Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches schiedenheiten der natürlichen Organisation übersieht -- die Masse sei von Geburt Maßgebliches und Unmaßgebliches schiedenheiten der natürlichen Organisation übersieht — die Masse sei von Geburt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0539" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224123"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1627" prev="#ID_1626" next="#ID_1628"> schiedenheiten der natürlichen Organisation übersieht — die Masse sei von Geburt<lb/> in Erkenntnis, Moral und Geschmack immer nur Mittelgut —, und daß er<lb/> auch mit seiner Forderung, die Religion müßte ihren Trausceudenzanspruch fahren<lb/> lassen, die Wirklichkeit verkenne: das Unendliche sei eine Erfahrungsthatsache.<lb/> Mau liest die vier Aufsätze mit Vergnügen und mit Nutzen. Bei Eucken empfindet<lb/> man das Gegenteil von Vergnügen, und der Nutzen, den sein Buch gewährt,<lb/> ist sehr mäßig. Das „ungeheure" Problem, das er angreift, ist freilich das<lb/> eigentliche Problem der Philosophie auf ihrer heutigen Stufe: wie kann ein<lb/> vom Leibe unabhängiges geistiges Leben erreicht werden, da doch der ganze<lb/> Inhalt unsers gegenwärtigen geistigen Lebens aus der Leiblichkeit geschöpft oder<lb/> wenigstens durch leibliche Organe vermittelt wird, und wir bei jedem Versuch,<lb/> uns von der Leiblichkeit abzulösen, ins Leere fallen? Man muß es dem Verfasser<lb/> lassen, daß er das Problem mit einem großen Aufwand von Scharfsinn von allen<lb/> Seiten, in allen seinen Teilen betrachtet, die Lösnngsversuche der Philosophen,<lb/> der Religionen, der Kulturstufen muss geistreichste kritisirt; aber das alles ge¬<lb/> schieht in einer so abstrakten, künstlich gewundnen Sprache, die angebliche Lösung<lb/> erfolgt in so allgemeinen, schwer verständlichen Sätzen, und nach schon vvllzogner<lb/> „Rettung" werden wir aufs neue zwischen den beiden Gegensätzen: dem vergäng¬<lb/> lichen, nichtigen Sinnenleben und der öden, leeren Geistigkeit so unbarmherzig hin<lb/> und her gezerrt, daß wir am Schlüsse rufen: Gott sei Dank — nicht für die ge¬<lb/> wonnene Aufklärung, sondern daß die Qual ein Ende hat. Was ist mit Sätzen<lb/> wie dem folgenden gewonnen: „Sich über die Welt Hinaussehen und ihr gegen¬<lb/> über eine Unabhängigkeit behaupten, ohne damit ins Leere zu fallen, das kann das<lb/> Individuum mir als geistersüllte Persönlichkeit, nur in festem Zusammenhange mit<lb/> einer unsichtbaren Welt, nur in Teilnahme an den Kräften und Gütern einer solchen<lb/> Welt?" Indem Eucleu das wahre und echte geistige Leben als ein neues Leben<lb/> charakterisirt, das durch eine entscheidende freie That errungen werden müsse, als<lb/> etwas wunderbares, weder in Begriffe zu fassendes, noch mit Worten zu beschrei¬<lb/> bendes, den Übergang dazu aber als Seelenrettung, und indem er Unglück und<lb/> Tod als gute Genien preist, die zur Rettung behilflich seien, legt er die Vermutung<lb/> nahe, daß er ungefähr dasselbe meine, was die Kirche Wiedergeburt und Be¬<lb/> kehrung und der Methodist Erweckung nennt. Wir glauben um zwar selbst, daß<lb/> es etwas dergleichen giebt, verkenne» aber nicht, wie schwierig es sei, solche» ver¬<lb/> einzelten Vorgängen eine Bedeutung für die Menschheit im Ganzen abzugewinnen.<lb/> Denn sie bleiben persönliche Erfahrung dessen, der sie erlebt hat, und können nicht<lb/> einmal beschrieben, geschweige denn auf andre übertragen werden, man müßte denn<lb/> die Methode der Heilsarmee, die Geburtswehen durch Pauken- und Trompeteu-<lb/> sthnll herbeizuführen, ernsthaft nehmen. Aber das neue Leben soll nach Euckeu<lb/> nicht in mystischem Träumen und Weben der erlöste« Seele beschlossen bleiben,<lb/> ändern, wie es ein Erzeugnis freier That ist, so auch durch weitere Thaten in<lb/> der Welt wirksam werden, und da entsteht denn die weitere Schwierigkeit, die im<lb/> ^mise der Jahrhunderte immer wieder von neuem zur Weltflucht geführt hat, daß<lb/> außer der Krankenpflege kaum eine weltliche Thätigkeit giebt, die das neue<lb/> ^eben nicht täglich in Gefahr brächte oder geradezu verdürbe. Auch als „Weseus-<lb/> bildung" bezeichnet Euckeu das Aufsteigen zum neuen Leben, und ein Shstem der<lb/> Wesensbildung nennt er seine Weltansicht. Wenn dieses Wort einen Sinn haben<lb/> so kann damit mir dasselbe gemeint sein, was Steffeuseu meint <siehe die vor-<lb/> lährigen Grenzboten, zweites Vierteljahr, S. 199), wenn er lehrt, die Menschen-<lb/> seele sei nicht von Geburt aus etwas Wesenhaftes, sondern an sich nur Erscheinung;</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0539]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
schiedenheiten der natürlichen Organisation übersieht — die Masse sei von Geburt
in Erkenntnis, Moral und Geschmack immer nur Mittelgut —, und daß er
auch mit seiner Forderung, die Religion müßte ihren Trausceudenzanspruch fahren
lassen, die Wirklichkeit verkenne: das Unendliche sei eine Erfahrungsthatsache.
