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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand

der ostelbischen Gutsbesitzer, trotz der von ihnen begangnen Fehler, aus der
Krisis gerettet hervorgehen wird, wenn sich die einzelnen nur von den schweren
wirtschaftlichen Verirrungen, durch die sie selbst den Notstand hauptsächlich
heraufbeschworen haben, endlich frei machen wollten, namentlich von der noch
immer alle Anschauungen beherrschenden Spekulation auf Kapitalgewiuu an
Grund und Boden. Aber gerade in diesem Grundfehler werden die ostdeutschen
Gutsbesitzer durch die agrarischen Agitationen erhalten und bestärkt, ja in ihm
besteht, so kann man wohl sagen, das eigentliche Wesen des ostelbischen
Agrariertums. Durch unvernünftige Spekulatioustaufe herbeigeführte Kapital¬
verluste sollen wieder eingebracht, eingebildete Kapitalwerte sollen verwirklicht,
neue Kapitalgewinne sollen ermöglicht werden durch staatliche und gesetzliche
Manöver. Ob dadurch die Zukunft der Landwirtschaft gefährdet, der Not¬
stand in den folgenden Geschlechtern erhöht wird, darum bekümmert man sich
nicht, wenn nur für heute die Spekulation durch steigende Güterpreise wieder
flott gemacht wird.

Unter diesen Umständen ist es sehr erfreulich, daß gerade jetzt zwei hervor¬
ragende Kenner der Verhältnisse, treue Freunde der Landwirtschaft und der
Landwirte und anerkannt von Parteiinteressen unabhängige Männer, der be¬
deutendste Lehrer der Landwirtschaft in Preußen, Professor Freiherr von der
Goltz in Bonn-Poppelsdorf, und der landwirtschaftskundigste preußische National
ökonom, Professor I. Conrad in Halle, die Gelegenheit ergriffen haben, in
schlicht wissenschaftlicher, aber doch nachdrücklichster Weise sich über die Frage
des landwirtschaftlichen Notstands auszusprechen, indem sie ihre schon früher
in Schönbergs "Handbuch der politischen Ökonomie"") veröffentlichten Arbeiten
in der kürzlich erschienenen vierten Auflage dieses verdienstvollen Sammelwerks
in zeitgemäßer Weise ergänzten.

Professor von der Goltz hat sein Urteil in einem besondern Abschnitt:
"Die Ursachen und der Charakter der heutigen landwirtschaftlichen Krisis sowie
die Mittel zu ihrer Überwindung" abgegeben. Er weist da zunächst auf die That¬
sache hiu, daß "die Landwirtschaft aller Kulturländer, besonders der europäischen
seit zehn bis fünfzehn Jahren unter einem größern und geringern Notstände
leidet," der um so drückender empfunden werde, als in der vorausgegangnen
Periode, etwa von 1850 bis 1875, die Lage der Landwirtschaft und der
Mehrzahl der einzelnen Landwirte eine ganz besonders günstige gewesen sei.
Als "wichtigste allgemeine Ursache" dieses Notstandes bezeichnet er "die durch
die Vervollkommnung der Verkehrsmittel möglich gewordne Erschließung un¬
geheurer Gebiete für deu Welthandel." In Ländern, die weit ausgedehnter
als alle europäischen Knltnrstciaten zusammengenommen seien, würden jetzt



') Handbuch der politischen Ökonomie, herausgegeben von or. G. von Schönver
Vierte Auslage. Zweiter Band, erster Halbhart. Tübingen, H. Lnuvpsche Buchhandlung, 18!)<i-
Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand

der ostelbischen Gutsbesitzer, trotz der von ihnen begangnen Fehler, aus der
Krisis gerettet hervorgehen wird, wenn sich die einzelnen nur von den schweren
wirtschaftlichen Verirrungen, durch die sie selbst den Notstand hauptsächlich
heraufbeschworen haben, endlich frei machen wollten, namentlich von der noch
immer alle Anschauungen beherrschenden Spekulation auf Kapitalgewiuu an
Grund und Boden. Aber gerade in diesem Grundfehler werden die ostdeutschen
Gutsbesitzer durch die agrarischen Agitationen erhalten und bestärkt, ja in ihm
besteht, so kann man wohl sagen, das eigentliche Wesen des ostelbischen
Agrariertums. Durch unvernünftige Spekulatioustaufe herbeigeführte Kapital¬
verluste sollen wieder eingebracht, eingebildete Kapitalwerte sollen verwirklicht,
neue Kapitalgewinne sollen ermöglicht werden durch staatliche und gesetzliche
Manöver. Ob dadurch die Zukunft der Landwirtschaft gefährdet, der Not¬
stand in den folgenden Geschlechtern erhöht wird, darum bekümmert man sich
nicht, wenn nur für heute die Spekulation durch steigende Güterpreise wieder
flott gemacht wird.

