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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger Pasquills"ten des achtzehnten Jahrhunderts

durch die Verschwendung der Tochter des Zufalls von dem Kaufmann abhängig
geworden, und diese Abhängigkeit ist das Traurigste, was dem Bürger nur
immer zu Teil werden kann. Kaufmännischer Übermut ist meistens gefähr¬
licher als adelicher, und dies bestätigt sich auch hier, wo der arbeitsame Hand¬
werksmann und Künstler durch den Wucher der Kaufleute, welche alle Waren
nicht nach bestimmten Gesetzen der Gerechtigkeit, sondern einzig nach ihrem
Vorteil und ihrer Willkür bestimmen, auf das empfindlichste gedrückt werden.
Die Folgen hievon sind in dem ganzen Ton der Leipziger sichtbar: der Kauf¬
mann, voll Stolz, verachtet alles, was nicht in seine Sphäre gehört, und be¬
handelt alles, als ob es bloß Mittel zu seinem Zwecke sei; der Bürger, den
überdies noch politische Ketten drücken, ist kleinlich, gezwungen, nur zu oft
selbst Karrikatur." In der Schilderung der Studentenschaft findet sich eine
hübsche Stelle über die "sogenannten schönen Geister." Sie stimmt so ziemlich
mit dem überein, was "Anselmus Rabiosus" über die "schönen Wissenschaftler"
sagt. Der Verfasser dieser Schrift war ebenfalls ein Baier, Georg Heinrich
Kayser, der später eine Masse Populäres zur Geographie und Geschichte
Baierns, namentlich Augsburgs, geschrieben hat. Irgend welchen Anstoß bei
der Bücherkommission scheint sie nicht erregt zu haben.

Unbeanstandet blieb auch: Leipzig im Profil. Ein Taschenwörterbuch für
Einheimische und Fremde. Solothurn >17ö^. (31 "z S. 8°.) Das Buch ist
ein Seitenstück zu dem 1784 erschienenen Tableau von Leipzig, aber witziger.
Der Inhalt ist ebenso wie dort unter gewisse Stichwörter gebracht, die Stich¬
wörter aber sind hier alphabetisch geordnet, und so die Gegenstände absichtlich
noch bunter durch einander geschüttelt als im Tableau. Unter dem H z. B.
folgen auf einander: Haarbeutel, Hagkstolze, Hahnrei, Handlung, Handwerker,
Handwerksbursche, Harmonie, Hausarme, Hausmiete, Hausnummern, Haus¬
wirte, Hazardspieler, Hebamme, Herberge, Heiliger Christ, Hinrichtungen,
Hochzeiten, Höcker, Höflichkeit, Hofmeister, Holz usw. Die meisten Kapitel
sind kurz, manche haben nur wenige Zeilen. Viele schildern offenbar Zustünde,
wie sie damals allgemein verbreitet waren, andre aber doch auch besondre
Leipziger Zustände. Im Ton sind sie sehr verschieden. Manche sind ganz
satirisch und ironisch, aus andern spricht aufrichtiger Unwille, mehr oder
weniger Karrikatur sind wohl die meisten Schilderungen, doch fehlt es auch
nicht an ganz objektiven Bildern, ja selbst an nicht unverächtlichen statistischen
Angaben. Hier einige Proben:

Advokaten. Die unentbehrlichsten Mäuner im Staate, die Stützen, ohne
welche das moralische Gebäude schon längst eingestürzt wäre. Das Mein und Dein
wäre schon längst die Beute gieriger Raubvögel geworden, und wir sähen gewiß
noch eine weit größere Anzahl durch Prozesse zu Grunde gerichteter Familien, wenn
wir diese gelehrten Männer, diese Verteidiger der Unschuld, diese weisen Ausleger
der Gesetze entbehren müßten. Wie glücklich ist nicht das Vaterland zu preisen,
das im Besitz von Legionen solcher Männer ist! und wie vorzüglich glücklich ist


