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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Albert Dult

Wiflingshcmsen ganze Sommer verbrachte, daß er im Winter in den Eislöchern
des Neckars badete, schien den Leuten viel interessanter und wichtiger, galt
auch vermutlich dem Dichter selbst mehr als seine poetischen Werke und erregte
jedenfalls beträchtlicheres Aufsehe" als diese. Als aber an die Stelle ver¬
wunderter Neugier und Sensationssucht der ernstliche Haß und die leiden¬
schaftliche Entrüstung der Frommen gegen den Begründer des "Freidenler-
buudes" und den hartnäckigen widerchristlichen Agitator traten, da war es mit
seinen poetischen Bestrebungen überhaupt zu Ende. In dem letzten Jahrzehnt
seines Lebens hat er fast ausschließlich religionsphilosophische Schriften ge¬
schrieben, deren Vorspiele uns wohl aus seinen poetischen Versuchen entgegen¬
tönen, die aber ihrerseits keinen Einfluß mehr ans seiue Dramen gehabt
haben. Sein letztes Schauspiel "Willa," das auf altem Sachsenboden spielt,
feiert, wie sein Erstlingsdrama "Orla", die freie Selbstherrlichkeit, die
individuelle Kraft und Leidenschaft; es zeigt sich einfacher und unmittel¬
barer als die frühern Reflcxionsdichtuugen, beweist aber nur, daß seine Dichter¬
seele und seine Dichterphantasie ihn gelegentlich einmal von der Seele des
radikalen Parteimanns unabhängig machen.

Der Herausgeber von Dulks Dramen weist diesen merkwürdigen Pro¬
dukten ihren Platz bei der Schule und Richtung Grabbes an. Hierin darf er
auf die allgemeinste Zustimmung rechnen. Auch seine eingehende und feine
Charakteristik der besondern ("mehr peripherischen als zentralen") Stellung
Dulks in dieser Schule trifft in der Hauptsache zu. "Grabbe und Dult
sind verwandte und doch grundverschiedne Naturen: beide ergreifen fast aus¬
schließlich große und bedeutende Themata, aber Grabbe liebte es, sie in Prag¬
matischer Breite historisch darzulegen, Dult sie in ethischer Vertiefung psycho¬
logisch zu entwickeln. Beide sind von heißer Leidenschaft für ihre Werke er¬
füllt, aber Grabbe überflügelt Dult, was dichterisches Feuer betrifft, Dult
dagegen läßt Grabbe weit hinter sich in der glutvollen Energie philosophischer
Erfassung von Welt und Menschen. Beide spitzen ihre dramatischen Konflikte
scharf zu, aber bei Grabbe bestehen diese Konflikte in dem Widerstreit der
Kräfte, bei Dult in dem der Gedanken. Beide lieben in der Entfaltung ihrer
Stoffe große Dimensionen, aber Grabbe bevorzugt die Massenwirkung, Kol¬
lisionen, die äußerlich ins Auge fallen, Dult die Einzelwirknng, Probleme,
die innerlich gelöst werden. Beide zeigen eine unverkennbare Vorliebe für die
Kraft des sprachlichen Ausdrucks, aber Grabbe ist darin ausschweifender, im¬
pulsiver, unmittelbarer, Dult abgeklärter, reslektirter, maßvoller."

Bei alledem fehlt in der Gesamtcharalteriftik der Schule Grabbes eine
entscheidende Seite: die Betonung der willkürlichen Geistreichigkeit, die um
des Neuen willen der Natur absagt und der Wirklichkeit ins Gesicht schlägt,
die wohl in einzelnen charakteristischen Zügen und Einfällen naturalistische
Gebahrungen zur Schau trägt, aber von dem Gefühl für die Gesamtheit des


Albert Dult

Wiflingshcmsen ganze Sommer verbrachte, daß er im Winter in den Eislöchern
des Neckars badete, schien den Leuten viel interessanter und wichtiger, galt
auch vermutlich dem Dichter selbst mehr als seine poetischen Werke und erregte
jedenfalls beträchtlicheres Aufsehe» als diese. Als aber an die Stelle ver¬
wunderter Neugier und Sensationssucht der ernstliche Haß und die leiden¬
schaftliche Entrüstung der Frommen gegen den Begründer des „Freidenler-
buudes" und den hartnäckigen widerchristlichen Agitator traten, da war es mit
seinen poetischen Bestrebungen überhaupt zu Ende. In dem letzten Jahrzehnt
seines Lebens hat er fast ausschließlich religionsphilosophische Schriften ge¬
schrieben, deren Vorspiele uns wohl aus seinen poetischen Versuchen entgegen¬
tönen, die aber ihrerseits keinen Einfluß mehr ans seiue Dramen gehabt
haben. Sein letztes Schauspiel „Willa," das auf altem Sachsenboden spielt,
feiert, wie sein Erstlingsdrama „Orla", die freie Selbstherrlichkeit, die
individuelle Kraft und Leidenschaft; es zeigt sich einfacher und unmittel¬
barer als die frühern Reflcxionsdichtuugen, beweist aber nur, daß seine Dichter¬
seele und seine Dichterphantasie ihn gelegentlich einmal von der Seele des
radikalen Parteimanns unabhängig machen.

