Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches kleinen Städten und eins dem Dorfe noch eine dritte, klerikale Gruppe auf die Beine Rücksichtslose Kritik des Bestehenden. Aufrüttelung des Bierphilistcrs, Blo߬ Maßgebliches und Unmaßgebliches kleinen Städten und eins dem Dorfe noch eine dritte, klerikale Gruppe auf die Beine Rücksichtslose Kritik des Bestehenden. Aufrüttelung des Bierphilistcrs, Blo߬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223694"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_338" prev="#ID_337"> kleinen Städten und eins dem Dorfe noch eine dritte, klerikale Gruppe auf die Beine<lb/> zu bringen. Ju Wien raufen sich einstweilen die Antisemiten mit den Svzial-<lb/> demokrnten, und es ist hübsch zu sehen, wie sich die Neue Freie Presse bei dem<lb/> Streit dieser beiden von ihr mit gleichem Abscheu gehaßten Parteien benimmt: sie<lb/> verzichtet auf ihr gewohntes breitspuriges Pathos und auf die Klagelieder Jeremici<lb/> und berichtet über die Vorgänge trocken, objektiv und kurz, mit wenigen Zeile«.<lb/> Die Antisemiten versammeln sich nie ohne ein starkes Polizeiaufgebot und klagen<lb/> dann in den Berichten über die Versnmmlnng, sie seien von Haufen anarchistischer<lb/> Strolche überfallen wordeu, die von Jude» geführt und von diesen vorher in<lb/> Schnapskneipen frei gehalten worden seien. Die Arbeiterzeitung dagegen berichtet:<lb/> Die Christlichsozialen haben zu einer öffentlichen Volksversammlung eingeladen,<lb/> da sind wir denn erschienen, aber die antisemitischen Ordner haben uns nicht hinein¬<lb/> gelassen und die Polizei hat uus mit Gewalt zurückgetrieben; so haben denn die<lb/> Antisemiten ihre Volksversammlung mit Ausschluß des Volkes bei verschlossenen<lb/> Thüren abgehalten. So geht das Woche für Woche fort. Dabei fährt die<lb/> Arbeiterzeitung fort, den Antisemiten ihre Unfähigkeit vorzuhalten. Gleich bei der<lb/> ersten Gelegenheit, die sie hatten, zu beweisen, daß sie mehr konnten als die<lb/> Liberalen, seien sie kläglich abgefallen. Ehe sie ans Ruder kamen, hätten sie immer<lb/> darüber raisonnirt, daß städtische Arbeiten im ganzen an große Unternehmer vergeben<lb/> würden, die den Rahm abschöpften und den von ihnen geduugueu Handwerkern<lb/> uur den magern Rest des Verdienstes übrig ließen; der Magistrat müsse die<lb/> einzelnen Meister und kleinen Unternehmer selbst dingen und den überflüssigen<lb/> großen Zwischenhändler ausschließen. Und nun mache es der neue antisemitische<lb/> Magistrat geuau so wie seine judeuliberalen Vorgänger; er habe die auf über vier<lb/> Millionen Gulden geschätzten Arbeiten der Wienreguliruug um einen einzigen großen<lb/> Unternehmer vergeben, und als er darob im Gemeinderat interpellirt worden sei,<lb/> da habe Lueger ganz kaltblütig erklärt, es gehe uicht anders. Dazu wollten die<lb/> Antisemiten nicht bloß Handwerker-, sondern auch Bauerufreuude sein. Nun<lb/> würden durch das bestehende Heimatrecht nicht allein die Arbeiter, sondern auch<lb/> die Bauern aufs empfindlichste geschädigt; denn dieses sogenannte Recht gestatte<lb/> der großstädtischen Industrie, die rüstige Arbeiterjugend vom Lunde an sich zu<lb/> ziehen, sie auszunutzen und dann die entkräfteter alten Arbeiter als Almosen-<lb/> empfänger in ihre Heimatdörfer abzuschieben; die Zahl der an ihrem Wohnort<lb/> uicht hcimatberechtigteu Menschen betrage acht Millionen im ganzen Reiche. Auf<lb/> dem großen Bauerntage hätten denn auch die Wiener Antisemiten nicht umhin<lb/> gekonnt, in die Verurteilung dieses Zustandes einzustimmen. Jetzt aber, wo wirk¬<lb/> lich eine Reform in Aussicht stehe, habe ein antisemitischer Gemeinderat eine scharfe<lb/> Resolution gegen den geplanten Gesetzentwurf eingebracht, und die antisemitische<lb/> Presse spende ihm Beifall. (Am 1. Oktober hat der Wiener Gemeinderat eine<lb/> Resolution des Stadtrats, die den Entwurf eines neue» Heimatgcsetzes für un¬<lb/> annehmbar erklärt, mit 80 gegen 4 Stimme» angenommen.)</p><lb/> <p xml:id="ID_339" next="#ID_340"> Rücksichtslose Kritik des Bestehenden. Aufrüttelung des Bierphilistcrs, Blo߬<lb/> stellung der Feigheit, Aufdeckung der parteipolitischer Durchsteckercieu, Entlarvung<lb/> der Heuchelei, das hatte bisher in dem verschlafnen Österreich und namentlich in<lb/> dem phdakischen Wien mehr als irgendwo sonst gefehlt. Daß die Sozialdemokraten<lb/> diese Arbeit leisten, ist ihr unbestreitbares Verdienst. Leider aber benehmen sie<lb/> sich dabei mit überflüssiger Flegelhaftigkeit, reden in ihrer Arbeiterzeitung nie<lb/> anders als im rohesten Tone, geberden sich gleich ihren reichsdeutschen Genossen<lb/> als die alleinigen Inhaber des Universalheilmittels aller irdischen Übel und als<lb/> die zukünftigen Herrn der Welt, sehen mit Verachtung auf alles „Bürgerliche"</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0110]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
kleinen Städten und eins dem Dorfe noch eine dritte, klerikale Gruppe auf die Beine
zu bringen. Ju Wien raufen sich einstweilen die Antisemiten mit den Svzial-
demokrnten, und es ist hübsch zu sehen, wie sich die Neue Freie Presse bei dem
Streit dieser beiden von ihr mit gleichem Abscheu gehaßten Parteien benimmt: sie
verzichtet auf ihr gewohntes breitspuriges Pathos und auf die Klagelieder Jeremici
und berichtet über die Vorgänge trocken, objektiv und kurz, mit wenigen Zeile«.
