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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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dem Gewerkschaftskongreß von 1886 gestand der Führer der Baumwvllenspinner
von Lancashire. James Mawdsley, die englischen Arbeiter seien in der Erkennt¬
nis der gesellschaftlichen Zustände hinter ihren Genossen auf dem Festlande
zurückgeblieben; er verstehe nichts vom Sozialismus, den er hätte studiren sollen.
Und der Generalsekretär der Hartglasarbeiter, einer sehr konservativen Genossen¬
schaft, warf die verfängliche Frage auf: "Warum soll zum Beispiel Lord
Dudley Kohlenbergwerke und Landgüter erben, die ihm täglich tausend Pfund
abwerfen, während die für ihn arbeitenden Kohlengräber sich die ganze Woche
abrackern müssen, um einen Lohn zu verdienen, der zum Leben nicht hin¬
reicht?" *)

Neben dieser Schwankung zwischen Sozialismus und Individualismus
geht eine andre her, die zeit- und stellemveise, sie verstärkend, mit ihr zusammen¬
fällt. Die Gewerkvereine fühlen und benehmen sich bald mehr als Schutz¬
vereine, bald mehr als Unterstützungsvereine. Als Schutzvereine sehen sie sich
dazu gedrängt, in die Politik einzugreifen. Arbeiterschutzgesetze und Einrichtung
der Staats- und Kommunalbetriebe nach ihren Ansprüchen zu fordern. In
dieser Beziehung haben sie denn auch schon bedeutendes erreicht, namentlich
eine sehr durchgreifende Fabrikgesetzgebung und Fabrikaufsicht, und die An¬
erkennung des Grundsatzes der tair ox^gs; bis zum Jahre 1894 hatten sich
bereits mehrere Regierungsbehörden und 150 Ortsbehörden, darunter der
Londoner Grafschaftsrat, verpflichtet, die von den Gewerkvereinen für an¬
gemessen erklärten Löhne zu zahlen. Ja schon im Jahre 1861 war die
politische Macht der Vereine so bedeutend, daß sich der Kriegsminister genötigt
sah, Pioniere, die er bei einem Kasernenbau auf Bitten der Unternehmer statt
der streikenden Arbeiter eingestellt hatte, wieder zurückzuziehen. Gegenwärtig
sind die Gewerkschaften weit mehr politische, den Staatssozialismus anstrebende,
als Unterstützungsvereine. Das Hin- und Herschwanken zwischen den beiden
Richtungen erklärt sich aus dem Umstände, daß bald schlecht bezahlte, bald hoch
bezahlte Arbeiterklassen die Führung haben. Hochbezahlte Arbeiter sind stolz
darauf, sich selbst helfen zu können, und wünschen ihre Unabhängigkeit zu,
wahren. Bei niedrigen Löhnen dagegen ist die Möglichkeit, leistungsfähige
Unterstützungskassen zu erhalten, von vorn herein ausgeschlossen; die schlecht¬
bezahlten Arbeiterklassen sind daher grundsätzlich sür Staatszwang und schreien
nach Staatshilfe, ihre Vereine sind politische Vereine, und ihre freien Hilfs¬
kassen höchstens für den einzelnen Fall angesammelte Streikkassen. Im großen
und ganzen scheint die englische Entwicklung der deutscheu Sozialdemokratie
Recht zu geben, die das Hauptgewicht auf die Teilnahme an der Politik und



Der Verlauf der drei letzten Gewerkvereinskongresse beweist, daß die Mehrzahl der
Mitglieder jetzt dem Sozialismus huldigt, aber einem rein akademischen Sozialismus, der daS
ruhige und energische Streben nach dem jeiveilen praktisch erreichbaren nicht hindert, und der
sich von dem Sozialismus der Fabler nicht unterscheidet.

dem Gewerkschaftskongreß von 1886 gestand der Führer der Baumwvllenspinner
von Lancashire. James Mawdsley, die englischen Arbeiter seien in der Erkennt¬
nis der gesellschaftlichen Zustände hinter ihren Genossen auf dem Festlande
zurückgeblieben; er verstehe nichts vom Sozialismus, den er hätte studiren sollen.
Und der Generalsekretär der Hartglasarbeiter, einer sehr konservativen Genossen¬
schaft, warf die verfängliche Frage auf: „Warum soll zum Beispiel Lord
Dudley Kohlenbergwerke und Landgüter erben, die ihm täglich tausend Pfund
abwerfen, während die für ihn arbeitenden Kohlengräber sich die ganze Woche
abrackern müssen, um einen Lohn zu verdienen, der zum Leben nicht hin¬
reicht?" *)

Neben dieser Schwankung zwischen Sozialismus und Individualismus
geht eine andre her, die zeit- und stellemveise, sie verstärkend, mit ihr zusammen¬
fällt. Die Gewerkvereine fühlen und benehmen sich bald mehr als Schutz¬
vereine, bald mehr als Unterstützungsvereine. Als Schutzvereine sehen sie sich
dazu gedrängt, in die Politik einzugreifen. Arbeiterschutzgesetze und Einrichtung
der Staats- und Kommunalbetriebe nach ihren Ansprüchen zu fordern. In
dieser Beziehung haben sie denn auch schon bedeutendes erreicht, namentlich
eine sehr durchgreifende Fabrikgesetzgebung und Fabrikaufsicht, und die An¬
erkennung des Grundsatzes der tair ox^gs; bis zum Jahre 1894 hatten sich
bereits mehrere Regierungsbehörden und 150 Ortsbehörden, darunter der
Londoner Grafschaftsrat, verpflichtet, die von den Gewerkvereinen für an¬
gemessen erklärten Löhne zu zahlen. Ja schon im Jahre 1861 war die
politische Macht der Vereine so bedeutend, daß sich der Kriegsminister genötigt
sah, Pioniere, die er bei einem Kasernenbau auf Bitten der Unternehmer statt
der streikenden Arbeiter eingestellt hatte, wieder zurückzuziehen. Gegenwärtig
sind die Gewerkschaften weit mehr politische, den Staatssozialismus anstrebende,
als Unterstützungsvereine. Das Hin- und Herschwanken zwischen den beiden
Richtungen erklärt sich aus dem Umstände, daß bald schlecht bezahlte, bald hoch
bezahlte Arbeiterklassen die Führung haben. Hochbezahlte Arbeiter sind stolz
darauf, sich selbst helfen zu können, und wünschen ihre Unabhängigkeit zu,
wahren. Bei niedrigen Löhnen dagegen ist die Möglichkeit, leistungsfähige
Unterstützungskassen zu erhalten, von vorn herein ausgeschlossen; die schlecht¬
bezahlten Arbeiterklassen sind daher grundsätzlich sür Staatszwang und schreien
nach Staatshilfe, ihre Vereine sind politische Vereine, und ihre freien Hilfs¬
kassen höchstens für den einzelnen Fall angesammelte Streikkassen. Im großen
und ganzen scheint die englische Entwicklung der deutscheu Sozialdemokratie
Recht zu geben, die das Hauptgewicht auf die Teilnahme an der Politik und



Der Verlauf der drei letzten Gewerkvereinskongresse beweist, daß die Mehrzahl der
Mitglieder jetzt dem Sozialismus huldigt, aber einem rein akademischen Sozialismus, der daS
ruhige und energische Streben nach dem jeiveilen praktisch erreichbaren nicht hindert, und der
sich von dem Sozialismus der Fabler nicht unterscheidet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/178>, abgerufen am 08.01.2025.