man im Jahre 1876 die Einfüh¬
rung der freien Advokatur beschloß, hielt man die Gefahr, daß eine Überfüllung
dieses Berufs eintreten könnte, fast für ausgeschlossen. Über den Umfang, in
dem die freie Advokatur ihre Wirksamkeit entfalten würde, gab man sich den
sonderbarsten Einbildungen hin. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die
Schrift: „Die freie Advokatur in Preußen" von Professor Gneist, die damals
sür die beschlossene Gestaltung der Dinge von maßgebender Bedeutung war.
Was Gneist von der freien Advokatur erwartete, und was mit ihm Tausende
von ihr erwartet habe», würde man heute nicht für möglich halten, wenn man
es nicht gedruckt vor sich sähe. Zunächst führt er das Aufkommen der Winkel-
kvnsulenten lediglich auf die damals allerdings zweifellos zu geringe Zahl von
Rechtsanwälten zurück; er hegt nicht den geringsten Zweifel, daß sie wie Nebel
vor der Sonne verschwinden würden, sobald man die freie Advokatur einführte.
Sie würden verschwinden nicht allein für die Prozeßführnng. Daß sich das
Publikum beim Abschluß vou Gescllschaftsverträgeu. „Enterprisekontrakten," Voll-
'nnchtsaufträgen, Testamentsentwttrfen nicht an den Rechtsanwalt wende, rühre
ebenfalls nur von der zu geringen Zahl der Rechtsanwälte her; „nach Ein¬
führung der freien Advokatur werden allein diese Geschäfte wahrscheinlich hin¬
reichen, der heutigen Zahl von Rechtsanwälten ein genügendes Auskommen zu
gewähren." Auch die Vermittlung des Jmmvbiliarverkehrs und der großen
Geschäfte des Real- und Personalkredits werde der freien Advokatur zufallen.
Man werde künftig nicht mehr nötig haben, den Rechtsanwalt in seinen Sprech-


Grenzboten IV 1890 l>«
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0553" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224137"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Kompetenzerweiternng der Amtsgerichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1659" prev="#ID_1658"> rücksichtslos zu vertreten, als eine solche, die der Staatsgewalt genehm ist.<lb/>
Im politischen Interesse ist selbstverständlich die Forderung der Unabhängigkeit<lb/>
des Richters viel dringlicher als die der freien Advokatur; denn einem wegen<lb/>
seiner politischen Abhängigkeit kleinmütigen Richter Ware die mißliebige Partei<lb/>
ohne durchgreifendes Ablehnungsrecht unterworfen, unter den politisch ab¬<lb/>
hängigen Anwälten dagegen wäre sie nur in ihrer Wahl beschränkt, und es<lb/>
läge die Gefahr vor, daß sie keinen Anwalt funde, der mit Bloßstellung<lb/>
seiner eignen Interessen rücksichtslos sür sie in die Schranken träte. Nun<lb/>
haben sich aber beide Forderungen eine Beschränkung gefallen zu lassen, soweit<lb/>
sie mit andern nicht minder berechtigten Forderungen in Widerstreit geraten.<lb/>
Zur vollständige» Wahrung der Unabhängigkeit des Richters wäre eigentlich<lb/>
erforderlich, daß auch für seine Versetzung und Beförderung eine objektive<lb/>
Norm, z. B. das Dienstalter, gegeben wäre. Niemand denkt daran, folgerichtig,<lb/>
aber im Widerstreit mit naheliegenden andern Interessen, diese Forderung so<lb/>
weit zu treiben. Um so weniger kann es einem Bedenken unterliegen, die<lb/>
Forderung der freien Advokatur, die weit weniger für die freiheitliche Ge¬<lb/>
staltung der Verhältnisse ins Gewicht fällt, einer Beschränkung zu unterwerfen,<lb/>
wenn es gleichberechtigte anderweite Interessen erfordern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1660" next="#ID_1661"> Ein solcher Fall ist aber gegeben, soweit die Freiheit der Advokatur in<lb/>
Widerstreit gerät mit ihrer Integrität. Als man im Jahre 1876 die Einfüh¬<lb/>
rung der freien Advokatur beschloß, hielt man die Gefahr, daß eine Überfüllung<lb/>
dieses Berufs eintreten könnte, fast für ausgeschlossen. Über den Umfang, in<lb/>
dem die freie Advokatur ihre Wirksamkeit entfalten würde, gab man sich den<lb/>
sonderbarsten Einbildungen hin. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die<lb/>
Schrift: &#x201E;Die freie Advokatur in Preußen" von Professor Gneist, die damals<lb/>
sür die beschlossene Gestaltung der Dinge von maßgebender Bedeutung war.<lb/>
Was Gneist von der freien Advokatur erwartete, und was mit ihm Tausende<lb/>
von ihr erwartet habe», würde man heute nicht für möglich halten, wenn man<lb/>
es nicht gedruckt vor sich sähe. Zunächst führt er das Aufkommen der Winkel-<lb/>