Die Antisemiten versammeln sich nie ohne ein starkes Polizeiaufgebot und klagen
dann in den Berichten über die Versnmmlnng, sie seien von Haufen anarchistischer
Strolche überfallen wordeu, die von Jude» geführt und von diesen vorher in
Schnapskneipen frei gehalten worden seien. Die Arbeiterzeitung dagegen berichtet:
Die Christlichsozialen haben zu einer öffentlichen Volksversammlung eingeladen,
da sind wir denn erschienen, aber die antisemitischen Ordner haben uns nicht hinein¬
gelassen und die Polizei hat uus mit Gewalt zurückgetrieben; so haben denn die
Antisemiten ihre Volksversammlung mit Ausschluß des Volkes bei verschlossenen
Thüren abgehalten. So geht das Woche für Woche fort. Dabei fährt die
Arbeiterzeitung fort, den Antisemiten ihre Unfähigkeit vorzuhalten. Gleich bei der
ersten Gelegenheit, die sie hatten, zu beweisen, daß sie mehr konnten als die
Liberalen, seien sie kläglich abgefallen. Ehe sie ans Ruder kamen, hätten sie immer
darüber raisonnirt, daß städtische Arbeiten im ganzen an große Unternehmer vergeben
würden, die den Rahm abschöpften und den von ihnen geduugueu Handwerkern
uur den magern Rest des Verdienstes übrig ließen; der Magistrat müsse die
einzelnen Meister und kleinen Unternehmer selbst dingen und den überflüssigen
großen Zwischenhändler ausschließen. Und nun mache es der neue antisemitische
Magistrat geuau so wie seine judeuliberalen Vorgänger; er habe die auf über vier
Millionen Gulden geschätzten Arbeiten der Wienreguliruug um einen einzigen großen
Unternehmer vergeben, und als er darob im Gemeinderat interpellirt worden sei,
da habe Lueger ganz kaltblütig erklärt, es gehe uicht anders. Dazu wollten die
Antisemiten nicht bloß Handwerker-, sondern auch Bauerufreuude sein. Nun
würden durch das bestehende Heimatrecht nicht allein die Arbeiter, sondern auch
die Bauern aufs empfindlichste geschädigt; denn dieses sogenannte Recht gestatte
der großstädtischen Industrie, die rüstige Arbeiterjugend vom Lunde an sich zu
ziehen, sie auszunutzen und dann die entkräfteter alten Arbeiter als Almosen-
empfänger in ihre Heimatdörfer abzuschieben; die Zahl der an ihrem Wohnort
uicht hcimatberechtigteu Menschen betrage acht Millionen im ganzen Reiche. Auf
dem großen Bauerntage hätten denn auch die Wiener Antisemiten nicht umhin
gekonnt, in die Verurteilung dieses Zustandes einzustimmen. Jetzt aber, wo wirk¬
lich eine Reform in Aussicht stehe, habe ein antisemitischer Gemeinderat eine scharfe
Resolution gegen den geplanten Gesetzentwurf eingebracht, und die antisemitische
Presse spende ihm Beifall. (Am 1. Oktober hat der Wiener Gemeinderat eine
Resolution des Stadtrats, die den Entwurf eines neue» Heimatgcsetzes für un¬
annehmbar erklärt, mit 80 gegen 4 Stimme» angenommen.)
Rücksichtslose Kritik des Bestehenden. Aufrüttelung des Bierphilistcrs, Blo߬
stellung der Feigheit, Aufdeckung der parteipolitischer Durchsteckercieu, Entlarvung
der Heuchelei, das hatte bisher in dem verschlafnen Österreich und namentlich in
dem phdakischen Wien mehr als irgendwo sonst gefehlt. Daß die Sozialdemokraten
diese Arbeit leisten, ist ihr unbestreitbares Verdienst. Leider aber benehmen sie
sich dabei mit überflüssiger Flegelhaftigkeit, reden in ihrer Arbeiterzeitung nie
anders als im rohesten Tone, geberden sich gleich ihren reichsdeutschen Genossen
als die alleinigen Inhaber des Universalheilmittels aller irdischen Übel und als
die zukünftigen Herrn der Welt, sehen mit Verachtung auf alles „Bürgerliche"
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