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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich (Lhrysanders

Fachzeitungen untergeordneter Gewerbe und Handwerke einnehmen. Eine Hand
voll ausgezeichneter oder tüchtiger Leute verschwindet in ihr unter einem Haufen
geistig und sittlich unreifen und unwürdigen Volks. Die Musikwissenschaft
aber zeigt ein arges Mißverhältnis zwischen ihren Leistungen und ihrem Alter.
Das ist eine bedauerliche, aber unabänderliche Thatsache. Sie gilt insbesondre
auch für die Musikgeschichte.

Man mag es bewundern oder beklagen, bestreikn läßt es sich nicht, daß
die Musik die Hauptkunst der letzten vier Jahrhunderte gewesen ist. Sie hat
in dieser kurzen Spanne Zeit soviel geleistet wie Malerei, Skulptur und Archi¬
tektur in Jahrtausenden. Aber mit der Kenntnis, mit der Sichtung und nun
gar mit der Verwertung ihrer ungeheuern Schätze steht es traurig. Die Kluft
zwischen Künstlern und Kunstgelehrten ist in der Musik noch viel tiefer und
breiter als in den bildenden Künsten. Unsre Praktiker stehen den Bemühungen
der Musikhistoriker bis auf wenige Ausnahmen kühl, teilnahmlos, ohne Ver¬
ständnis gegenüber: "Gelehrter Sport"! Gebe der Himmel, daß das bald
besser werde! Denn nach verschiednen Anzeichen gehen wir, in Deutschland
wenigstens, magern Jahren entgegen, Zeiten, in denen uns die materielle Hilfe
und der gute Rat, die die Musikgeschichte zu bieten vermag, sehr zu statten
kommen könnten.

Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist in einem Lande nach dem
andern in der Musikgeschichte, wenn auch im Zickzack, doch fleißig gearbeitet
und mancher hübsche Erfolg erzielt worden. Dem Fernerstehenden verbergen
sich die guten Ergebnisse allerdings unter einem ansehnlichen Berg von Un¬
geschick, von Fehlern in der Methode, von Ungeheuerlichkeiten und Lap¬
palien. Aber Schlacken und Schutt giebt es überall, wo gegraben wird. An
ihnen liegt es nicht so sehr, wenn die Musikgeschichte in der Schätzung der
gelehrten Welt, wie in der der Musiker selbst eine geringe Stellung einnimmt,
als an einem gewissen Mangel an Glück. Eine junge, eine neue Wissenschaft
muß allgemein verständliche, groß in die Augen fallende Beweise von ihrer
Nützlichkeit, ihrer Notwendigkeit bringen, wenn sie das zur vollen Entfaltung
ihrer Kraft, ihres Segens nötige Vertrauen finden soll. Mit Spezialisten,
Kleinmeistern und mittlern Talenten allein kommt sie nicht auf die Höhe; sie
braucht Geister, die aus dem Vollen arbeiten, die von der Forschung eine
breite Brücke zur Praxis schlagen, die große und mächtige Gebiete entdecken
und erschließen oder doch bekannten und vertrauten Besitz neu beleuchten und
zu höherm Werte bringen. Solcher Männer kann man -- ohne den Verdiensten
andrer nahe treten zu wollen -- unter den deutschen Musikhistorikern nur zwei
nennen. Der eine ist Karl von Winterfeld, der uns die "Geschichte des evan¬
gelischen Kirchengesangs" aufgerollt hat, der andre ist Friedrich Chrysander,
der an diesem 8. Juli sein siebzigstes Lebensjahr vollendet.

Chrysander war ungefähr ein Dreißigjähriger, als er seine Biographie


Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich (Lhrysanders

Fachzeitungen untergeordneter Gewerbe und Handwerke einnehmen. Eine Hand
voll ausgezeichneter oder tüchtiger Leute verschwindet in ihr unter einem Haufen
geistig und sittlich unreifen und unwürdigen Volks. Die Musikwissenschaft
aber zeigt ein arges Mißverhältnis zwischen ihren Leistungen und ihrem Alter.
Das ist eine bedauerliche, aber unabänderliche Thatsache. Sie gilt insbesondre
auch für die Musikgeschichte.

Man mag es bewundern oder beklagen, bestreikn läßt es sich nicht, daß
die Musik die Hauptkunst der letzten vier Jahrhunderte gewesen ist. Sie hat
in dieser kurzen Spanne Zeit soviel geleistet wie Malerei, Skulptur und Archi¬
tektur in Jahrtausenden. Aber mit der Kenntnis, mit der Sichtung und nun
gar mit der Verwertung ihrer ungeheuern Schätze steht es traurig. Die Kluft
zwischen Künstlern und Kunstgelehrten ist in der Musik noch viel tiefer und
breiter als in den bildenden Künsten. Unsre Praktiker stehen den Bemühungen
der Musikhistoriker bis auf wenige Ausnahmen kühl, teilnahmlos, ohne Ver¬
ständnis gegenüber: „Gelehrter Sport"! Gebe der Himmel, daß das bald
besser werde! Denn nach verschiednen Anzeichen gehen wir, in Deutschland
wenigstens, magern Jahren entgegen, Zeiten, in denen uns die materielle Hilfe
und der gute Rat, die die Musikgeschichte zu bieten vermag, sehr zu statten
kommen könnten.

Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist in einem Lande nach dem
andern in der Musikgeschichte, wenn auch im Zickzack, doch fleißig gearbeitet
und mancher hübsche Erfolg erzielt worden. Dem Fernerstehenden verbergen
sich die guten Ergebnisse allerdings unter einem ansehnlichen Berg von Un¬
geschick, von Fehlern in der Methode, von Ungeheuerlichkeiten und Lap¬
palien. Aber Schlacken und Schutt giebt es überall, wo gegraben wird. An
ihnen liegt es nicht so sehr, wenn die Musikgeschichte in der Schätzung der
gelehrten Welt, wie in der der Musiker selbst eine geringe Stellung einnimmt,
als an einem gewissen Mangel an Glück. Eine junge, eine neue Wissenschaft
muß allgemein verständliche, groß in die Augen fallende Beweise von ihrer
Nützlichkeit, ihrer Notwendigkeit bringen, wenn sie das zur vollen Entfaltung
ihrer Kraft, ihres Segens nötige Vertrauen finden soll. Mit Spezialisten,
Kleinmeistern und mittlern Talenten allein kommt sie nicht auf die Höhe; sie
braucht Geister, die aus dem Vollen arbeiten, die von der Forschung eine
breite Brücke zur Praxis schlagen, die große und mächtige Gebiete entdecken
und erschließen oder doch bekannten und vertrauten Besitz neu beleuchten und
zu höherm Werte bringen. Solcher Männer kann man — ohne den Verdiensten
andrer nahe treten zu wollen — unter den deutschen Musikhistorikern nur zwei
nennen. Der eine ist Karl von Winterfeld, der uns die „Geschichte des evan¬
gelischen Kirchengesangs" aufgerollt hat, der andre ist Friedrich Chrysander,
der an diesem 8. Juli sein siebzigstes Lebensjahr vollendet.

Chrysander war ungefähr ein Dreißigjähriger, als er seine Biographie


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[0078] Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich (Lhrysanders Fachzeitungen untergeordneter Gewerbe und Handwerke einnehmen. Eine Hand voll ausgezeichneter oder tüchtiger Leute verschwindet in ihr unter einem Haufen geistig und sittlich unreifen und unwürdigen Volks. Die Musikwissenschaft aber zeigt ein arges Mißverhältnis zwischen ihren Leistungen und ihrem Alter. Das ist eine bedauerliche, aber unabänderliche Thatsache. Sie gilt insbesondre auch für die Musikgeschichte. Man mag es bewundern oder beklagen, bestreikn läßt es sich nicht, daß die Musik die Hauptkunst der letzten vier Jahrhunderte gewesen ist. Sie hat in dieser kurzen Spanne Zeit soviel geleistet wie Malerei, Skulptur und Archi¬ tektur in Jahrtausenden. Aber mit der Kenntnis, mit der Sichtung und nun gar mit der Verwertung ihrer ungeheuern Schätze steht es traurig. Die Kluft zwischen Künstlern und Kunstgelehrten ist in der Musik noch viel tiefer und breiter als in den bildenden Künsten. Unsre Praktiker stehen den Bemühungen der Musikhistoriker bis auf wenige Ausnahmen kühl, teilnahmlos, ohne Ver¬ ständnis gegenüber: „Gelehrter Sport"! Gebe der Himmel, daß das bald besser werde! Denn nach verschiednen Anzeichen gehen wir, in Deutschland wenigstens, magern Jahren entgegen, Zeiten, in denen uns die materielle Hilfe und der gute Rat, die die Musikgeschichte zu bieten vermag, sehr zu statten kommen könnten. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist in einem Lande nach dem andern in der Musikgeschichte, wenn auch im Zickzack, doch fleißig gearbeitet und mancher hübsche Erfolg erzielt worden. Dem Fernerstehenden verbergen sich die guten Ergebnisse allerdings unter einem ansehnlichen Berg von Un¬ geschick, von Fehlern in der Methode, von Ungeheuerlichkeiten und Lap¬ palien. Aber Schlacken und Schutt giebt es überall, wo gegraben wird. An ihnen liegt es nicht so sehr, wenn die Musikgeschichte in der Schätzung der gelehrten Welt, wie in der der Musiker selbst eine geringe Stellung einnimmt, als an einem gewissen Mangel an Glück. Eine junge, eine neue Wissenschaft muß allgemein verständliche, groß in die Augen fallende Beweise von ihrer Nützlichkeit, ihrer Notwendigkeit bringen, wenn sie das zur vollen Entfaltung ihrer Kraft, ihres Segens nötige Vertrauen finden soll. Mit Spezialisten, Kleinmeistern und mittlern Talenten allein kommt sie nicht auf die Höhe; sie braucht Geister, die aus dem Vollen arbeiten, die von der Forschung eine breite Brücke zur Praxis schlagen, die große und mächtige Gebiete entdecken und erschließen oder doch bekannten und vertrauten Besitz neu beleuchten und zu höherm Werte bringen. Solcher Männer kann man — ohne den Verdiensten andrer nahe treten zu wollen — unter den deutschen Musikhistorikern nur zwei nennen. Der eine ist Karl von Winterfeld, der uns die „Geschichte des evan¬ gelischen Kirchengesangs" aufgerollt hat, der andre ist Friedrich Chrysander, der an diesem 8. Juli sein siebzigstes Lebensjahr vollendet. Chrysander war ungefähr ein Dreißigjähriger, als er seine Biographie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/78>, abgerufen am 01.09.2024.