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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

als heilig und verehrungswürdig erschienen war, das erkannten sie jetzt als
jämmerliche Lüge; ihre Götter waren Götzen gewesen und lächerliche Puppen.
Der Nihilismus erhob sein Medusenhaupt, und der "Zar-Befreier," der ihnen
die Ketten gelöst, der sie emporgehoben hatte aus Nacht und Elend, ward
ermordet, ermordet durch die "Befreiten," ein Opfer seiner Liebe zu seinem
Volke. Nun besann sich die Gesellschaft und der Staat; die alten Schranken
waren nun einmal gefallen, im kleinen begann man allerlei Mauern und
Dämme zu errichten, hie und da Privilegien zurückzunehmen, die man
erst großmütig und vorschnell gegeben hatte, um so nachzuholen, was
man von Anfang an hätte thun sollen: statt mit einem Schlage eine
neue Welt zu schaffen, die Bahn zu legen für eine langsame, sichere, stetige
Entwicklung.

Und der Reaktionär Alexander III., der auf den überliberalen Alexander II.
folgte, lenkte den Thatendrang und die Leidenschaft der überschäumenden jungen
Volkskraft auf einen andern Weg. Er gab die Fremden frei, er gab sozu¬
sagen die Erlaubnis zum Fremdenhaß und damit die Erlaubnis zum National¬
hochmut. Plötzlich erscholl das Triumphgeschrei, wie herrlich weit man es
im russischen Volke gebracht habe; und während in den Ostseeprovinzen das
Deutschtum geknebelt wurde, während im Süden Rußlands die Judenver¬
folgungen in Szene gesetzt wurden, begann man bis zur Geschmacklosigkeit mit
russischer Bildung, russischer Industrie und russischer Humanität zu prahlen.
Wem man das bischen Bildung verdankte, war unglaublich schnell vergessen.
Es kamen all die häßlichen Gesetze, die den Ausländer zwingen sollten, ent¬
weder Russe zu werden oder nach Hause zu gehen; nur Russen durften jetzt
Grundbesitz erwerben, nur Russen sollten Inhaber von Geschäften sein usw.,
Nußland für die Russen!

Aber wie der Liberalismus der vorhergehenden Regierung, so war der
Triumph des Russentums unter Alexander III. voreilig und darum für die
ruhige Entwicklung dieses Volkes, das so wie so schon einen seltsamen Gang
genommen hat. von schwerem Schaden. Denn noch immer ist das russische
Volk uicht so weit, die Westeuropäer im eignen Lande entbehren zu können,
noch hat es zu lernen, noch leistet es die eigentliche Kulturarbeit nicht selbst.
Darum ist es schlimm, daß man die, die diese Kulturarbeit verrichten, scheel
ansieht und in ihrer Arbeit stört; noch schlimmer, daß man sich über den
eignen Mangel mit großen Worten hinwegtäuscht.

Ganz besonders stolz sind die Russen heute auf ihre Industrie. Und
doch, welche Heuchelei, wenn gesagt wird, die russische Industrie mache jetzt
alles selbst! Ja, in Nußland wird jetzt, wenn anch lange nicht alles, so doch
sehr vieles hergestellt, man ist längst nicht mehr so vom Auslande abhängig
wie früher. Aber wie weit sind es Russen, die diese große Industrie in den
Händen haben?


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

als heilig und verehrungswürdig erschienen war, das erkannten sie jetzt als
jämmerliche Lüge; ihre Götter waren Götzen gewesen und lächerliche Puppen.
Der Nihilismus erhob sein Medusenhaupt, und der „Zar-Befreier," der ihnen
die Ketten gelöst, der sie emporgehoben hatte aus Nacht und Elend, ward
ermordet, ermordet durch die „Befreiten," ein Opfer seiner Liebe zu seinem
Volke. Nun besann sich die Gesellschaft und der Staat; die alten Schranken
waren nun einmal gefallen, im kleinen begann man allerlei Mauern und
Dämme zu errichten, hie und da Privilegien zurückzunehmen, die man
erst großmütig und vorschnell gegeben hatte, um so nachzuholen, was
man von Anfang an hätte thun sollen: statt mit einem Schlage eine
neue Welt zu schaffen, die Bahn zu legen für eine langsame, sichere, stetige
Entwicklung.

Und der Reaktionär Alexander III., der auf den überliberalen Alexander II.
folgte, lenkte den Thatendrang und die Leidenschaft der überschäumenden jungen
Volkskraft auf einen andern Weg. Er gab die Fremden frei, er gab sozu¬
sagen die Erlaubnis zum Fremdenhaß und damit die Erlaubnis zum National¬
hochmut. Plötzlich erscholl das Triumphgeschrei, wie herrlich weit man es
im russischen Volke gebracht habe; und während in den Ostseeprovinzen das
Deutschtum geknebelt wurde, während im Süden Rußlands die Judenver¬
folgungen in Szene gesetzt wurden, begann man bis zur Geschmacklosigkeit mit
russischer Bildung, russischer Industrie und russischer Humanität zu prahlen.
Wem man das bischen Bildung verdankte, war unglaublich schnell vergessen.
Es kamen all die häßlichen Gesetze, die den Ausländer zwingen sollten, ent¬
weder Russe zu werden oder nach Hause zu gehen; nur Russen durften jetzt
Grundbesitz erwerben, nur Russen sollten Inhaber von Geschäften sein usw.,
Nußland für die Russen!