kvnsulenten lediglich auf die damals allerdings zweifellos zu geringe Zahl von<lb/>
Rechtsanwälten zurück; er hegt nicht den geringsten Zweifel, daß sie wie Nebel<lb/>
vor der Sonne verschwinden würden, sobald man die freie Advokatur einführte.<lb/>
Sie würden verschwinden nicht allein für die Prozeßführnng. Daß sich das<lb/>
Publikum beim Abschluß vou Gescllschaftsverträgeu. &#x201E;Enterprisekontrakten," Voll-<lb/>
'nnchtsaufträgen, Testamentsentwttrfen nicht an den Rechtsanwalt wende, rühre<lb/>
ebenfalls nur von der zu geringen Zahl der Rechtsanwälte her; &#x201E;nach Ein¬<lb/>
führung der freien Advokatur werden allein diese Geschäfte wahrscheinlich hin¬<lb/>
reichen, der heutigen Zahl von Rechtsanwälten ein genügendes Auskommen zu<lb/>
gewähren." Auch die Vermittlung des Jmmvbiliarverkehrs und der großen<lb/>
Geschäfte des Real- und Personalkredits werde der freien Advokatur zufallen.<lb/>
Man werde künftig nicht mehr nötig haben, den Rechtsanwalt in seinen Sprech-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1890 l&gt;«</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0553] Die Kompetenzerweiternng der Amtsgerichte rücksichtslos zu vertreten, als eine solche, die der Staatsgewalt genehm ist. Im politischen Interesse ist selbstverständlich die Forderung der Unabhängigkeit des Richters viel dringlicher als die der freien Advokatur; denn einem wegen seiner politischen Abhängigkeit kleinmütigen Richter Ware die mißliebige Partei ohne durchgreifendes Ablehnungsrecht unterworfen, unter den politisch ab¬ hängigen Anwälten dagegen wäre sie nur in ihrer Wahl beschränkt, und es läge die Gefahr vor, daß sie keinen Anwalt funde, der mit Bloßstellung seiner eignen Interessen rücksichtslos sür sie in die Schranken träte. Nun haben sich aber beide Forderungen eine Beschränkung gefallen zu lassen, soweit sie mit andern nicht minder berechtigten Forderungen in Widerstreit geraten. Zur vollständige» Wahrung der Unabhängigkeit des Richters wäre eigentlich erforderlich, daß auch für seine Versetzung und Beförderung eine objektive Norm, z. B. das Dienstalter, gegeben wäre. Niemand denkt daran, folgerichtig, aber im Widerstreit mit naheliegenden andern Interessen, diese Forderung so weit zu treiben. Um so weniger kann es einem Bedenken unterliegen, die Forderung der freien Advokatur, die weit weniger für die freiheitliche Ge¬ staltung der Verhältnisse ins Gewicht fällt, einer Beschränkung zu unterwerfen, wenn es gleichberechtigte anderweite Interessen erfordern. Ein solcher Fall ist aber gegeben, soweit die Freiheit der Advokatur in Widerstreit gerät mit ihrer Integrität. Als man im Jahre 1876 die Einfüh¬ rung der freien Advokatur beschloß, hielt man die Gefahr, daß eine Überfüllung dieses Berufs eintreten könnte, fast für ausgeschlossen. Über den Umfang, in dem die freie Advokatur ihre Wirksamkeit entfalten würde, gab man sich den sonderbarsten Einbildungen hin. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die Schrift: „Die freie Advokatur in Preußen" von Professor Gneist, die damals sür die beschlossene Gestaltung der Dinge von maßgebender Bedeutung war. Was Gneist von der freien Advokatur erwartete, und was mit ihm Tausende von ihr erwartet habe», würde man heute nicht für möglich halten, wenn man es nicht gedruckt vor sich sähe. Zunächst führt er das Aufkommen der Winkel- kvnsulenten lediglich auf die damals allerdings zweifellos zu geringe Zahl von Rechtsanwälten zurück; er hegt nicht den geringsten Zweifel, daß sie wie Nebel vor der Sonne verschwinden würden, sobald man die freie Advokatur einführte. Sie würden verschwinden nicht allein für die Prozeßführnng. Daß sich das Publikum beim Abschluß vou Gescllschaftsverträgeu. „Enterprisekontrakten," Voll- 'nnchtsaufträgen, Testamentsentwttrfen nicht an den Rechtsanwalt wende, rühre ebenfalls nur von der zu geringen Zahl der Rechtsanwälte her; „nach Ein¬ führung der freien Advokatur werden allein diese Geschäfte wahrscheinlich hin¬ reichen, der heutigen Zahl von Rechtsanwälten ein genügendes Auskommen zu gewähren." Auch die Vermittlung des Jmmvbiliarverkehrs und der großen Geschäfte des Real- und Personalkredits werde der freien Advokatur zufallen. Man werde künftig nicht mehr nötig haben, den Rechtsanwalt in seinen Sprech- Grenzboten IV 1890 l>«

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/553
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/553>, abgerufen am 08.01.2025.