Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Mßstände in der Aleider- und Wäscheindustrie

Orten, ja teilweise auch in den verschiednen Betrieben derselben Branche an
demselben Orte verschieden. Unsre Quellen geben darüber mancherlei Auf¬
schlüsse, aber es ist hier schon mit Rücksicht auf den Raum unmöglich, auf diese
Verschiedenheiten näher einzugehen. Im allgemeinen wird man annehmen dürfen,
daß für die Arbeiterschaft in der Herrenkleiderkonfektion drei Monate im Jahr
wenig, manchmal auch nichts zu thun ist, in der Damenkonfektion vier bis
fünf Monate. In der Wäscheindnstrie liegen in dieser Beziehung die Ver¬
hältnisse besser, namentlich in der sogenannten Wäschefabrikation (gestärkte
Wäsche). Was will nun in der guten Zeit von sieben bis neun Monaten
ein Verdienst von acht bis zehn Mark wöchentlich für eine Berliner Arbeiterin,
die davon leben soll, bedeuten? Und dieser Durchschnitt ist, wenn wir die
Masse der Heimarbeiterinnen mit in Betracht ziehen, zu hoch. Da sind Wochen¬
verdienste von vier bis sechs Mark sehr häufig, solche von zwölf bis fünf¬
zehn Mark recht selten, von den wenigen Wochen der gesundheitswidrigen
"Hochsaison" abgesehen. Eine Statistik giebt es nicht, die etwas wert wäre,
aber das können wir wohl sagen, daß die Vernehmungen vor der Kommission
für Arbeiterstatistik in Bezug auf die Gesamtlage des Arbeitsverdienstes das
trübe Bild, wie es in mehreren Privatarbeiten neuerer Zeit, unter andern
von Oda Ölberg, gezeichnet war, nicht wesentlich freundlicher zu gestalten
Vermocht haben.

Aber wie leben dann diese Leute? Sie verdienen nicht genug mit ihrer
Arbeit, um sich das ganze Jahr hindurch satt zu essen, und doch essen und
trinken sie, doch haben sie ihre Wohnungen, doch verthun sie vielfach unnötig
viel für Putz und Tand, doch unterstützen sie oft genug noch alte, kranke An¬
gehörige, ernähren kleine Kinder. Woher in aller Welt nehmen sie dazu die
Mittel? Es ist die einfältigste und sündhafteste Antwort, die es geben kann,
zu sagen: sie leben von der Schande! Sie betteln auch nicht, und sie stehlen
auch noch lange nicht, und sie leben doch! Zunächst ist es eben eine charak¬
teristische Eigentümlichkeit dieser Arbeiterschaft, daß sie bei uns jetzt noch in
sehr weitem Umfange, wenn auch in sehr verschiednen Grade, den Arbeitslohn
als einen Zubußeverdienst ansieht und ansehen kau". Das findet in viel, viel
mehr Fällen statt, als man meistens annimmt. Glücklicherweise und auch leider,
wie wir sehen werden. Den Charakter als Zubußeverdienst hat der Arbeits¬
lohn in der Konfektion ersichtlich so gut wie gar nicht bei den männlichen
Arbeitern, ausgenommen in den Bezirken der ländlichen Konfektionsarbeit, das
ist nach den Vernehmungen vor der Kommission namentlich in Unterfranken,
wo kleine Landwirte und deren Familien von Aschaffenburg und Frankfurt
um Main aus, in Württemberg, wo sie bis Ludwigsburg und Gövvingen hin
von Stuttgart aus. und in Westfalen, wo sie, soweit ersichtlich ist. namentlich
von Bielefeld, Lübbecke und Herford aus mit Näharbeit im Nebenerwerb be¬
schäftigt werden. Wieviel dabei auf die wirklich in der Landwirtschaft thätigen


Grenzboten IV Iggg 45,
Die Mßstände in der Aleider- und Wäscheindustrie

Orten, ja teilweise auch in den verschiednen Betrieben derselben Branche an
