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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Kampfes mit schwierigen Verhältnissen, und das schwierigste bleibt immer die
Indolenz der Russen, auf der einen Seite der Behörden, auf der andern Seite
der Unterbeamten und Arbeiter. Wie sich Deutschtum und Nusseutum in
Handel und Industrie zu einander verhalten, darauf werde ich noch zu sprechen
kommen. Die Aristokraten unter den Kaufleuten und Fabrikanten sind auch heute
noch vor allem Deutsche.

Unter den großen deutschen Kaufherren und Fabrikbesitzern herrscht
ein wohlthuender Stolz auf ihre Herkunft; sie halten auf deutsche Sitte
in ihren Häusern, sie Pflegen die deutsche Sprache, sie lesen deutsche
Zeitungen und Zeitschriften und halten stets eine gewisse Verbindung mit
der Heimat aufrecht; ich kenne Fälle, wo nach Generationen die Beziehungen
zu den Verwandten in Deutschland, nachdem sie eine Zeit lang ver¬
loren gegangen waren, mit warmem Eifer wieder gesucht und angeknüpft
wurden. Aber freilich, der Thatsache kann man sich auch nicht verschließen,
daß eine sehr große Zahl von denen, die noch heute einen deutschen Namen
führen, ganz und gar Russen geworden sind. Das vielgerühmte und viel¬
verspottete Anpassungsvermögen der Deutschen hat hier wie überall im Aus¬
lande seine traurige Kraft bewährt. Ich will ganz schweigen von dem Gc-
schciftsrussentum, das mir freilich auch wiederholt entgegengetreten ist. Da es
nicht klug ist, heute in Rußland deutsch zu sein, so wollen solche Gesellen auch
uicht Deutsche sein, sie verleugnen ihre deutsche Sprache, ja sie beklagen wohl
gar, daß sie einen unbequem deutschen Namen tragen, der ihnen die geschäft¬
liche "Karriere" erschwert. Ein paar besonders widerwärtige Fälle solcher
Gesinnungslosigkeit, die mir begegnet sind, darf ich allerdings nicht auf das
Konto ödes deutscheu Volkes schreiben: denn obwohl die "Muttersprache" dieser
Herren deutsch war, so hatten sie doch vom Deutschtum nur die Namen, und
die lauteten Löwenfeld, Silberstein oder so ähnlich. Die begütertsten Russen
und wütendsten Deutschenfresser, die ich kennen lernte, führten zufällig auch
solche "deutsche" Namen; und die Russen, denen man ja ein feines Unter-
scheidungsvermögen in dieser Richtung nicht zumuten kann, wittern vielfach
von vornherein in Leuten, die einen deutschen Namen tragen, Juden und
richten ihr Verhalten darnach ein. Aber auch von dieser Abart "deutscher"
Einwandrer abgesehen, läßt sich leider nicht leugnen, daß die Verrnssung
deutscher Familien oft erschreckend schnell vor sich geht, auch ohne daß in der
geschilderten Weise eine engere Verbindung mit russischen Familien erfolgt wäre.
Meist macht freilich eine solche Verbindung den Vorgang erklärlich; und er¬
klärlich ist denn auch der Neuegatenstolz, der in solchen russisch gewordnen
Familien Platz greift. Wie widerwärtig, einen Mann, dessen Vater ein Deutscher
war, und der selbst einen deutschen Familiennamen trägt, auf die "Nemzi,"
die "Daitschen" schimpfen und über sie spotten zu hören -- eine Freude, die
man, wenn man längere Zeit in Rußland ist, oft genug erleben kann.


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Kampfes mit schwierigen Verhältnissen, und das schwierigste bleibt immer die
Indolenz der Russen, auf der einen Seite der Behörden, auf der andern Seite
der Unterbeamten und Arbeiter. Wie sich Deutschtum und Nusseutum in
Handel und Industrie zu einander verhalten, darauf werde ich noch zu sprechen
kommen. Die Aristokraten unter den Kaufleuten und Fabrikanten sind auch heute
noch vor allem Deutsche.

