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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und verbrechen

Einfluß der Religion nicht bloß nach der Zahl der Verbrechen bemessen darf,
wie es nach Ihrem Aufsatz den Anschein hat. Das Verbrechen ist doch nur
der letzte, nicht einmal notwendige Ausfluß einer unmoralischen Gesinnung,
die vorhanden sein kann, ohne zum Verbrechen zu sichren. So wird auch
bei Beurteilung des sittlichen Einflusses der Religion nicht bloß die geringere
oder größere Menge der Verbrechen -- das wäre nur ein negativer Beweis
für oder gegen die Religion - sondern manches andre, z. B. das sittliche
Urteil, die Geschmacksrichtung des einzelnen wie einer ganzen Zeit, Berück¬
sichtigung finden müssen. Vor allem würde zu untersuchen sein, wie weit die
Religion den Menschen auch zu guten Werken, zu Werken der Nächstenliebe,
der Barmherzigkeit, der Entsagung und Aufopferung befähigt. So erst ließe
sich ein getreues Bild von dem sittlichen Einfluß der Religion gewinnen.
Einigermaßen scheinen Sie das selbst gefühlt zu haben, wenn Sie am Schluß
Ihres Aufsatzes als Beweis für den sittlichen Einfluß, den unter Umständen
die Religion ausübe, die "Fanatiker der Nächstenliebe" bei germanischen
Völkern, besonders bei den Engländern anführen, wo "Männer aller Klaffen
und Rangstufen der Gesellschaft, reiche und arme, gebildete und unwissende,
normale und verschrobne, es sich zur Aufgabe machten, soziale Übel zu heilen
und eine besondre Form des Elends oder Leidens aus der Welt zu schaffen."
Da dient anch Ihnen als Maßstab sür den Wert der Religion nicht die Zahl
der Verbrechen, sondern das weite "Feld der Philanthropie."

Aber auch jenen Maßstab angenommen, haben Sie wirklich den Beweis
dafür geliefert, daß, auch wo keine Religion ist, oft wenig Verbrechen, und wo
Religion ist, der Verbrechen oft nur zu viele seien? Ich kann es nicht zugeben.

Die Alfuru und die Santala mögen immerhin nur einen ..Gespenster¬
glauben" haben. Aber sind sie deshalb ohne Religion? Ich denke, eben die
Gespenster, die sie als höhere Wesen betrachten, sind ihre Götter, und aus
Scheu vor diesen, also aus Religion, befleißigen sie sich der Ehrlichkeit. So ist
auch der Atheist nicht ohne alle Religion, so wenig er sich auch dessen vielleicht
bewußt ist. Denn es giebt, wie erst neuere Forschungen bestätigt haben, keinen
Menschen, kein Volk ohne Religion. Die Religion ist ein unveräußerliches
Erbteil des Menschen, das zu seinem Wesen gehört und ihn vom Tier unter¬
scheidet. Der Atheist mag daher aus Gründen der Vernunft, in der Theorie
Gott leugnen, in der Tiefe seiner Seele schlummert doch das geheimnisvolle
Etwas, das wir Religion nennen, und das in entscheidenden Augenblicken von
bestimmenden Einfluß sein kann. Übrigens gestehen Sie ja selbst zu, daß die
Statistik der Verbrechen noch sehr spärlich ist. Vor der Hand ist daher trotz
Fern der Zweifel berechtigt, ob die Behauptung, daß sich unter Atheisten
verhältnismäßig wenig Verbrecher fänden, auf Thatsachen beruhe. Im all¬
gemeinen dürfte der Atheismus, dem notwendig eine lebendigere Religiosität
abgeht, einen erklecklichen Beitrag zum Verbrechertum stellen.


Religion und verbrechen

Einfluß der Religion nicht bloß nach der Zahl der Verbrechen bemessen darf,
wie es nach Ihrem Aufsatz den Anschein hat. Das Verbrechen ist doch nur
der letzte, nicht einmal notwendige Ausfluß einer unmoralischen Gesinnung,
die vorhanden sein kann, ohne zum Verbrechen zu sichren. So wird auch
bei Beurteilung des sittlichen Einflusses der Religion nicht bloß die geringere
oder größere Menge der Verbrechen — das wäre nur ein negativer Beweis
für oder gegen die Religion - sondern manches andre, z. B. das sittliche
Urteil, die Geschmacksrichtung des einzelnen wie einer ganzen Zeit, Berück¬
sichtigung finden müssen. Vor allem würde zu untersuchen sein, wie weit die
Religion den Menschen auch zu guten Werken, zu Werken der Nächstenliebe,
der Barmherzigkeit, der Entsagung und Aufopferung befähigt. So erst ließe
sich ein getreues Bild von dem sittlichen Einfluß der Religion gewinnen.
Einigermaßen scheinen Sie das selbst gefühlt zu haben, wenn Sie am Schluß
Ihres Aufsatzes als Beweis für den sittlichen Einfluß, den unter Umständen
die Religion ausübe, die „Fanatiker der Nächstenliebe" bei germanischen
Völkern, besonders bei den Engländern anführen, wo „Männer aller Klaffen
und Rangstufen der Gesellschaft, reiche und arme, gebildete und unwissende,
normale und verschrobne, es sich zur Aufgabe machten, soziale Übel zu heilen
und eine besondre Form des Elends oder Leidens aus der Welt zu schaffen."
Da dient anch Ihnen als Maßstab sür den Wert der Religion nicht die Zahl
der Verbrechen, sondern das weite „Feld der Philanthropie."