Mau liest die vier Aufsätze mit Vergnügen und mit Nutzen. Bei Eucken empfindet
man das Gegenteil von Vergnügen, und der Nutzen, den sein Buch gewährt,
ist sehr mäßig. Das „ungeheure" Problem, das er angreift, ist freilich das
eigentliche Problem der Philosophie auf ihrer heutigen Stufe: wie kann ein
vom Leibe unabhängiges geistiges Leben erreicht werden, da doch der ganze
Inhalt unsers gegenwärtigen geistigen Lebens aus der Leiblichkeit geschöpft oder
wenigstens durch leibliche Organe vermittelt wird, und wir bei jedem Versuch,
uns von der Leiblichkeit abzulösen, ins Leere fallen? Man muß es dem Verfasser
lassen, daß er das Problem mit einem großen Aufwand von Scharfsinn von allen
Seiten, in allen seinen Teilen betrachtet, die Lösnngsversuche der Philosophen,
der Religionen, der Kulturstufen muss geistreichste kritisirt; aber das alles ge¬
schieht in einer so abstrakten, künstlich gewundnen Sprache, die angebliche Lösung
erfolgt in so allgemeinen, schwer verständlichen Sätzen, und nach schon vvllzogner
„Rettung" werden wir aufs neue zwischen den beiden Gegensätzen: dem vergäng¬
lichen, nichtigen Sinnenleben und der öden, leeren Geistigkeit so unbarmherzig hin
und her gezerrt, daß wir am Schlüsse rufen: Gott sei Dank — nicht für die ge¬
wonnene Aufklärung, sondern daß die Qual ein Ende hat. Was ist mit Sätzen
wie dem folgenden gewonnen: „Sich über die Welt Hinaussehen und ihr gegen¬
über eine Unabhängigkeit behaupten, ohne damit ins Leere zu fallen, das kann das
Individuum mir als geistersüllte Persönlichkeit, nur in festem Zusammenhange mit
einer unsichtbaren Welt, nur in Teilnahme an den Kräften und Gütern einer solchen
Welt?" Indem Eucleu das wahre und echte geistige Leben als ein neues Leben
charakterisirt, das durch eine entscheidende freie That errungen werden müsse, als
etwas wunderbares, weder in Begriffe zu fassendes, noch mit Worten zu beschrei¬
bendes, den Übergang dazu aber als Seelenrettung, und indem er Unglück und
Tod als gute Genien preist, die zur Rettung behilflich seien, legt er die Vermutung
nahe, daß er ungefähr dasselbe meine, was die Kirche Wiedergeburt und Be¬
kehrung und der Methodist Erweckung nennt. Wir glauben um zwar selbst, daß
es etwas dergleichen giebt, verkenne» aber nicht, wie schwierig es sei, solche» ver¬
einzelten Vorgängen eine Bedeutung für die Menschheit im Ganzen abzugewinnen.
Denn sie bleiben persönliche Erfahrung dessen, der sie erlebt hat, und können nicht
einmal beschrieben, geschweige denn auf andre übertragen werden, man müßte denn
die Methode der Heilsarmee, die Geburtswehen durch Pauken- und Trompeteu-
sthnll herbeizuführen, ernsthaft nehmen. Aber das neue Leben soll nach Euckeu
nicht in mystischem Träumen und Weben der erlöste« Seele beschlossen bleiben,
ändern, wie es ein Erzeugnis freier That ist, so auch durch weitere Thaten in
der Welt wirksam werden, und da entsteht denn die weitere Schwierigkeit, die im
^mise der Jahrhunderte immer wieder von neuem zur Weltflucht geführt hat, daß
außer der Krankenpflege kaum eine weltliche Thätigkeit giebt, die das neue
^eben nicht täglich in Gefahr brächte oder geradezu verdürbe. Auch als „Weseus-
bildung" bezeichnet Euckeu das Aufsteigen zum neuen Leben, und ein Shstem der
Wesensbildung nennt er seine Weltansicht. Wenn dieses Wort einen Sinn haben
so kann damit mir dasselbe gemeint sein, was Steffeuseu meint <siehe die vor-
lährigen Grenzboten, zweites Vierteljahr, S. 199), wenn er lehrt, die Menschen-
seele sei nicht von Geburt aus etwas Wesenhaftes, sondern an sich nur Erscheinung;
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