Leipziger Pasquills»ten des achtzehnten Jahrhunderts

durch die Verschwendung der Tochter des Zufalls von dem Kaufmann abhängig
geworden, und diese Abhängigkeit ist das Traurigste, was dem Bürger nur
immer zu Teil werden kann. Kaufmännischer Übermut ist meistens gefähr¬
licher als adelicher, und dies bestätigt sich auch hier, wo der arbeitsame Hand¬
werksmann und Künstler durch den Wucher der Kaufleute, welche alle Waren
nicht nach bestimmten Gesetzen der Gerechtigkeit, sondern einzig nach ihrem
Vorteil und ihrer Willkür bestimmen, auf das empfindlichste gedrückt werden.
Die Folgen hievon sind in dem ganzen Ton der Leipziger sichtbar: der Kauf¬
mann, voll Stolz, verachtet alles, was nicht in seine Sphäre gehört, und be¬
handelt alles, als ob es bloß Mittel zu seinem Zwecke sei; der Bürger, den
überdies noch politische Ketten drücken, ist kleinlich, gezwungen, nur zu oft
selbst Karrikatur." In der Schilderung der Studentenschaft findet sich eine
hübsche Stelle über die „sogenannten schönen Geister." Sie stimmt so ziemlich
mit dem überein, was „Anselmus Rabiosus" über die „schönen Wissenschaftler"
sagt. Der Verfasser dieser Schrift war ebenfalls ein Baier, Georg Heinrich
Kayser, der später eine Masse Populäres zur Geographie und Geschichte
Baierns, namentlich Augsburgs, geschrieben hat. Irgend welchen Anstoß bei
der Bücherkommission scheint sie nicht erregt zu haben.

Unbeanstandet blieb auch: Leipzig im Profil. Ein Taschenwörterbuch für
Einheimische und Fremde. Solothurn >17ö^. (31 «z S. 8°.) Das Buch ist
ein Seitenstück zu dem 1784 erschienenen Tableau von Leipzig, aber witziger.
Der Inhalt ist ebenso wie dort unter gewisse Stichwörter gebracht, die Stich¬
wörter aber sind hier alphabetisch geordnet, und so die Gegenstände absichtlich
noch bunter durch einander geschüttelt als im Tableau. Unter dem H z. B.
folgen auf einander: Haarbeutel, Hagkstolze, Hahnrei, Handlung, Handwerker,
Handwerksbursche, Harmonie, Hausarme, Hausmiete, Hausnummern, Haus¬
wirte, Hazardspieler, Hebamme, Herberge, Heiliger Christ, Hinrichtungen,
Hochzeiten, Höcker, Höflichkeit, Hofmeister, Holz usw. Die meisten Kapitel
sind kurz, manche haben nur wenige Zeilen. Viele schildern offenbar Zustünde,
wie sie damals allgemein verbreitet waren, andre aber doch auch besondre
Leipziger Zustände. Im Ton sind sie sehr verschieden. Manche sind ganz
satirisch und ironisch, aus andern spricht aufrichtiger Unwille, mehr oder
weniger Karrikatur sind wohl die meisten Schilderungen, doch fehlt es auch
nicht an ganz objektiven Bildern, ja selbst an nicht unverächtlichen statistischen
Angaben. Hier einige Proben:

Advokaten. Die unentbehrlichsten Mäuner im Staate, die Stützen, ohne
welche das moralische Gebäude schon längst eingestürzt wäre. Das Mein und Dein
wäre schon längst die Beute gieriger Raubvögel geworden, und wir sähen gewiß
noch eine weit größere Anzahl durch Prozesse zu Grunde gerichteter Familien, wenn
wir diese gelehrten Männer, diese Verteidiger der Unschuld, diese weisen Ausleger
der Gesetze entbehren müßten. Wie glücklich ist nicht das Vaterland zu preisen,
das im Besitz von Legionen solcher Männer ist! und wie vorzüglich glücklich ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/573>, abgerufen am 29.07.2024.