Aber wie der Liberalismus der vorhergehenden Regierung, so war der
Triumph des Russentums unter Alexander III. voreilig und darum für die
ruhige Entwicklung dieses Volkes, das so wie so schon einen seltsamen Gang
genommen hat. von schwerem Schaden. Denn noch immer ist das russische
Volk uicht so weit, die Westeuropäer im eignen Lande entbehren zu können,
noch hat es zu lernen, noch leistet es die eigentliche Kulturarbeit nicht selbst.
Darum ist es schlimm, daß man die, die diese Kulturarbeit verrichten, scheel
ansieht und in ihrer Arbeit stört; noch schlimmer, daß man sich über den
eignen Mangel mit großen Worten hinwegtäuscht.

Ganz besonders stolz sind die Russen heute auf ihre Industrie. Und
doch, welche Heuchelei, wenn gesagt wird, die russische Industrie mache jetzt
alles selbst! Ja, in Nußland wird jetzt, wenn anch lange nicht alles, so doch
sehr vieles hergestellt, man ist längst nicht mehr so vom Auslande abhängig
wie früher. Aber wie weit sind es Russen, die diese große Industrie in den
Händen haben?


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[0141] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland als heilig und verehrungswürdig erschienen war, das erkannten sie jetzt als jämmerliche Lüge; ihre Götter waren Götzen gewesen und lächerliche Puppen. Der Nihilismus erhob sein Medusenhaupt, und der „Zar-Befreier," der ihnen die Ketten gelöst, der sie emporgehoben hatte aus Nacht und Elend, ward ermordet, ermordet durch die „Befreiten," ein Opfer seiner Liebe zu seinem Volke. Nun besann sich die Gesellschaft und der Staat; die alten Schranken waren nun einmal gefallen, im kleinen begann man allerlei Mauern und Dämme zu errichten, hie und da Privilegien zurückzunehmen, die man erst großmütig und vorschnell gegeben hatte, um so nachzuholen, was man von Anfang an hätte thun sollen: statt mit einem Schlage eine neue Welt zu schaffen, die Bahn zu legen für eine langsame, sichere, stetige Entwicklung. Und der Reaktionär Alexander III., der auf den überliberalen Alexander II. folgte, lenkte den Thatendrang und die Leidenschaft der überschäumenden jungen Volkskraft auf einen andern Weg. Er gab die Fremden frei, er gab sozu¬ sagen die Erlaubnis zum Fremdenhaß und damit die Erlaubnis zum National¬ hochmut. Plötzlich erscholl das Triumphgeschrei, wie herrlich weit man es im russischen Volke gebracht habe; und während in den Ostseeprovinzen das Deutschtum geknebelt wurde, während im Süden Rußlands die Judenver¬ folgungen in Szene gesetzt wurden, begann man bis zur Geschmacklosigkeit mit russischer Bildung, russischer Industrie und russischer Humanität zu prahlen. Wem man das bischen Bildung verdankte, war unglaublich schnell vergessen. Es kamen all die häßlichen Gesetze, die den Ausländer zwingen sollten, ent¬ weder Russe zu werden oder nach Hause zu gehen; nur Russen durften jetzt Grundbesitz erwerben, nur Russen sollten Inhaber von Geschäften sein usw., Nußland für die Russen! Aber wie der Liberalismus der vorhergehenden Regierung, so war der Triumph des Russentums unter Alexander III. voreilig und darum für die ruhige Entwicklung dieses Volkes, das so wie so schon einen seltsamen Gang genommen hat. von schwerem Schaden. Denn noch immer ist das russische Volk uicht so weit, die Westeuropäer im eignen Lande entbehren zu können, noch hat es zu lernen, noch leistet es die eigentliche Kulturarbeit nicht selbst. Darum ist es schlimm, daß man die, die diese Kulturarbeit verrichten, scheel ansieht und in ihrer Arbeit stört; noch schlimmer, daß man sich über den eignen Mangel mit großen Worten hinwegtäuscht. Ganz besonders stolz sind die Russen heute auf ihre Industrie. Und doch, welche Heuchelei, wenn gesagt wird, die russische Industrie mache jetzt alles selbst! Ja, in Nußland wird jetzt, wenn anch lange nicht alles, so doch sehr vieles hergestellt, man ist längst nicht mehr so vom Auslande abhängig wie früher. Aber wie weit sind es Russen, die diese große Industrie in den Händen haben?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/141>, abgerufen am 06.01.2025.