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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

daß es eine richtige Verteilung des Nationaleinkommens herstelle, aber ein
solcher Wunsch kann nicht als leitender Grundsatz angesehen werden, denn un¬
erreichbare Ziele sind nicht besser als Ziellosigkeit. Auch ist es doch wohl
Sache der Volkswirtschaft und nicht des Rechts, die Wege zu einer gerechten
Einkommensverteilung aufzusuchen. Zweiundzwanzig Jahre ist an dem Gesetz¬
buch gearbeitet worden, das ist eine Zeit, die weit über das zulässige Maß
hinausgeht, wenn nichts neues geschaffen, sondern nur eine Auswahl der ver¬
meintlich besten Rechtssätze aus den verschiednen Rechten getroffen werden soll.
Man wollte aber offenbar, daß etwas neues geschaffen würde, und ist nun
enttäuscht, weil es nicht gelungen ist. Es konnte aber nicht gelingen, weil es an
klaren und bestimmten leitenden Grundsätzen sür eine neue Schöpfung gebrach.

Jetzt soll an den mit dem 1. Oktober 1879 eingeführten Strafprozeß
bessernd die Hand gelegt, die mit ihm abgeschaffte Berufung gegen die Urteile
der Gelehrtengerichte wieder eingeführt werden. Diese Berufung ist nach deu
vor 1379 gesammelten Erfahrungen und nach theoretischer Betrachtung nichts
weniger als eine Verbesserung, sie vermehrt die grundsatzlose und widerspruchs¬
volle Vielgestaltigkeit der Verfahrens, und die Neigung, sie zu neuem Leben
zu erwecken, bestätigt nur, daß eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht, die es
nicht bei dem Bcstehendrn belassen will.

Als verschiedne erste Instanzen haben Nur das Schöffengericht mit einem
Bcrufsrichter und zwei Schöffen, die Strafkammer mit fünf Berufsrichteru,
das Schwurgericht mit zwölf Geschwornen und einem von diesen getrennten
Gerichtshof mit drei Bernfsrichteru. Das genügt aber noch nicht. In gering¬
fügigen geständigen Sachen kann auch der Einzelrichter in erster Instanz Recht
sprechen, in Landes- und Hochverratssachen urteilt das Reichsgericht in erster
und letzter Instanz mit sieben Berufsrichtern. Die Aburteilung von Über¬
tretungen und leichten Vergehen liegt den Schöffengerichten, die der übrigen
Vergehen und einzelner Verbrechen den Strafkammern, die Mehrzahl der
Verbrechen den Schwurgerichten ob. Man könnte nun meinen, die Mitwirkung
der Laien sei nach einem bestimmten Plane von der Rechtsprechung bei schweren
Verbrechen und einzelnen Verbrechen ausgeschlossen worden, also auf ein über¬
legtes Mißtrauen gegen die Urteilskraft der Laienwelt bei gewissen Arten von
Vergehen zurückzuführen. Von solchen sachlichen Erwägungen ist denn auch
vielfach gesprochen worden, aber der Gesetzgeber selbst kann darauf nicht ernst¬
lich Wert gelegt haben, da den Geschwornen auch solche Vergehen, die ihrer
Beurteilung sonst entzogen sind, unterbreitet werden, wenn sie mit andern
vor die Geschwornen gehörigen Vergehen im Zusammenhang stehen oder
derselbe Verbrecher zugleich wegen verschiedner Thaten, obwohl nur für eine
einzige das Schwurgericht notwendig ist, abgeurteilt werden soll. Man sieht,
daß es vergebliche Mühe ist, in die grundsatzlose Vielgestaltigkeit Ordnung
bringen zu wollen.


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

daß es eine richtige Verteilung des Nationaleinkommens herstelle, aber ein
solcher Wunsch kann nicht als leitender Grundsatz angesehen werden, denn un¬
erreichbare Ziele sind nicht besser als Ziellosigkeit. Auch ist es doch wohl
Sache der Volkswirtschaft und nicht des Rechts, die Wege zu einer gerechten
Einkommensverteilung aufzusuchen. Zweiundzwanzig Jahre ist an dem Gesetz¬
buch gearbeitet worden, das ist eine Zeit, die weit über das zulässige Maß
hinausgeht, wenn nichts neues geschaffen, sondern nur eine Auswahl der ver¬
meintlich besten Rechtssätze aus den verschiednen Rechten getroffen werden soll.
Man wollte aber offenbar, daß etwas neues geschaffen würde, und ist nun
enttäuscht, weil es nicht gelungen ist. Es konnte aber nicht gelingen, weil es an
klaren und bestimmten leitenden Grundsätzen sür eine neue Schöpfung gebrach.

Jetzt soll an den mit dem 1. Oktober 1879 eingeführten Strafprozeß
bessernd die Hand gelegt, die mit ihm abgeschaffte Berufung gegen die Urteile
der Gelehrtengerichte wieder eingeführt werden. Diese Berufung ist nach deu
vor 1379 gesammelten Erfahrungen und nach theoretischer Betrachtung nichts
weniger als eine Verbesserung, sie vermehrt die grundsatzlose und widerspruchs¬
volle Vielgestaltigkeit der Verfahrens, und die Neigung, sie zu neuem Leben
zu erwecken, bestätigt nur, daß eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht, die es
nicht bei dem Bcstehendrn belassen will.

Als verschiedne erste Instanzen haben Nur das Schöffengericht mit einem
Bcrufsrichter und zwei Schöffen, die Strafkammer mit fünf Berufsrichteru,
das Schwurgericht mit zwölf Geschwornen und einem von diesen getrennten
Gerichtshof mit drei Bernfsrichteru. Das genügt aber noch nicht. In gering¬
fügigen geständigen Sachen kann auch der Einzelrichter in erster Instanz Recht
sprechen, in Landes- und Hochverratssachen urteilt das Reichsgericht in erster
und letzter Instanz mit sieben Berufsrichtern. Die Aburteilung von Über¬
tretungen und leichten Vergehen liegt den Schöffengerichten, die der übrigen
Vergehen und einzelner Verbrechen den Strafkammern, die Mehrzahl der
Verbrechen den Schwurgerichten ob. Man könnte nun meinen, die Mitwirkung
der Laien sei nach einem bestimmten Plane von der Rechtsprechung bei schweren
Verbrechen und einzelnen Verbrechen ausgeschlossen worden, also auf ein über¬
legtes Mißtrauen gegen die Urteilskraft der Laienwelt bei gewissen Arten von
Vergehen zurückzuführen. Von solchen sachlichen Erwägungen ist denn auch
vielfach gesprochen worden, aber der Gesetzgeber selbst kann darauf nicht ernst¬
lich Wert gelegt haben, da den Geschwornen auch solche Vergehen, die ihrer
Beurteilung sonst entzogen sind, unterbreitet werden, wenn sie mit andern
vor die Geschwornen gehörigen Vergehen im Zusammenhang stehen oder
derselbe Verbrecher zugleich wegen verschiedner Thaten, obwohl nur für eine
einzige das Schwurgericht notwendig ist, abgeurteilt werden soll. Man sieht,
daß es vergebliche Mühe ist, in die grundsatzlose Vielgestaltigkeit Ordnung
bringen zu wollen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/588>, abgerufen am 28.11.2024.