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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

tlcigter war der Mißhandlung seines Bruders und eines bei dieser Gelegenheit
begangnen Hausfriedensbruchs beschuldigt. Er hatte den Bruder, der wegen
eines Liebesverhältnisses aus dein Vaterhause entwichen war, gewaltsam zurück¬
führen wollen und hatte hierbei das ihm zur Last gelegte begangen. Die
Belastungszeugin, deren Banden der Angeklagte den Bruder entreißen wollte,
und die unter Aussetzung der Vereidigung vernommen worden war, wurde
von dem Verteidiger, weil es ihm darauf ankommen mußte, die belastende Aus¬
sage der Zeugin als voreingenommen erscheinen zu lassen, am Schlüsse des
Verhörs gefragt, ob sie mit dem Verletzten, der als Zeuge noch nicht ver¬
nommen war, im Geschlechtsverkehr gestanden habe. Tief errötend vor den
sie umgebenden ernsten Männern leugnete die Zeugin ihre Schande. Sie wurde
vereidigt, und wenn auch durch die Verhandlung noch nicht ein klares Bild
des Sachverhalts gegeben war, so mußte doch das Wahrheitswidrige ihrer
Antwort in die Augen springen, denn sie hatte, was leicht festzustellen war,
sich übrigens auch aus den Akten ergab, mit dem betreffenden Manne zusammen¬
gewohnt. Nun wurde dieser als Zeuge aufgerufen und bejahte denn auch
ohne Zögern den Geschlechtsverkehr, wie leicht vorherzusehen war. Die vor-
vernommne Zeugin wollte jetzt natürlich ihre Aussage berichtigen, aber der
Meineid war begangen, und doch hätte er sich so leicht vermeiden lassen, wenn
der Vorsitzende des Gerichtshofs die Vereidigung der Zeugin hinausgeschoben
und erst nach der spätern Vernehmung vorgenommen hätte.

Diese Betrachtungen werden genügen, zu zeigen, daß die unbestrittene,
auch von der Ministerbank anerkannte allgemeine Unzufriedenheit mit unsrer
Rechtspflege einen viel tiefer liegenden Grund hat, als das gesunkne gesell¬
schaftliche Ansehen unsers Richterstandes. Von diesem Sinken wird so oft ge¬
sprochen, daß diese Behauptung nächstens zu den verbreiterten Vorurteilen
gehören wird, die keines Beweises mehr bedürfen und das Ansehen des Richter¬
standes wirklich schädigen können. Es ist wahr, daß die Richterlaufbahn im
Rang und Gehalt hinter der des Verwaltungsbeamten zurücksteht, dafür kann
aber der Richterstand am wenigsten verantwortlich gemacht werden, und andrer¬
seits genügt das auch nicht, um das Ansehen des bevorzugten Berufes, der
die Macht verleiht, im Namen des Königs über seine Mitbürger Recht zu
sprechen, herabzusetzen. Vor fünfzig Jahren hatten wir noch Patrimonial-
gerichte. Sie standen in einer nicht zu unterschätzenden Abhängigkeit vom
Gutsherrn, es kam auch vor, daß die Frauen der Richter sich nicht scheuten,
auf den Gerichtstagen einen kleinen Handel für das rechtsuchende Publikum
zu eröffnen. Damals kann doch der Richterstand nicht angesehener gewesen
sein als hente. Vor dreißig Jahren war der Adel in unserm Nichterstande
nicht zahlreicher vertreten als jetzt, wohl aber war er in den höhern Stellen,
namentlich auch unter den Präsidenten, verhältnismäßig viel häufiger zu finden.
Diese Art der Bevorzugung hat aufgehört, und dadurch wird es erklärlich, das;


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

tlcigter war der Mißhandlung seines Bruders und eines bei dieser Gelegenheit
begangnen Hausfriedensbruchs beschuldigt. Er hatte den Bruder, der wegen
eines Liebesverhältnisses aus dein Vaterhause entwichen war, gewaltsam zurück¬
führen wollen und hatte hierbei das ihm zur Last gelegte begangen. Die
Belastungszeugin, deren Banden der Angeklagte den Bruder entreißen wollte,
und die unter Aussetzung der Vereidigung vernommen worden war, wurde
von dem Verteidiger, weil es ihm darauf ankommen mußte, die belastende Aus¬
sage der Zeugin als voreingenommen erscheinen zu lassen, am Schlüsse des
Verhörs gefragt, ob sie mit dem Verletzten, der als Zeuge noch nicht ver¬
nommen war, im Geschlechtsverkehr gestanden habe. Tief errötend vor den
sie umgebenden ernsten Männern leugnete die Zeugin ihre Schande. Sie wurde
vereidigt, und wenn auch durch die Verhandlung noch nicht ein klares Bild
des Sachverhalts gegeben war, so mußte doch das Wahrheitswidrige ihrer
Antwort in die Augen springen, denn sie hatte, was leicht festzustellen war,
sich übrigens auch aus den Akten ergab, mit dem betreffenden Manne zusammen¬
gewohnt. Nun wurde dieser als Zeuge aufgerufen und bejahte denn auch
ohne Zögern den Geschlechtsverkehr, wie leicht vorherzusehen war. Die vor-
vernommne Zeugin wollte jetzt natürlich ihre Aussage berichtigen, aber der
Meineid war begangen, und doch hätte er sich so leicht vermeiden lassen, wenn
der Vorsitzende des Gerichtshofs die Vereidigung der Zeugin hinausgeschoben
und erst nach der spätern Vernehmung vorgenommen hätte.

Diese Betrachtungen werden genügen, zu zeigen, daß die unbestrittene,
auch von der Ministerbank anerkannte allgemeine Unzufriedenheit mit unsrer
Rechtspflege einen viel tiefer liegenden Grund hat, als das gesunkne gesell¬
schaftliche Ansehen unsers Richterstandes. Von diesem Sinken wird so oft ge¬
sprochen, daß diese Behauptung nächstens zu den verbreiterten Vorurteilen
gehören wird, die keines Beweises mehr bedürfen und das Ansehen des Richter¬
standes wirklich schädigen können. Es ist wahr, daß die Richterlaufbahn im
Rang und Gehalt hinter der des Verwaltungsbeamten zurücksteht, dafür kann
aber der Richterstand am wenigsten verantwortlich gemacht werden, und andrer¬
seits genügt das auch nicht, um das Ansehen des bevorzugten Berufes, der
die Macht verleiht, im Namen des Königs über seine Mitbürger Recht zu
sprechen, herabzusetzen. Vor fünfzig Jahren hatten wir noch Patrimonial-
gerichte. Sie standen in einer nicht zu unterschätzenden Abhängigkeit vom
Gutsherrn, es kam auch vor, daß die Frauen der Richter sich nicht scheuten,
auf den Gerichtstagen einen kleinen Handel für das rechtsuchende Publikum
zu eröffnen. Damals kann doch der Richterstand nicht angesehener gewesen
sein als hente. Vor dreißig Jahren war der Adel in unserm Nichterstande
nicht zahlreicher vertreten als jetzt, wohl aber war er in den höhern Stellen,
namentlich auch unter den Präsidenten, verhältnismäßig viel häufiger zu finden.
Diese Art der Bevorzugung hat aufgehört, und dadurch wird es erklärlich, das;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/594>, abgerufen am 27.11.2024.