Der Herausgeber von Dulks Dramen weist diesen merkwürdigen Pro¬
dukten ihren Platz bei der Schule und Richtung Grabbes an. Hierin darf er
auf die allgemeinste Zustimmung rechnen. Auch seine eingehende und feine
Charakteristik der besondern („mehr peripherischen als zentralen") Stellung
Dulks in dieser Schule trifft in der Hauptsache zu. „Grabbe und Dult
sind verwandte und doch grundverschiedne Naturen: beide ergreifen fast aus¬
schließlich große und bedeutende Themata, aber Grabbe liebte es, sie in Prag¬
matischer Breite historisch darzulegen, Dult sie in ethischer Vertiefung psycho¬
logisch zu entwickeln. Beide sind von heißer Leidenschaft für ihre Werke er¬
füllt, aber Grabbe überflügelt Dult, was dichterisches Feuer betrifft, Dult
dagegen läßt Grabbe weit hinter sich in der glutvollen Energie philosophischer
Erfassung von Welt und Menschen. Beide spitzen ihre dramatischen Konflikte
scharf zu, aber bei Grabbe bestehen diese Konflikte in dem Widerstreit der
Kräfte, bei Dult in dem der Gedanken. Beide lieben in der Entfaltung ihrer
Stoffe große Dimensionen, aber Grabbe bevorzugt die Massenwirkung, Kol¬
lisionen, die äußerlich ins Auge fallen, Dult die Einzelwirknng, Probleme,
die innerlich gelöst werden. Beide zeigen eine unverkennbare Vorliebe für die
Kraft des sprachlichen Ausdrucks, aber Grabbe ist darin ausschweifender, im¬
pulsiver, unmittelbarer, Dult abgeklärter, reslektirter, maßvoller."

Bei alledem fehlt in der Gesamtcharalteriftik der Schule Grabbes eine
entscheidende Seite: die Betonung der willkürlichen Geistreichigkeit, die um
des Neuen willen der Natur absagt und der Wirklichkeit ins Gesicht schlägt,
die wohl in einzelnen charakteristischen Zügen und Einfällen naturalistische
Gebahrungen zur Schau trägt, aber von dem Gefühl für die Gesamtheit des


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[0626] Albert Dult Wiflingshcmsen ganze Sommer verbrachte, daß er im Winter in den Eislöchern des Neckars badete, schien den Leuten viel interessanter und wichtiger, galt auch vermutlich dem Dichter selbst mehr als seine poetischen Werke und erregte jedenfalls beträchtlicheres Aufsehe» als diese. Als aber an die Stelle ver¬ wunderter Neugier und Sensationssucht der ernstliche Haß und die leiden¬ schaftliche Entrüstung der Frommen gegen den Begründer des „Freidenler- buudes" und den hartnäckigen widerchristlichen Agitator traten, da war es mit seinen poetischen Bestrebungen überhaupt zu Ende. In dem letzten Jahrzehnt seines Lebens hat er fast ausschließlich religionsphilosophische Schriften ge¬ schrieben, deren Vorspiele uns wohl aus seinen poetischen Versuchen entgegen¬ tönen, die aber ihrerseits keinen Einfluß mehr ans seiue Dramen gehabt haben. Sein letztes Schauspiel „Willa," das auf altem Sachsenboden spielt, feiert, wie sein Erstlingsdrama „Orla", die freie Selbstherrlichkeit, die individuelle Kraft und Leidenschaft; es zeigt sich einfacher und unmittel¬ barer als die frühern Reflcxionsdichtuugen, beweist aber nur, daß seine Dichter¬ seele und seine Dichterphantasie ihn gelegentlich einmal von der Seele des radikalen Parteimanns unabhängig machen. Der Herausgeber von Dulks Dramen weist diesen merkwürdigen Pro¬ dukten ihren Platz bei der Schule und Richtung Grabbes an. Hierin darf er auf die allgemeinste Zustimmung rechnen. Auch seine eingehende und feine Charakteristik der besondern („mehr peripherischen als zentralen") Stellung Dulks in dieser Schule trifft in der Hauptsache zu. „Grabbe und Dult sind verwandte und doch grundverschiedne Naturen: beide ergreifen fast aus¬ schließlich große und bedeutende Themata, aber Grabbe liebte es, sie in Prag¬ matischer Breite historisch darzulegen, Dult sie in ethischer Vertiefung psycho¬ logisch zu entwickeln. Beide sind von heißer Leidenschaft für ihre Werke er¬ füllt, aber Grabbe überflügelt Dult, was dichterisches Feuer betrifft, Dult dagegen läßt Grabbe weit hinter sich in der glutvollen Energie philosophischer Erfassung von Welt und Menschen. Beide spitzen ihre dramatischen Konflikte scharf zu, aber bei Grabbe bestehen diese Konflikte in dem Widerstreit der Kräfte, bei Dult in dem der Gedanken. Beide lieben in der Entfaltung ihrer Stoffe große Dimensionen, aber Grabbe bevorzugt die Massenwirkung, Kol¬ lisionen, die äußerlich ins Auge fallen, Dult die Einzelwirknng, Probleme, die innerlich gelöst werden. Beide zeigen eine unverkennbare Vorliebe für die Kraft des sprachlichen Ausdrucks, aber Grabbe ist darin ausschweifender, im¬ pulsiver, unmittelbarer, Dult abgeklärter, reslektirter, maßvoller." Bei alledem fehlt in der Gesamtcharalteriftik der Schule Grabbes eine entscheidende Seite: die Betonung der willkürlichen Geistreichigkeit, die um des Neuen willen der Natur absagt und der Wirklichkeit ins Gesicht schlägt, die wohl in einzelnen charakteristischen Zügen und Einfällen naturalistische Gebahrungen zur Schau trägt, aber von dem Gefühl für die Gesamtheit des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/626>, abgerufen am 30.07.2024.