Unter diesen Umständen ist es sehr erfreulich, daß gerade jetzt zwei hervor¬
ragende Kenner der Verhältnisse, treue Freunde der Landwirtschaft und der
Landwirte und anerkannt von Parteiinteressen unabhängige Männer, der be¬
deutendste Lehrer der Landwirtschaft in Preußen, Professor Freiherr von der
Goltz in Bonn-Poppelsdorf, und der landwirtschaftskundigste preußische National
ökonom, Professor I. Conrad in Halle, die Gelegenheit ergriffen haben, in
schlicht wissenschaftlicher, aber doch nachdrücklichster Weise sich über die Frage
des landwirtschaftlichen Notstands auszusprechen, indem sie ihre schon früher
in Schönbergs „Handbuch der politischen Ökonomie"") veröffentlichten Arbeiten
in der kürzlich erschienenen vierten Auflage dieses verdienstvollen Sammelwerks
in zeitgemäßer Weise ergänzten.

Professor von der Goltz hat sein Urteil in einem besondern Abschnitt:
„Die Ursachen und der Charakter der heutigen landwirtschaftlichen Krisis sowie
die Mittel zu ihrer Überwindung" abgegeben. Er weist da zunächst auf die That¬
sache hiu, daß „die Landwirtschaft aller Kulturländer, besonders der europäischen
seit zehn bis fünfzehn Jahren unter einem größern und geringern Notstände
leidet," der um so drückender empfunden werde, als in der vorausgegangnen
Periode, etwa von 1850 bis 1875, die Lage der Landwirtschaft und der
Mehrzahl der einzelnen Landwirte eine ganz besonders günstige gewesen sei.
Als „wichtigste allgemeine Ursache" dieses Notstandes bezeichnet er „die durch
die Vervollkommnung der Verkehrsmittel möglich gewordne Erschließung un¬
geheurer Gebiete für deu Welthandel." In Ländern, die weit ausgedehnter
als alle europäischen Knltnrstciaten zusammengenommen seien, würden jetzt



') Handbuch der politischen Ökonomie, herausgegeben von or. G. von Schönver
Vierte Auslage. Zweiter Band, erster Halbhart. Tübingen, H. Lnuvpsche Buchhandlung, 18!)<i-
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[0306] Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand der ostelbischen Gutsbesitzer, trotz der von ihnen begangnen Fehler, aus der Krisis gerettet hervorgehen wird, wenn sich die einzelnen nur von den schweren wirtschaftlichen Verirrungen, durch die sie selbst den Notstand hauptsächlich heraufbeschworen haben, endlich frei machen wollten, namentlich von der noch immer alle Anschauungen beherrschenden Spekulation auf Kapitalgewiuu an Grund und Boden. Aber gerade in diesem Grundfehler werden die ostdeutschen Gutsbesitzer durch die agrarischen Agitationen erhalten und bestärkt, ja in ihm besteht, so kann man wohl sagen, das eigentliche Wesen des ostelbischen Agrariertums. Durch unvernünftige Spekulatioustaufe herbeigeführte Kapital¬ verluste sollen wieder eingebracht, eingebildete Kapitalwerte sollen verwirklicht, neue Kapitalgewinne sollen ermöglicht werden durch staatliche und gesetzliche Manöver. Ob dadurch die Zukunft der Landwirtschaft gefährdet, der Not¬ stand in den folgenden Geschlechtern erhöht wird, darum bekümmert man sich nicht, wenn nur für heute die Spekulation durch steigende Güterpreise wieder flott gemacht wird. Unter diesen Umständen ist es sehr erfreulich, daß gerade jetzt zwei hervor¬ ragende Kenner der Verhältnisse, treue Freunde der Landwirtschaft und der Landwirte und anerkannt von Parteiinteressen unabhängige Männer, der be¬ deutendste Lehrer der Landwirtschaft in Preußen, Professor Freiherr von der Goltz in Bonn-Poppelsdorf, und der landwirtschaftskundigste preußische National ökonom, Professor I. Conrad in Halle, die Gelegenheit ergriffen haben, in schlicht wissenschaftlicher, aber doch nachdrücklichster Weise sich über die Frage des landwirtschaftlichen Notstands auszusprechen, indem sie ihre schon früher in Schönbergs „Handbuch der politischen Ökonomie"") veröffentlichten Arbeiten in der kürzlich erschienenen vierten Auflage dieses verdienstvollen Sammelwerks in zeitgemäßer Weise ergänzten. Professor von der Goltz hat sein Urteil in einem besondern Abschnitt: „Die Ursachen und der Charakter der heutigen landwirtschaftlichen Krisis sowie die Mittel zu ihrer Überwindung" abgegeben. Er weist da zunächst auf die That¬ sache hiu, daß „die Landwirtschaft aller Kulturländer, besonders der europäischen seit zehn bis fünfzehn Jahren unter einem größern und geringern Notstände leidet," der um so drückender empfunden werde, als in der vorausgegangnen Periode, etwa von 1850 bis 1875, die Lage der Landwirtschaft und der Mehrzahl der einzelnen Landwirte eine ganz besonders günstige gewesen sei. Als „wichtigste allgemeine Ursache" dieses Notstandes bezeichnet er „die durch die Vervollkommnung der Verkehrsmittel möglich gewordne Erschließung un¬ geheurer Gebiete für deu Welthandel." In Ländern, die weit ausgedehnter als alle europäischen Knltnrstciaten zusammengenommen seien, würden jetzt ') Handbuch der politischen Ökonomie, herausgegeben von or. G. von Schönver Vierte Auslage. Zweiter Band, erster Halbhart. Tübingen, H. Lnuvpsche Buchhandlung, 18!)<i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/306>, abgerufen am 06.01.2025.