demselben Orte verschieden. Unsre Quellen geben darüber mancherlei Auf¬
schlüsse, aber es ist hier schon mit Rücksicht auf den Raum unmöglich, auf diese
Verschiedenheiten näher einzugehen. Im allgemeinen wird man annehmen dürfen,
daß für die Arbeiterschaft in der Herrenkleiderkonfektion drei Monate im Jahr
wenig, manchmal auch nichts zu thun ist, in der Damenkonfektion vier bis
fünf Monate. In der Wäscheindnstrie liegen in dieser Beziehung die Ver¬
hältnisse besser, namentlich in der sogenannten Wäschefabrikation (gestärkte
Wäsche). Was will nun in der guten Zeit von sieben bis neun Monaten
ein Verdienst von acht bis zehn Mark wöchentlich für eine Berliner Arbeiterin,
die davon leben soll, bedeuten? Und dieser Durchschnitt ist, wenn wir die
Masse der Heimarbeiterinnen mit in Betracht ziehen, zu hoch. Da sind Wochen¬
verdienste von vier bis sechs Mark sehr häufig, solche von zwölf bis fünf¬
zehn Mark recht selten, von den wenigen Wochen der gesundheitswidrigen
„Hochsaison" abgesehen. Eine Statistik giebt es nicht, die etwas wert wäre,
aber das können wir wohl sagen, daß die Vernehmungen vor der Kommission
für Arbeiterstatistik in Bezug auf die Gesamtlage des Arbeitsverdienstes das
trübe Bild, wie es in mehreren Privatarbeiten neuerer Zeit, unter andern
von Oda Ölberg, gezeichnet war, nicht wesentlich freundlicher zu gestalten
Vermocht haben.

Aber wie leben dann diese Leute? Sie verdienen nicht genug mit ihrer
Arbeit, um sich das ganze Jahr hindurch satt zu essen, und doch essen und
trinken sie, doch haben sie ihre Wohnungen, doch verthun sie vielfach unnötig
viel für Putz und Tand, doch unterstützen sie oft genug noch alte, kranke An¬
gehörige, ernähren kleine Kinder. Woher in aller Welt nehmen sie dazu die
Mittel? Es ist die einfältigste und sündhafteste Antwort, die es geben kann,
zu sagen: sie leben von der Schande! Sie betteln auch nicht, und sie stehlen
auch noch lange nicht, und sie leben doch! Zunächst ist es eben eine charak¬
teristische Eigentümlichkeit dieser Arbeiterschaft, daß sie bei uns jetzt noch in
sehr weitem Umfange, wenn auch in sehr verschiednen Grade, den Arbeitslohn
als einen Zubußeverdienst ansieht und ansehen kau». Das findet in viel, viel
mehr Fällen statt, als man meistens annimmt. Glücklicherweise und auch leider,
wie wir sehen werden. Den Charakter als Zubußeverdienst hat der Arbeits¬
lohn in der Konfektion ersichtlich so gut wie gar nicht bei den männlichen
Arbeitern, ausgenommen in den Bezirken der ländlichen Konfektionsarbeit, das
ist nach den Vernehmungen vor der Kommission namentlich in Unterfranken,
wo kleine Landwirte und deren Familien von Aschaffenburg und Frankfurt
um Main aus, in Württemberg, wo sie bis Ludwigsburg und Gövvingen hin
von Stuttgart aus. und in Westfalen, wo sie, soweit ersichtlich ist. namentlich
von Bielefeld, Lübbecke und Herford aus mit Näharbeit im Nebenerwerb be¬
schäftigt werden. Wieviel dabei auf die wirklich in der Landwirtschaft thätigen


Grenzboten IV Iggg 45,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0361" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223945"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Mßstände in der Aleider- und Wäscheindustrie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1101" prev="#ID_1100"> Orten, ja teilweise auch in den verschiednen Betrieben derselben Branche an<lb/>
