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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie

neben der Zahl der Arbeiterinnen vielfach die zufällige persönliche Auffassung
der Beamten entscheidend zu sein scheint, auch wohl die Geneigtheit des In¬
habers, sich die betreffende Anordnung gefallen zu lassen.

Die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten wird bisweilen nach der
Zeit bezahlt (Tagelohn, Wochenlohn, vereinzelt Monats- und Jahresgehalt),
die Regel aber ist Stücklohn. Ausschließlich Stücklohn wird bezahlt für alle
Arbeit außerhalb des Betriebes des Arbeitgebers; es wird also sowohl der
Meister vom Konfektionär, wie der Heimarbeiter von seinem Arbeitgeber (dem
Konfektionär oder dem Zwischenmeister) immer nach dem Stück bezahlt. In der
Werkstatt und in der Fabrik stellt der Arbeitgeber die Nähmaschinen, außer¬
halb, in der Heimarbeit, hat sie die Arbeiterin auf ihre Kosten zu beschaffen
und zu unterhalten. Die Lieferung der Zuthaten, d. h. Zwirn, Maschinengarn,
Nähseide u. tgi., liegt in den Fabriken und Werkstätten den Arbeitern nur zum
kleinen Teil, im Heimbetrieb fast ausnahmslos ob. Die Höhe des Arbeits¬
verdienstes ist, soweit man erkennen kann, bei Stücklöhnen nicht höher als bei
Zeitlöhnen. Die Stücklohnsätze sind im Heimbetrieb in der Regel nicht höher
als in der Fabrik und Werkstatt, mithin ist der Nettoverdienst am Stück für die
Heimarbeiter, da ihre Unkosten größer sind, in der Regel geringer als für die
Fabrik- und Werkstattarbeiter. Dazu kommt als erschwerender Umstand, daß
die Heimarbeiterinnen bei dem Eintritt flauem Geschäftsgangs gewöhnlich
zuerst keine Arbeit mehr erhalten, erst nach ihnen die Fabrik- und Werkstatt¬
arbeiter, sodaß sie also unter dem Wechsel der sogenannten Saisons am schwersten
zu leiden haben.

Was den Arbeiterschutz anlangt, so kommen die Bestimmungen über den
Erlaß von Arbeitsordnungen (s 134 und folgende) und über die Beschäftigung
von Kindern, sowie die Arbeitszeit und Arbeitspausen "für weibliche und jugend¬
liche Arbeiter" 135 bis 139s.) nur den Arbeitern in den Fabriken zu gute, auf
die Werkstattarbeiter und die Heimarbeiter finden sie keine Anwendung. Die
Bestimmungen über die Sonn- und Festtagsarbeit (§ 105 s und folgende), über
die Arbeitsbücher für minderjährige Arbeiter (s 107 und folgende), über den
Fortbildungsschulbesuch (§ 120) und über den Schutz der Gesundheit und der
Sittlichkeit in den Betrieben (Z 120a bis 120s) gelten nur für Fabriken und
Werkstätten, nicht aber für Heimbetriebe. Nur die Bestimmungen über das
sogenannte Truckverbot (Z 115 bis 119") gelten auch für die Heimarbeiter.
Die besondre Gewerbeaufsicht im Sinne des § 139b der Gewerbeordnung kommt
thatsächlich den Werkstattarbeitern wenig, den Heimarbeitern gar nicht zu statten,
überhaupt behandelt die Reichsgewerbeordnung im allgemeinen die hausindu¬
striellen Arbeiter, also auch die Heimarbeiter in unserm Sinne, nicht als gewerb¬
liche Arbeiter, sondern als selbständige Gewerbtreibende und gerät damit an
allen Ecken und Enden mit den thatsächlichen Verhältnissen in Widerspruch.
Titel VI müßte ein besondrer Abschnitt den Heimarbeitern gewidmet


Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie

neben der Zahl der Arbeiterinnen vielfach die zufällige persönliche Auffassung
der Beamten entscheidend zu sein scheint, auch wohl die Geneigtheit des In¬
habers, sich die betreffende Anordnung gefallen zu lassen.

Die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten wird bisweilen nach der
Zeit bezahlt (Tagelohn, Wochenlohn, vereinzelt Monats- und Jahresgehalt),
die Regel aber ist Stücklohn. Ausschließlich Stücklohn wird bezahlt für alle
Arbeit außerhalb des Betriebes des Arbeitgebers; es wird also sowohl der
Meister vom Konfektionär, wie der Heimarbeiter von seinem Arbeitgeber (dem
Konfektionär oder dem Zwischenmeister) immer nach dem Stück bezahlt. In der
Werkstatt und in der Fabrik stellt der Arbeitgeber die Nähmaschinen, außer¬
halb, in der Heimarbeit, hat sie die Arbeiterin auf ihre Kosten zu beschaffen
und zu unterhalten. Die Lieferung der Zuthaten, d. h. Zwirn, Maschinengarn,
Nähseide u. tgi., liegt in den Fabriken und Werkstätten den Arbeitern nur zum
kleinen Teil, im Heimbetrieb fast ausnahmslos ob. Die Höhe des Arbeits¬
verdienstes ist, soweit man erkennen kann, bei Stücklöhnen nicht höher als bei
Zeitlöhnen. Die Stücklohnsätze sind im Heimbetrieb in der Regel nicht höher
als in der Fabrik und Werkstatt, mithin ist der Nettoverdienst am Stück für die
Heimarbeiter, da ihre Unkosten größer sind, in der Regel geringer als für die
Fabrik- und Werkstattarbeiter. Dazu kommt als erschwerender Umstand, daß
die Heimarbeiterinnen bei dem Eintritt flauem Geschäftsgangs gewöhnlich
zuerst keine Arbeit mehr erhalten, erst nach ihnen die Fabrik- und Werkstatt¬
arbeiter, sodaß sie also unter dem Wechsel der sogenannten Saisons am schwersten
zu leiden haben.

