Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches nichts als um diese Schmach bewegen, und daß alles, was seine Mitglieder thun Doch ist das noch nicht die interessanteste Seite der Zarenreise. Man hat Grenzboten IV 18S6 19
Maßgebliches und Unmaßgebliches nichts als um diese Schmach bewegen, und daß alles, was seine Mitglieder thun Doch ist das noch nicht die interessanteste Seite der Zarenreise. Man hat Grenzboten IV 18S6 19
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223737"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_463" prev="#ID_462"> nichts als um diese Schmach bewegen, und daß alles, was seine Mitglieder thun<lb/> und lassen, darnach berechnet wird, inwieweit es ihren Nacheplänen dient. Aber<lb/> daß zehn Millionen Spießbürger, deren Leben in Erwerb und Genuß und klein¬<lb/> lichen Sorgen aufgeht, fünfundzwanzig Jahre lang von dem Gedanken der Wieder-<lb/> eroberung einer Verlornen Provinz beherrscht sein sollten, ist eine ganz wider¬<lb/> sinnige Annahme. Psychologisch erklärlich wurde dagegen das Benehmen der<lb/> Franzosen sein, wenn ihre Rachsucht nur Schein wäre, eine Maske, ihre Furcht<lb/> zu verbergen. Daß ein lebenskräftiges, mutiges Volk von über fünfzig Millionen<lb/> wie dus deutsche, das unaufhaltsam wächst und nach zehn Jahren nahe an sechzig<lb/> Millionen zählen wird, nicht über kurz oder lang die Fesseln seiner engen Grenzen<lb/> sprengen sollte, wäre eine so unnatürliche Voraussetzung und widerspräche aller<lb/> geschichtlichen Erfahrung in solchem Grade, daß wahrscheinlich kein Mensch in der<lb/> Welt unsrer Presse glaubt, die unaufhörlich versichert, es sei dennoch so. Macht<lb/> sich dann der Expansionsdrang der Deutschen nach Westen hin Luft, so ist Frank¬<lb/> reich verloren; demnach ist es eine Lebensfrage für die Franzosen, einen mächtigen<lb/> Verbündeten zu gewinnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_464" next="#ID_465"> Doch ist das noch nicht die interessanteste Seite der Zarenreise. Man hat<lb/> dem Russenkaiser ja auch anderwärts gehuldigt, man huldigt ihm überall, diesem<lb/> Manne, von dem die Welt bisher noch weiter nichts weiß, als daß er ein blasser,<lb/> wortkarger junger Mann, seines Vaters Sohn und der Beherrscher aller Reußen,<lb/> sowie ungezählter Tataren und Mongolen, auch einiger Deutsche» und Polen ist.<lb/> Warum huldigt mau ihm? Einzig und allein aus dem Grunde, weil er, wenigstens<lb/> auf dem Papiere, die meisten Soldaten und Kanonen hat, gerade so, wie man dem<lb/> häßlichen Lihuugtschang aus dem Grunde gehuldigt hat, weil er ein paar hundert<lb/> Millionen häßliche Chinesen hinter sich hat, die man hofft mit europäischen Kanonen,<lb/> Maschinen und Kapitalien anschmieren zu können. Um die dem russischen Kaiser<lb/> dargebrachten Huldigungen vollauf würdigen zu können, muß man sich die russische<lb/> Regierungsweise und Verwaltung vergegenwärtigen, muß man sich an den Kultur-<lb/> zustand des Rnssenvvlkes erinnern, wie er erst jüngst wiederum in den Grenzboten<lb/> geschildert worden ist, und muß mau bedenken, daß der russische Staat ohne Frank¬<lb/> reichs finanzielle Hilfe längst bankrott sein würde. Gesteht doch sogar die Schlesische<lb/> Zeitung, die Nußland mit den Franzosen um die Wette zu umschmeicheln pflegt,<lb/> in Ur. 712 ein, daß sich die russische Bauernschaft, die mehr als vier Fünftel der<lb/> Bevölkerung ausmacht, in der elendesten Lage befindet, und daß der Finanzminister,<lb/> um mit günstigen Abschlüssen glänzen zu können, die Steuern mit unerbittlicher<lb/> Härte eintreiben läßt; vielfach sei im vorigen Jahre die letzte Kuh, das letzte Pferd<lb/> gepfändet worden; schon drohe wieder die Hungersnot, und viele Landschaften hätten<lb/> sich bereits um Darlehen zur Verpflegung der Bevölkerung an die Regierung ge¬<lb/> wandt. Also dem so beschaffner absoluten Beherrscher eines so beschaffner Staates<lb/> liegt Europa, den republikanischen Teil eingeschlossen, zu Füßen. Was bedeutet<lb/> das? Es bedeutet, daß gegenwärtig nur uoch die Masse gilt. So ists ja auf<lb/> allen Gebieten. Die Staaten, die Städte kennen keinen andern Ehrgeiz mehr, als<lb/> jährlich eine höhere Einwohnerzahl melden zu können; auf die Qualität des Zu¬<lb/> wachses kommt ihnen nichts an; nur daß die Städte unter den Anzüglern die<lb/> Rentner am liebsten sehen, also den Zuwachs an Geldeinkommen. Die Budgets<lb/> nud die Schulden wachsen in die Milliarden. Statt der Gerechtigkeit hat man<lb/> tausende von Paragraphen. Der einzelne hört auf, Person zu sein, und wird<lb/> bloße Nummer, oder wenn er reist, ein sich selbst verladendes Frachtstück. Im<lb/> Gewerbe kommt nicht der Geschickteste vorwärts, sondern wer das meiste Geld hat,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 18S6 19</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0153]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