Aber auch jenen Maßstab angenommen, haben Sie wirklich den Beweis
dafür geliefert, daß, auch wo keine Religion ist, oft wenig Verbrechen, und wo
Religion ist, der Verbrechen oft nur zu viele seien? Ich kann es nicht zugeben.

Die Alfuru und die Santala mögen immerhin nur einen ..Gespenster¬
glauben" haben. Aber sind sie deshalb ohne Religion? Ich denke, eben die
Gespenster, die sie als höhere Wesen betrachten, sind ihre Götter, und aus
Scheu vor diesen, also aus Religion, befleißigen sie sich der Ehrlichkeit. So ist
auch der Atheist nicht ohne alle Religion, so wenig er sich auch dessen vielleicht
bewußt ist. Denn es giebt, wie erst neuere Forschungen bestätigt haben, keinen
Menschen, kein Volk ohne Religion. Die Religion ist ein unveräußerliches
Erbteil des Menschen, das zu seinem Wesen gehört und ihn vom Tier unter¬
scheidet. Der Atheist mag daher aus Gründen der Vernunft, in der Theorie
Gott leugnen, in der Tiefe seiner Seele schlummert doch das geheimnisvolle
Etwas, das wir Religion nennen, und das in entscheidenden Augenblicken von
bestimmenden Einfluß sein kann. Übrigens gestehen Sie ja selbst zu, daß die
Statistik der Verbrechen noch sehr spärlich ist. Vor der Hand ist daher trotz
Fern der Zweifel berechtigt, ob die Behauptung, daß sich unter Atheisten
verhältnismäßig wenig Verbrecher fänden, auf Thatsachen beruhe. Im all¬
gemeinen dürfte der Atheismus, dem notwendig eine lebendigere Religiosität
abgeht, einen erklecklichen Beitrag zum Verbrechertum stellen.


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[0543] Religion und verbrechen Einfluß der Religion nicht bloß nach der Zahl der Verbrechen bemessen darf, wie es nach Ihrem Aufsatz den Anschein hat. Das Verbrechen ist doch nur der letzte, nicht einmal notwendige Ausfluß einer unmoralischen Gesinnung, die vorhanden sein kann, ohne zum Verbrechen zu sichren. So wird auch bei Beurteilung des sittlichen Einflusses der Religion nicht bloß die geringere oder größere Menge der Verbrechen — das wäre nur ein negativer Beweis für oder gegen die Religion - sondern manches andre, z. B. das sittliche Urteil, die Geschmacksrichtung des einzelnen wie einer ganzen Zeit, Berück¬ sichtigung finden müssen. Vor allem würde zu untersuchen sein, wie weit die Religion den Menschen auch zu guten Werken, zu Werken der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der Entsagung und Aufopferung befähigt. So erst ließe sich ein getreues Bild von dem sittlichen Einfluß der Religion gewinnen. Einigermaßen scheinen Sie das selbst gefühlt zu haben, wenn Sie am Schluß Ihres Aufsatzes als Beweis für den sittlichen Einfluß, den unter Umständen die Religion ausübe, die „Fanatiker der Nächstenliebe" bei germanischen Völkern, besonders bei den Engländern anführen, wo „Männer aller Klaffen und Rangstufen der Gesellschaft, reiche und arme, gebildete und unwissende, normale und verschrobne, es sich zur Aufgabe machten, soziale Übel zu heilen und eine besondre Form des Elends oder Leidens aus der Welt zu schaffen." Da dient anch Ihnen als Maßstab sür den Wert der Religion nicht die Zahl der Verbrechen, sondern das weite „Feld der Philanthropie." Aber auch jenen Maßstab angenommen, haben Sie wirklich den Beweis dafür geliefert, daß, auch wo keine Religion ist, oft wenig Verbrechen, und wo Religion ist, der Verbrechen oft nur zu viele seien? Ich kann es nicht zugeben. Die Alfuru und die Santala mögen immerhin nur einen ..Gespenster¬ glauben" haben. Aber sind sie deshalb ohne Religion? Ich denke, eben die Gespenster, die sie als höhere Wesen betrachten, sind ihre Götter, und aus Scheu vor diesen, also aus Religion, befleißigen sie sich der Ehrlichkeit. So ist auch der Atheist nicht ohne alle Religion, so wenig er sich auch dessen vielleicht bewußt ist. Denn es giebt, wie erst neuere Forschungen bestätigt haben, keinen Menschen, kein Volk ohne Religion. Die Religion ist ein unveräußerliches Erbteil des Menschen, das zu seinem Wesen gehört und ihn vom Tier unter¬ scheidet. Der Atheist mag daher aus Gründen der Vernunft, in der Theorie Gott leugnen, in der Tiefe seiner Seele schlummert doch das geheimnisvolle Etwas, das wir Religion nennen, und das in entscheidenden Augenblicken von bestimmenden Einfluß sein kann. Übrigens gestehen Sie ja selbst zu, daß die Statistik der Verbrechen noch sehr spärlich ist. Vor der Hand ist daher trotz Fern der Zweifel berechtigt, ob die Behauptung, daß sich unter Atheisten verhältnismäßig wenig Verbrecher fänden, auf Thatsachen beruhe. Im all¬ gemeinen dürfte der Atheismus, dem notwendig eine lebendigere Religiosität abgeht, einen erklecklichen Beitrag zum Verbrechertum stellen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/543>, abgerufen am 01.09.2024.