demselben Orte verschieden. Unsre Quellen geben darüber mancherlei Auf¬<lb/>
schlüsse, aber es ist hier schon mit Rücksicht auf den Raum unmöglich, auf diese<lb/>
Verschiedenheiten näher einzugehen. Im allgemeinen wird man annehmen dürfen,<lb/>
daß für die Arbeiterschaft in der Herrenkleiderkonfektion drei Monate im Jahr<lb/>
wenig, manchmal auch nichts zu thun ist, in der Damenkonfektion vier bis<lb/>
fünf Monate. In der Wäscheindnstrie liegen in dieser Beziehung die Ver¬<lb/>
hältnisse besser, namentlich in der sogenannten Wäschefabrikation (gestärkte<lb/>
Wäsche). Was will nun in der guten Zeit von sieben bis neun Monaten<lb/>
ein Verdienst von acht bis zehn Mark wöchentlich für eine Berliner Arbeiterin,<lb/>
die davon leben soll, bedeuten? Und dieser Durchschnitt ist, wenn wir die<lb/>
Masse der Heimarbeiterinnen mit in Betracht ziehen, zu hoch. Da sind Wochen¬<lb/>
verdienste von vier bis sechs Mark sehr häufig, solche von zwölf bis fünf¬<lb/>
zehn Mark recht selten, von den wenigen Wochen der gesundheitswidrigen<lb/>
&#x201E;Hochsaison" abgesehen. Eine Statistik giebt es nicht, die etwas wert wäre,<lb/>
aber das können wir wohl sagen, daß die Vernehmungen vor der Kommission<lb/>
für Arbeiterstatistik in Bezug auf die Gesamtlage des Arbeitsverdienstes das<lb/>
trübe Bild, wie es in mehreren Privatarbeiten neuerer Zeit, unter andern<lb/>
von Oda Ölberg, gezeichnet war, nicht wesentlich freundlicher zu gestalten<lb/>
Vermocht haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1102" next="#ID_1103"> Aber wie leben dann diese Leute? Sie verdienen nicht genug mit ihrer<lb/>
Arbeit, um sich das ganze Jahr hindurch satt zu essen, und doch essen und<lb/>
trinken sie, doch haben sie ihre Wohnungen, doch verthun sie vielfach unnötig<lb/>
viel für Putz und Tand, doch unterstützen sie oft genug noch alte, kranke An¬<lb/>
gehörige, ernähren kleine Kinder. Woher in aller Welt nehmen sie dazu die<lb/>
Mittel? Es ist die einfältigste und sündhafteste Antwort, die es geben kann,<lb/>
zu sagen: sie leben von der Schande! Sie betteln auch nicht, und sie stehlen<lb/>
auch noch lange nicht, und sie leben doch! Zunächst ist es eben eine charak¬<lb/>
teristische Eigentümlichkeit dieser Arbeiterschaft, daß sie bei uns jetzt noch in<lb/>
sehr weitem Umfange, wenn auch in sehr verschiednen Grade, den Arbeitslohn<lb/>
als einen Zubußeverdienst ansieht und ansehen kau». Das findet in viel, viel<lb/>
mehr Fällen statt, als man meistens annimmt. Glücklicherweise und auch leider,<lb/>
wie wir sehen werden. Den Charakter als Zubußeverdienst hat der Arbeits¬<lb/>
lohn in der Konfektion ersichtlich so gut wie gar nicht bei den männlichen<lb/>
Arbeitern, ausgenommen in den Bezirken der ländlichen Konfektionsarbeit, das<lb/>
ist nach den Vernehmungen vor der Kommission namentlich in Unterfranken,<lb/>
wo kleine Landwirte und deren Familien von Aschaffenburg und Frankfurt<lb/>
um Main aus, in Württemberg, wo sie bis Ludwigsburg und Gövvingen hin<lb/>
von Stuttgart aus. und in Westfalen, wo sie, soweit ersichtlich ist. namentlich<lb/>
von Bielefeld, Lübbecke und Herford aus mit Näharbeit im Nebenerwerb be¬<lb/>