nichts als um diese Schmach bewegen, und daß alles, was seine Mitglieder thun
und lassen, darnach berechnet wird, inwieweit es ihren Nacheplänen dient. Aber
daß zehn Millionen Spießbürger, deren Leben in Erwerb und Genuß und klein¬
lichen Sorgen aufgeht, fünfundzwanzig Jahre lang von dem Gedanken der Wieder-
eroberung einer Verlornen Provinz beherrscht sein sollten, ist eine ganz wider¬
sinnige Annahme. Psychologisch erklärlich wurde dagegen das Benehmen der
Franzosen sein, wenn ihre Rachsucht nur Schein wäre, eine Maske, ihre Furcht
zu verbergen. Daß ein lebenskräftiges, mutiges Volk von über fünfzig Millionen
wie dus deutsche, das unaufhaltsam wächst und nach zehn Jahren nahe an sechzig
Millionen zählen wird, nicht über kurz oder lang die Fesseln seiner engen Grenzen
sprengen sollte, wäre eine so unnatürliche Voraussetzung und widerspräche aller
geschichtlichen Erfahrung in solchem Grade, daß wahrscheinlich kein Mensch in der
Welt unsrer Presse glaubt, die unaufhörlich versichert, es sei dennoch so. Macht
sich dann der Expansionsdrang der Deutschen nach Westen hin Luft, so ist Frank¬
reich verloren; demnach ist es eine Lebensfrage für die Franzosen, einen mächtigen
Verbündeten zu gewinnen.
Doch ist das noch nicht die interessanteste Seite der Zarenreise. Man hat
dem Russenkaiser ja auch anderwärts gehuldigt, man huldigt ihm überall, diesem
Manne, von dem die Welt bisher noch weiter nichts weiß, als daß er ein blasser,
wortkarger junger Mann, seines Vaters Sohn und der Beherrscher aller Reußen,
sowie ungezählter Tataren und Mongolen, auch einiger Deutsche» und Polen ist.
Warum huldigt mau ihm? Einzig und allein aus dem Grunde, weil er, wenigstens
auf dem Papiere, die meisten Soldaten und Kanonen hat, gerade so, wie man dem
häßlichen Lihuugtschang aus dem Grunde gehuldigt hat, weil er ein paar hundert
Millionen häßliche Chinesen hinter sich hat, die man hofft mit europäischen Kanonen,
Maschinen und Kapitalien anschmieren zu können. Um die dem russischen Kaiser
dargebrachten Huldigungen vollauf würdigen zu können, muß man sich die russische
Regierungsweise und Verwaltung vergegenwärtigen, muß man sich an den Kultur-
zustand des Rnssenvvlkes erinnern, wie er erst jüngst wiederum in den Grenzboten
geschildert worden ist, und muß mau bedenken, daß der russische Staat ohne Frank¬
reichs finanzielle Hilfe längst bankrott sein würde. Gesteht doch sogar die Schlesische
Zeitung, die Nußland mit den Franzosen um die Wette zu umschmeicheln pflegt,
in Ur. 712 ein, daß sich die russische Bauernschaft, die mehr als vier Fünftel der
Bevölkerung ausmacht, in der elendesten Lage befindet, und daß der Finanzminister,
um mit günstigen Abschlüssen glänzen zu können, die Steuern mit unerbittlicher
Härte eintreiben läßt; vielfach sei im vorigen Jahre die letzte Kuh, das letzte Pferd
gepfändet worden; schon drohe wieder die Hungersnot, und viele Landschaften hätten
sich bereits um Darlehen zur Verpflegung der Bevölkerung an die Regierung ge¬
wandt. Also dem so beschaffner absoluten Beherrscher eines so beschaffner Staates
liegt Europa, den republikanischen Teil eingeschlossen, zu Füßen. Was bedeutet
das? Es bedeutet, daß gegenwärtig nur uoch die Masse gilt. So ists ja auf
allen Gebieten. Die Staaten, die Städte kennen keinen andern Ehrgeiz mehr, als
jährlich eine höhere Einwohnerzahl melden zu können; auf die Qualität des Zu¬
wachses kommt ihnen nichts an; nur daß die Städte unter den Anzüglern die
Rentner am liebsten sehen, also den Zuwachs an Geldeinkommen. Die Budgets
nud die Schulden wachsen in die Milliarden. Statt der Gerechtigkeit hat man
tausende von Paragraphen. Der einzelne hört auf, Person zu sein, und wird
bloße Nummer, oder wenn er reist, ein sich selbst verladendes Frachtstück. Im
Gewerbe kommt nicht der Geschickteste vorwärts, sondern wer das meiste Geld hat,
Grenzboten IV 18S6 19
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