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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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das 1200000000 Pfund Sterling beträgt, empfangen die Kapitalisten die
größere Hälfte in Gestalt von Renten und Zinsen. Giffen (auf dessen Angaben
sich Wolf vorzugsweise stützt) habe zwar berechnet, daß die Kapitalisten vom
Nationaleinkommen, das er auf 1270000000 schätzt, nur 400000000, die
arbeitenden obern und mittlern Klassen 320000000 und die Arbeiter 550000000
erhalten. Mann hält aber, auf andre Statistiker gestützt, diese Berechnung
für irrig, hat jedoch kein gedrucktes Material mitgebracht, womit er seine An¬
sicht beweisen könnte. Sidney Webb antwortet auf die Frage des Vorsitzenden,
ob er die Aussichten der Gesellschaft unter der Herrschaft des Individualismus
für hoffnungslos ansehe, daß das gegenwärtig in England herrschende System
nicht mehr rein individualistisch sei; "es wird täglich mehr kollektivistisch. Wenn
es das nicht würde, dann wäre allerdings die Lage eines großen Teiles der
Arbeiter so traurig, wie sie in Lancashire vor dem Fabrikgesetz war, oder wie
sie in den sveativA man8triff heute uoch ist. Die Besserung sowie die Zu¬
nahme der Produktivität der Arbeit ist großenteils dem Kollektivismus zu¬
zuschreiben: dem Druck, der auf die Industriekapitäne ausgeübt wird durch
die Fabrikgesetzgebung, durch die Stadtverwaltungen, durch die Gewerkvereine,
lauter Kontrollformen kollektiver Natur. Ich gebe Giffen zu, daß die reale
Kaufkraft der Arbeitslöhne in den letzten dreißig Jahren um fünfzig Prozent
gestiegen ist. Das gilt für die große Mehrzahl der Industrien; aber für eine
große Auzahl von Arbeitern hat gar keine Besserung stattgefunden. Ihr durch-
!chnittlicher Lohn beträgt nach Abzug der Miete nicht mehr, als er vor fünfzig
wahren ohne Miete betrug. Für die Arbeiter in London ist das Einkommen
nicht größer als vor fünfzig Jahren, mich nicht mit Rücksicht auf die Kauf¬
kraft der Geldlvhne; diese Arbeiter leben in chronischem Mangel heute so gut
wie vor fünzig Jahren." Der sozialistische Aovokat Hindman weist darauf
^u>, daß die Einwandrung der ländlichen Bevölkerung in die Städte und die
Kinderarbeit die Nasse verschlechterten, dazu wirkten die Handelskrisen ent¬
nervend, "sodaß das Normalmaß für die Armee herabgesetzt werden mußte,
und daß es schwer hält, kernige Kanalarbeiter zu bekommen." Allerdings sei
infolge der modernen Sanitätseinrichtungen auch beim niedern Volke das durch¬
schnittliche Lebensalter gestiegen, dafür seien aber die Leute schwächer. An¬
genommen, Giffen habe Recht, daß von dem übrigens auf 1400 bis 1500
Millionen zu schützenden Nationaleinkommen die Arbeiter 628 Millionen be-
amen, so waren doch, bemerkt Hiudmau, von diesen 628 Millionen noch sehr
deutende Abzüge zu machen. Es sei darin enthalten das Einkommen der
-^vel Millionen Dienstboten, die nicht produktiv arbeiten, ferner das Einkommen
^ Soldaten und der Polizeibeamten. Den produktiven Arbeitern verbleibe
^so noch nicht ein Drittel des Gesamteinkommens der Nation, und von diesem
Drittel wandre der fünfte Teil in Gestalt von Wohnuugsmiete in die Taschen
^ Kapitalisten. Zu den Individualisten, die vernommen wurden, gehörte


das 1200000000 Pfund Sterling beträgt, empfangen die Kapitalisten die
größere Hälfte in Gestalt von Renten und Zinsen. Giffen (auf dessen Angaben
sich Wolf vorzugsweise stützt) habe zwar berechnet, daß die Kapitalisten vom
Nationaleinkommen, das er auf 1270000000 schätzt, nur 400000000, die
arbeitenden obern und mittlern Klassen 320000000 und die Arbeiter 550000000
erhalten. Mann hält aber, auf andre Statistiker gestützt, diese Berechnung
für irrig, hat jedoch kein gedrucktes Material mitgebracht, womit er seine An¬
sicht beweisen könnte. Sidney Webb antwortet auf die Frage des Vorsitzenden,
ob er die Aussichten der Gesellschaft unter der Herrschaft des Individualismus
für hoffnungslos ansehe, daß das gegenwärtig in England herrschende System
nicht mehr rein individualistisch sei; „es wird täglich mehr kollektivistisch. Wenn
es das nicht würde, dann wäre allerdings die Lage eines großen Teiles der
Arbeiter so traurig, wie sie in Lancashire vor dem Fabrikgesetz war, oder wie
sie in den sveativA man8triff heute uoch ist. Die Besserung sowie die Zu¬
nahme der Produktivität der Arbeit ist großenteils dem Kollektivismus zu¬
zuschreiben: dem Druck, der auf die Industriekapitäne ausgeübt wird durch
die Fabrikgesetzgebung, durch die Stadtverwaltungen, durch die Gewerkvereine,
lauter Kontrollformen kollektiver Natur. Ich gebe Giffen zu, daß die reale
Kaufkraft der Arbeitslöhne in den letzten dreißig Jahren um fünfzig Prozent
gestiegen ist. Das gilt für die große Mehrzahl der Industrien; aber für eine
große Auzahl von Arbeitern hat gar keine Besserung stattgefunden. Ihr durch-
!chnittlicher Lohn beträgt nach Abzug der Miete nicht mehr, als er vor fünfzig
wahren ohne Miete betrug. Für die Arbeiter in London ist das Einkommen
nicht größer als vor fünfzig Jahren, mich nicht mit Rücksicht auf die Kauf¬
kraft der Geldlvhne; diese Arbeiter leben in chronischem Mangel heute so gut
wie vor fünzig Jahren." Der sozialistische Aovokat Hindman weist darauf
^u>, daß die Einwandrung der ländlichen Bevölkerung in die Städte und die
Kinderarbeit die Nasse verschlechterten, dazu wirkten die Handelskrisen ent¬
nervend, „sodaß das Normalmaß für die Armee herabgesetzt werden mußte,
und daß es schwer hält, kernige Kanalarbeiter zu bekommen." Allerdings sei
infolge der modernen Sanitätseinrichtungen auch beim niedern Volke das durch¬
schnittliche Lebensalter gestiegen, dafür seien aber die Leute schwächer. An¬
genommen, Giffen habe Recht, daß von dem übrigens auf 1400 bis 1500
Millionen zu schützenden Nationaleinkommen die Arbeiter 628 Millionen be-
amen, so waren doch, bemerkt Hiudmau, von diesen 628 Millionen noch sehr
deutende Abzüge zu machen. Es sei darin enthalten das Einkommen der
-^vel Millionen Dienstboten, die nicht produktiv arbeiten, ferner das Einkommen
^ Soldaten und der Polizeibeamten. Den produktiven Arbeitern verbleibe
^so noch nicht ein Drittel des Gesamteinkommens der Nation, und von diesem
Drittel wandre der fünfte Teil in Gestalt von Wohnuugsmiete in die Taschen
^ Kapitalisten. Zu den Individualisten, die vernommen wurden, gehörte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/511>, abgerufen am 08.01.2025.