schäftigt werden. Wieviel dabei auf die wirklich in der Landwirtschaft thätigen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV Iggg 45,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0361] Die Mßstände in der Aleider- und Wäscheindustrie Orten, ja teilweise auch in den verschiednen Betrieben derselben Branche an demselben Orte verschieden. Unsre Quellen geben darüber mancherlei Auf¬ schlüsse, aber es ist hier schon mit Rücksicht auf den Raum unmöglich, auf diese Verschiedenheiten näher einzugehen. Im allgemeinen wird man annehmen dürfen, daß für die Arbeiterschaft in der Herrenkleiderkonfektion drei Monate im Jahr wenig, manchmal auch nichts zu thun ist, in der Damenkonfektion vier bis fünf Monate. In der Wäscheindnstrie liegen in dieser Beziehung die Ver¬ hältnisse besser, namentlich in der sogenannten Wäschefabrikation (gestärkte Wäsche). Was will nun in der guten Zeit von sieben bis neun Monaten ein Verdienst von acht bis zehn Mark wöchentlich für eine Berliner Arbeiterin, die davon leben soll, bedeuten? Und dieser Durchschnitt ist, wenn wir die Masse der Heimarbeiterinnen mit in Betracht ziehen, zu hoch. Da sind Wochen¬ verdienste von vier bis sechs Mark sehr häufig, solche von zwölf bis fünf¬ zehn Mark recht selten, von den wenigen Wochen der gesundheitswidrigen „Hochsaison" abgesehen. Eine Statistik giebt es nicht, die etwas wert wäre, aber das können wir wohl sagen, daß die Vernehmungen vor der Kommission für Arbeiterstatistik in Bezug auf die Gesamtlage des Arbeitsverdienstes das trübe Bild, wie es in mehreren Privatarbeiten neuerer Zeit, unter andern von Oda Ölberg, gezeichnet war, nicht wesentlich freundlicher zu gestalten Vermocht haben. Aber wie leben dann diese Leute? Sie verdienen nicht genug mit ihrer Arbeit, um sich das ganze Jahr hindurch satt zu essen, und doch essen und trinken sie, doch haben sie ihre Wohnungen, doch verthun sie vielfach unnötig viel für Putz und Tand, doch unterstützen sie oft genug noch alte, kranke An¬ gehörige, ernähren kleine Kinder. Woher in aller Welt nehmen sie dazu die Mittel? Es ist die einfältigste und sündhafteste Antwort, die es geben kann, zu sagen: sie leben von der Schande! Sie betteln auch nicht, und sie stehlen auch noch lange nicht, und sie leben doch! Zunächst ist es eben eine charak¬ teristische Eigentümlichkeit dieser Arbeiterschaft, daß sie bei uns jetzt noch in sehr weitem Umfange, wenn auch in sehr verschiednen Grade, den Arbeitslohn als einen Zubußeverdienst ansieht und ansehen kau». Das findet in viel, viel mehr Fällen statt, als man meistens annimmt. Glücklicherweise und auch leider, wie wir sehen werden. Den Charakter als Zubußeverdienst hat der Arbeits¬ lohn in der Konfektion ersichtlich so gut wie gar nicht bei den männlichen Arbeitern, ausgenommen in den Bezirken der ländlichen Konfektionsarbeit, das ist nach den Vernehmungen vor der Kommission namentlich in Unterfranken, wo kleine Landwirte und deren Familien von Aschaffenburg und Frankfurt um Main aus, in Württemberg, wo sie bis Ludwigsburg und Gövvingen hin von Stuttgart aus. und in Westfalen, wo sie, soweit ersichtlich ist. namentlich von Bielefeld, Lübbecke und Herford aus mit Näharbeit im Nebenerwerb be¬ schäftigt werden. Wieviel dabei auf die wirklich in der Landwirtschaft thätigen Grenzboten IV Iggg 45,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/361
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/361>, abgerufen am 08.01.2025.