Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religion und verbrechen

sind." Also: keine Religion, und doch verhältnismäßig wenig Verbrechen,
wohl gar Tugenden! Auf der andern Seite findet man, "besonders auf dem
Lande und in wenig zivilisirten Ländern, neben Irreligiösen und Atheisten
auch höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern. Ferri hat unter
700 Verbrechern nur einen Atheisten und einen Indifferenten gefunden. Sieben
waren Frömmler und fanden in ihrem religiösen Gefühl sogar eine Ent¬
schuldigung ihrer Missethat. Einer sagte: Mir ist mein Trieb, zu stehlen, von
Gott gegeben worden, ein andrer: Die Verbrechen sind keine Sünden, denn
sie werden auch von Priestern begangen, oder: Ja, ich habe gesündigt, aber
in der Beichte wird mir die Sünde vergeben. Der französische Forscher Jolh
schreibt zwar den äußerlichen Gebräuchen der Religion einen sittlich fördernden
Einfluß zu, zeigt aber selbst, daß in der Normandie, wo die Achtung vor den
religiösen Gebräuchen sehr groß ist, die Verbrechen eine außerordentliche Höhe
erreichen." Also: Religion und doch Verbrechen, ja verhältnismüßig mehr
als unter Atheisten und Irreligiösen!

Was folgt daraus? Der Schluß ist sehr einfach. Die Religion kann
einen sittlichen Einfluß ausüben; gewiß. Es ist nicht so, daß alle Religiösen
geborne Verbrecher wären. Aber sie muß es nicht. Es besteht kein not¬
wendiger Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit, sodaß Religion
und Moral, Irreligiosität und Jmmoralität einander entsprechende Begriffe
wären. Die Religion ist vielmehr etwas gleichgiltiges, das auf sittlichem
Gebiet nicht ins Gewicht füllt.

Sehe ich recht, so habe ich damit Ihre Stellung zu der Frage, die den
Gegenstand Ihres Aussatzes bildet, richtig wiedergegeben, und gern räume ich
ein, daß sich Ihre Anschauung von der "neuesten Lehre" einigermaßen unter¬
scheidet. Doch will ich nicht verhehlen, daß ich nach Lesung Ihres Aufsatzes
bei mir dachte: Die armen Pastoren und Seelsorger! All ihr Bestreben ist
darauf gerichtet, dem Volke die Religion zu erhalten. Aber sie müssen sich
nicht bloß den Vorwurf gefallen lassen, das Volk zu verdummen, sie dürfen
nicht einmal hoffen, einige der ihnen anvertrauten Seelen zu leidlich guten
Menschen heranzubilden. Die Religion schließt ja Jmmoralität und Verbrechen
uicht aus. "Man kann gut sein mit und ohne Gottesglauben," also auch
schlecht sein mit Gottesglauben. Im Interesse des Gesamtwohls dürfte es
sich daher empfehlen, Kirchen und Pfarrhäuser zu schließen. Zum mindesten
sind von der Kultur, "die in ihrem Fortschreiten den Einfluß der Religion
verwischt," ungleich seltsamere Erfolge zu erwarten.

Im Ernste, Herr Professor, es handelt sich um eine Frage allerersten
Ranges, die ebenso den Staat, ja die Gesellschaft überhaupt wie die Kirche
angeht, und die Wichtigkeit der Sache ist es, die mir den Mut zu einer Er¬
widerung giebt.

Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Ich glaube, daß man den sittlichen


Religion und verbrechen

sind." Also: keine Religion, und doch verhältnismäßig wenig Verbrechen,
wohl gar Tugenden! Auf der andern Seite findet man, „besonders auf dem
Lande und in wenig zivilisirten Ländern, neben Irreligiösen und Atheisten
auch höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern. Ferri hat unter
700 Verbrechern nur einen Atheisten und einen Indifferenten gefunden. Sieben
waren Frömmler und fanden in ihrem religiösen Gefühl sogar eine Ent¬
schuldigung ihrer Missethat. Einer sagte: Mir ist mein Trieb, zu stehlen, von
Gott gegeben worden, ein andrer: Die Verbrechen sind keine Sünden, denn
sie werden auch von Priestern begangen, oder: Ja, ich habe gesündigt, aber
in der Beichte wird mir die Sünde vergeben. Der französische Forscher Jolh
schreibt zwar den äußerlichen Gebräuchen der Religion einen sittlich fördernden
Einfluß zu, zeigt aber selbst, daß in der Normandie, wo die Achtung vor den
religiösen Gebräuchen sehr groß ist, die Verbrechen eine außerordentliche Höhe
erreichen." Also: Religion und doch Verbrechen, ja verhältnismüßig mehr
als unter Atheisten und Irreligiösen!