Was den Arbeiterschutz anlangt, so kommen die Bestimmungen über den
Erlaß von Arbeitsordnungen (s 134 und folgende) und über die Beschäftigung
von Kindern, sowie die Arbeitszeit und Arbeitspausen „für weibliche und jugend¬
liche Arbeiter" 135 bis 139s.) nur den Arbeitern in den Fabriken zu gute, auf
die Werkstattarbeiter und die Heimarbeiter finden sie keine Anwendung. Die
Bestimmungen über die Sonn- und Festtagsarbeit (§ 105 s und folgende), über
die Arbeitsbücher für minderjährige Arbeiter (s 107 und folgende), über den
Fortbildungsschulbesuch (§ 120) und über den Schutz der Gesundheit und der
Sittlichkeit in den Betrieben (Z 120a bis 120s) gelten nur für Fabriken und
Werkstätten, nicht aber für Heimbetriebe. Nur die Bestimmungen über das
sogenannte Truckverbot (Z 115 bis 119») gelten auch für die Heimarbeiter.
Die besondre Gewerbeaufsicht im Sinne des § 139b der Gewerbeordnung kommt
thatsächlich den Werkstattarbeitern wenig, den Heimarbeitern gar nicht zu statten,
überhaupt behandelt die Reichsgewerbeordnung im allgemeinen die hausindu¬
striellen Arbeiter, also auch die Heimarbeiter in unserm Sinne, nicht als gewerb¬
liche Arbeiter, sondern als selbständige Gewerbtreibende und gerät damit an
allen Ecken und Enden mit den thatsächlichen Verhältnissen in Widerspruch.
Titel VI müßte ein besondrer Abschnitt den Heimarbeitern gewidmet


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[0405] Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie neben der Zahl der Arbeiterinnen vielfach die zufällige persönliche Auffassung der Beamten entscheidend zu sein scheint, auch wohl die Geneigtheit des In¬ habers, sich die betreffende Anordnung gefallen zu lassen. Die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten wird bisweilen nach der Zeit bezahlt (Tagelohn, Wochenlohn, vereinzelt Monats- und Jahresgehalt), die Regel aber ist Stücklohn. Ausschließlich Stücklohn wird bezahlt für alle Arbeit außerhalb des Betriebes des Arbeitgebers; es wird also sowohl der Meister vom Konfektionär, wie der Heimarbeiter von seinem Arbeitgeber (dem Konfektionär oder dem Zwischenmeister) immer nach dem Stück bezahlt. In der Werkstatt und in der Fabrik stellt der Arbeitgeber die Nähmaschinen, außer¬ halb, in der Heimarbeit, hat sie die Arbeiterin auf ihre Kosten zu beschaffen und zu unterhalten. Die Lieferung der Zuthaten, d. h. Zwirn, Maschinengarn, Nähseide u. tgi., liegt in den Fabriken und Werkstätten den Arbeitern nur zum kleinen Teil, im Heimbetrieb fast ausnahmslos ob. Die Höhe des Arbeits¬ verdienstes ist, soweit man erkennen kann, bei Stücklöhnen nicht höher als bei Zeitlöhnen. Die Stücklohnsätze sind im Heimbetrieb in der Regel nicht höher als in der Fabrik und Werkstatt, mithin ist der Nettoverdienst am Stück für die Heimarbeiter, da ihre Unkosten größer sind, in der Regel geringer als für die Fabrik- und Werkstattarbeiter. Dazu kommt als erschwerender Umstand, daß die Heimarbeiterinnen bei dem Eintritt flauem Geschäftsgangs gewöhnlich zuerst keine Arbeit mehr erhalten, erst nach ihnen die Fabrik- und Werkstatt¬ arbeiter, sodaß sie also unter dem Wechsel der sogenannten Saisons am schwersten zu leiden haben. Was den Arbeiterschutz anlangt, so kommen die Bestimmungen über den Erlaß von Arbeitsordnungen (s 134 und folgende) und über die Beschäftigung von Kindern, sowie die Arbeitszeit und Arbeitspausen „für weibliche und jugend¬ liche Arbeiter" 135 bis 139s.) nur den Arbeitern in den Fabriken zu gute, auf die Werkstattarbeiter und die Heimarbeiter finden sie keine Anwendung. Die Bestimmungen über die Sonn- und Festtagsarbeit (§ 105 s und folgende), über die Arbeitsbücher für minderjährige Arbeiter (s 107 und folgende), über den Fortbildungsschulbesuch (§ 120) und über den Schutz der Gesundheit und der Sittlichkeit in den Betrieben (Z 120a bis 120s) gelten nur für Fabriken und Werkstätten, nicht aber für Heimbetriebe. Nur die Bestimmungen über das sogenannte Truckverbot (Z 115 bis 119») gelten auch für die Heimarbeiter. Die besondre Gewerbeaufsicht im Sinne des § 139b der Gewerbeordnung kommt thatsächlich den Werkstattarbeitern wenig, den Heimarbeitern gar nicht zu statten, überhaupt behandelt die Reichsgewerbeordnung im allgemeinen die hausindu¬ striellen Arbeiter, also auch die Heimarbeiter in unserm Sinne, nicht als gewerb¬ liche Arbeiter, sondern als selbständige Gewerbtreibende und gerät damit an allen Ecken und Enden mit den thatsächlichen Verhältnissen in Widerspruch. Titel VI müßte ein besondrer Abschnitt den Heimarbeitern gewidmet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/405>, abgerufen am 08.01.2025.