Unter den großen deutschen Kaufherren und Fabrikbesitzern herrscht
ein wohlthuender Stolz auf ihre Herkunft; sie halten auf deutsche Sitte
in ihren Häusern, sie Pflegen die deutsche Sprache, sie lesen deutsche
Zeitungen und Zeitschriften und halten stets eine gewisse Verbindung mit
der Heimat aufrecht; ich kenne Fälle, wo nach Generationen die Beziehungen
zu den Verwandten in Deutschland, nachdem sie eine Zeit lang ver¬
loren gegangen waren, mit warmem Eifer wieder gesucht und angeknüpft
wurden. Aber freilich, der Thatsache kann man sich auch nicht verschließen,
daß eine sehr große Zahl von denen, die noch heute einen deutschen Namen
führen, ganz und gar Russen geworden sind. Das vielgerühmte und viel¬
verspottete Anpassungsvermögen der Deutschen hat hier wie überall im Aus¬
lande seine traurige Kraft bewährt. Ich will ganz schweigen von dem Gc-
schciftsrussentum, das mir freilich auch wiederholt entgegengetreten ist. Da es
nicht klug ist, heute in Rußland deutsch zu sein, so wollen solche Gesellen auch
uicht Deutsche sein, sie verleugnen ihre deutsche Sprache, ja sie beklagen wohl
gar, daß sie einen unbequem deutschen Namen tragen, der ihnen die geschäft¬
liche „Karriere" erschwert. Ein paar besonders widerwärtige Fälle solcher
Gesinnungslosigkeit, die mir begegnet sind, darf ich allerdings nicht auf das
Konto ödes deutscheu Volkes schreiben: denn obwohl die „Muttersprache" dieser
Herren deutsch war, so hatten sie doch vom Deutschtum nur die Namen, und
die lauteten Löwenfeld, Silberstein oder so ähnlich. Die begütertsten Russen
und wütendsten Deutschenfresser, die ich kennen lernte, führten zufällig auch
solche „deutsche" Namen; und die Russen, denen man ja ein feines Unter-
scheidungsvermögen in dieser Richtung nicht zumuten kann, wittern vielfach
von vornherein in Leuten, die einen deutschen Namen tragen, Juden und
richten ihr Verhalten darnach ein. Aber auch von dieser Abart „deutscher"
Einwandrer abgesehen, läßt sich leider nicht leugnen, daß die Verrnssung
deutscher Familien oft erschreckend schnell vor sich geht, auch ohne daß in der
geschilderten Weise eine engere Verbindung mit russischen Familien erfolgt wäre.
Meist macht freilich eine solche Verbindung den Vorgang erklärlich; und er¬
klärlich ist denn auch der Neuegatenstolz, der in solchen russisch gewordnen
Familien Platz greift. Wie widerwärtig, einen Mann, dessen Vater ein Deutscher
war, und der selbst einen deutschen Familiennamen trägt, auf die „Nemzi,"
die „Daitschen" schimpfen und über sie spotten zu hören — eine Freude, die
man, wenn man längere Zeit in Rußland ist, oft genug erleben kann.


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[0136] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland Kampfes mit schwierigen Verhältnissen, und das schwierigste bleibt immer die Indolenz der Russen, auf der einen Seite der Behörden, auf der andern Seite der Unterbeamten und Arbeiter. Wie sich Deutschtum und Nusseutum in Handel und Industrie zu einander verhalten, darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Die Aristokraten unter den Kaufleuten und Fabrikanten sind auch heute noch vor allem Deutsche. Unter den großen deutschen Kaufherren und Fabrikbesitzern herrscht ein wohlthuender Stolz auf ihre Herkunft; sie halten auf deutsche Sitte in ihren Häusern, sie Pflegen die deutsche Sprache, sie lesen deutsche Zeitungen und Zeitschriften und halten stets eine gewisse Verbindung mit der Heimat aufrecht; ich kenne Fälle, wo nach Generationen die Beziehungen zu den Verwandten in Deutschland, nachdem sie eine Zeit lang ver¬ loren gegangen waren, mit warmem Eifer wieder gesucht und angeknüpft wurden. Aber freilich, der Thatsache kann man sich auch nicht verschließen, daß eine sehr große Zahl von denen, die noch heute einen deutschen Namen führen, ganz und gar Russen geworden sind. Das vielgerühmte und viel¬ verspottete Anpassungsvermögen der Deutschen hat hier wie überall im Aus¬ lande seine traurige Kraft bewährt. Ich will ganz schweigen von dem Gc- schciftsrussentum, das mir freilich auch wiederholt entgegengetreten ist. Da es nicht klug ist, heute in Rußland deutsch zu sein, so wollen solche Gesellen auch uicht Deutsche sein, sie verleugnen ihre deutsche Sprache, ja sie beklagen wohl gar, daß sie einen unbequem deutschen Namen tragen, der ihnen die geschäft¬ liche „Karriere" erschwert. Ein paar besonders widerwärtige Fälle solcher Gesinnungslosigkeit, die mir begegnet sind, darf ich allerdings nicht auf das Konto ödes deutscheu Volkes schreiben: denn obwohl die „Muttersprache" dieser Herren deutsch war, so hatten sie doch vom Deutschtum nur die Namen, und die lauteten Löwenfeld, Silberstein oder so ähnlich. Die begütertsten Russen und wütendsten Deutschenfresser, die ich kennen lernte, führten zufällig auch solche „deutsche" Namen; und die Russen, denen man ja ein feines Unter- scheidungsvermögen in dieser Richtung nicht zumuten kann, wittern vielfach von vornherein in Leuten, die einen deutschen Namen tragen, Juden und richten ihr Verhalten darnach ein. Aber auch von dieser Abart „deutscher" Einwandrer abgesehen, läßt sich leider nicht leugnen, daß die Verrnssung deutscher Familien oft erschreckend schnell vor sich geht, auch ohne daß in der geschilderten Weise eine engere Verbindung mit russischen Familien erfolgt wäre. Meist macht freilich eine solche Verbindung den Vorgang erklärlich; und er¬ klärlich ist denn auch der Neuegatenstolz, der in solchen russisch gewordnen Familien Platz greift. Wie widerwärtig, einen Mann, dessen Vater ein Deutscher war, und der selbst einen deutschen Familiennamen trägt, auf die „Nemzi," die „Daitschen" schimpfen und über sie spotten zu hören — eine Freude, die man, wenn man längere Zeit in Rußland ist, oft genug erleben kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/136>, abgerufen am 06.01.2025.