Was folgt daraus? Der Schluß ist sehr einfach. Die Religion kann
einen sittlichen Einfluß ausüben; gewiß. Es ist nicht so, daß alle Religiösen
geborne Verbrecher wären. Aber sie muß es nicht. Es besteht kein not¬
wendiger Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit, sodaß Religion
und Moral, Irreligiosität und Jmmoralität einander entsprechende Begriffe
wären. Die Religion ist vielmehr etwas gleichgiltiges, das auf sittlichem
Gebiet nicht ins Gewicht füllt.

Sehe ich recht, so habe ich damit Ihre Stellung zu der Frage, die den
Gegenstand Ihres Aussatzes bildet, richtig wiedergegeben, und gern räume ich
ein, daß sich Ihre Anschauung von der „neuesten Lehre" einigermaßen unter¬
scheidet. Doch will ich nicht verhehlen, daß ich nach Lesung Ihres Aufsatzes
bei mir dachte: Die armen Pastoren und Seelsorger! All ihr Bestreben ist
darauf gerichtet, dem Volke die Religion zu erhalten. Aber sie müssen sich
nicht bloß den Vorwurf gefallen lassen, das Volk zu verdummen, sie dürfen
nicht einmal hoffen, einige der ihnen anvertrauten Seelen zu leidlich guten
Menschen heranzubilden. Die Religion schließt ja Jmmoralität und Verbrechen
uicht aus. „Man kann gut sein mit und ohne Gottesglauben," also auch
schlecht sein mit Gottesglauben. Im Interesse des Gesamtwohls dürfte es
sich daher empfehlen, Kirchen und Pfarrhäuser zu schließen. Zum mindesten
sind von der Kultur, „die in ihrem Fortschreiten den Einfluß der Religion
verwischt," ungleich seltsamere Erfolge zu erwarten.

Im Ernste, Herr Professor, es handelt sich um eine Frage allerersten
Ranges, die ebenso den Staat, ja die Gesellschaft überhaupt wie die Kirche
angeht, und die Wichtigkeit der Sache ist es, die mir den Mut zu einer Er¬
widerung giebt.

Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Ich glaube, daß man den sittlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0542" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223484"/>
          <fw type="header" place="top"> Religion und verbrechen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1516" prev="#ID_1515"> sind." Also: keine Religion, und doch verhältnismäßig wenig Verbrechen,<lb/>
wohl gar Tugenden! Auf der andern Seite findet man, &#x201E;besonders auf dem<lb/>
Lande und in wenig zivilisirten Ländern, neben Irreligiösen und Atheisten<lb/>
auch höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern. Ferri hat unter<lb/>
700 Verbrechern nur einen Atheisten und einen Indifferenten gefunden. Sieben<lb/>
waren Frömmler und fanden in ihrem religiösen Gefühl sogar eine Ent¬<lb/>
schuldigung ihrer Missethat. Einer sagte: Mir ist mein Trieb, zu stehlen, von<lb/>
Gott gegeben worden, ein andrer: Die Verbrechen sind keine Sünden, denn<lb/>
sie werden auch von Priestern begangen, oder: Ja, ich habe gesündigt, aber<lb/>
in der Beichte wird mir die Sünde vergeben. Der französische Forscher Jolh<lb/>
schreibt zwar den äußerlichen Gebräuchen der Religion einen sittlich fördernden<lb/>
Einfluß zu, zeigt aber selbst, daß in der Normandie, wo die Achtung vor den<lb/>
religiösen Gebräuchen sehr groß ist, die Verbrechen eine außerordentliche Höhe<lb/>
erreichen." Also: Religion und doch Verbrechen, ja verhältnismüßig mehr<lb/>
als unter Atheisten und Irreligiösen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1517"> Was folgt daraus? Der Schluß ist sehr einfach. Die Religion kann<lb/>
einen sittlichen Einfluß ausüben; gewiß. Es ist nicht so, daß alle Religiösen<lb/>
geborne Verbrecher wären. Aber sie muß es nicht. Es besteht kein not¬<lb/>
wendiger Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit, sodaß Religion<lb/>
und Moral, Irreligiosität und Jmmoralität einander entsprechende Begriffe<lb/>
wären. Die Religion ist vielmehr etwas gleichgiltiges, das auf sittlichem<lb/>
Gebiet nicht ins Gewicht füllt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1518"> Sehe ich recht, so habe ich damit Ihre Stellung zu der Frage, die den<lb/>
Gegenstand Ihres Aussatzes bildet, richtig wiedergegeben, und gern räume ich<lb/>
ein, daß sich Ihre Anschauung von der &#x201E;neuesten Lehre" einigermaßen unter¬<lb/>
scheidet. Doch will ich nicht verhehlen, daß ich nach Lesung Ihres Aufsatzes<lb/>
bei mir dachte: Die armen Pastoren und Seelsorger! All ihr Bestreben ist<lb/>
darauf gerichtet, dem Volke die Religion zu erhalten. Aber sie müssen sich<lb/>
nicht bloß den Vorwurf gefallen lassen, das Volk zu verdummen, sie dürfen<lb/>
nicht einmal hoffen, einige der ihnen anvertrauten Seelen zu leidlich guten<lb/>
Menschen heranzubilden. Die Religion schließt ja Jmmoralität und Verbrechen<lb/>
uicht aus. &#x201E;Man kann gut sein mit und ohne Gottesglauben," also auch<lb/>
schlecht sein mit Gottesglauben. Im Interesse des Gesamtwohls dürfte es<lb/>
sich daher empfehlen, Kirchen und Pfarrhäuser zu schließen. Zum mindesten<lb/>
sind von der Kultur, &#x201E;die in ihrem Fortschreiten den Einfluß der Religion<lb/>
verwischt," ungleich seltsamere Erfolge zu erwarten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1519"> Im Ernste, Herr Professor, es handelt sich um eine Frage allerersten<lb/>
Ranges, die ebenso den Staat, ja die Gesellschaft überhaupt wie die Kirche<lb/>
angeht, und die Wichtigkeit der Sache ist es, die mir den Mut zu einer Er¬<lb/>
widerung giebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1520" next="#ID_1521"> Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Ich glaube, daß man den sittlichen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0542] Religion und verbrechen sind." Also: keine Religion, und doch verhältnismäßig wenig Verbrechen, wohl gar Tugenden! Auf der andern Seite findet man, „besonders auf dem Lande und in wenig zivilisirten Ländern, neben Irreligiösen und Atheisten auch höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern. Ferri hat unter 700 Verbrechern nur einen Atheisten und einen Indifferenten gefunden. Sieben waren Frömmler und fanden in ihrem religiösen Gefühl sogar eine Ent¬ schuldigung ihrer Missethat. Einer sagte: Mir ist mein Trieb, zu stehlen, von Gott gegeben worden, ein andrer: Die Verbrechen sind keine Sünden, denn sie werden auch von Priestern begangen, oder: Ja, ich habe gesündigt, aber in der Beichte wird mir die Sünde vergeben. Der französische Forscher Jolh schreibt zwar den äußerlichen Gebräuchen der Religion einen sittlich fördernden Einfluß zu, zeigt aber selbst, daß in der Normandie, wo die Achtung vor den religiösen Gebräuchen sehr groß ist, die Verbrechen eine außerordentliche Höhe erreichen." Also: Religion und doch Verbrechen, ja verhältnismüßig mehr als unter Atheisten und Irreligiösen! Was folgt daraus? Der Schluß ist sehr einfach. Die Religion kann einen sittlichen Einfluß ausüben; gewiß. Es ist nicht so, daß alle Religiösen geborne Verbrecher wären. Aber sie muß es nicht. Es besteht kein not¬ wendiger Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit, sodaß Religion und Moral, Irreligiosität und Jmmoralität einander entsprechende Begriffe wären. Die Religion ist vielmehr etwas gleichgiltiges, das auf sittlichem Gebiet nicht ins Gewicht füllt. Sehe ich recht, so habe ich damit Ihre Stellung zu der Frage, die den Gegenstand Ihres Aussatzes bildet, richtig wiedergegeben, und gern räume ich ein, daß sich Ihre Anschauung von der „neuesten Lehre" einigermaßen unter¬ scheidet. Doch will ich nicht verhehlen, daß ich nach Lesung Ihres Aufsatzes bei mir dachte: Die armen Pastoren und Seelsorger! All ihr Bestreben ist darauf gerichtet, dem Volke die Religion zu erhalten. Aber sie müssen sich nicht bloß den Vorwurf gefallen lassen, das Volk zu verdummen, sie dürfen nicht einmal hoffen, einige der ihnen anvertrauten Seelen zu leidlich guten Menschen heranzubilden. Die Religion schließt ja Jmmoralität und Verbrechen uicht aus. „Man kann gut sein mit und ohne Gottesglauben," also auch schlecht sein mit Gottesglauben. Im Interesse des Gesamtwohls dürfte es sich daher empfehlen, Kirchen und Pfarrhäuser zu schließen. Zum mindesten sind von der Kultur, „die in ihrem Fortschreiten den Einfluß der Religion verwischt," ungleich seltsamere Erfolge zu erwarten. Im Ernste, Herr Professor, es handelt sich um eine Frage allerersten Ranges, die ebenso den Staat, ja die Gesellschaft überhaupt wie die Kirche angeht, und die Wichtigkeit der Sache ist es, die mir den Mut zu einer Er¬ widerung giebt. Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Ich glaube, daß man den sittlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/542
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/542>, abgerufen am 01.09.2024.