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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ballade und Romanze

Auch in der folgenden Zeit, als sich viele Dichter, angeregt durch Schiller
und Goethe, der lyrisch-epischen Dichtung zuwandten, findet man dieselbe
Willkür. Uhland und Schwab zeigen ihre Unsicherheit schon durch die ge¬
wählten Titel "Balladen und Romanzen" und "Romanzen, Balladen, Legenden."
Als dann Herder die Aufmerksamkeit mehr auf die spanische Dichtung gelenkt
hatte, bevorzugte man wieder den Namen Romanze, selbst bei Stoffen, für
die Bürger ohne Zweifel den Namen Ballade verlangt Hütte. A. W. von
Schlegel nennt sogar das im Bünkelsängerton verfaßte Gedicht "Vom Raube
der Sabinerinnen" (Boeckings Ausgabe II, 248), das er selbst als Lied eines
"Bänkelsängers" hinstellt, Ballade, während er sür alle seine übrigen episch-
lyrischen Gedichte die Bezeichnung Romanze vorzieht. Er hat also den Begriff
der Bürgerschen Ballade und der Schiebelerschen mythologisirenden Romanze
geradezu umgekehrt: die Romanze gilt ihm als das edlere, die Ballade als
das komische, possenhaft übertriebne Jahrmarktsgedicht.

Aus alledem ergiebt sich die Schlußfolgerung leicht. Jeder wird gern
zugeben, daß sich die düstere englische Ballade stark unterscheidet von der
Hellem spanischen Romanze, obgleich beide der gleichen Dichtungsgattung an¬
gehören. Jedes Volk hat eben dieselbe Dichtungsart nach seinem Charakter
gestaltet. Aber unsre Dichter sind ja nicht einfach bei ihren Vorbildern stehen
geblieben; auch die deutschen Balladen und Romanzen sind, wie es in der
Natur der Sache lag, eigentümlich gestaltet worden. Darum kann auch nur
das Verhalten unsrer eignen Dichter die Entscheidung in dem hier behandelten
Streit abgeben, wie sehr sich anch Echtermeyer dagegen Strundt. Da nun
die englische Ballade und die spanische Romanze derselben Dichtungsgattung
zuzuweisen sind, so konnte es gar nicht ausbleiben, daß unsre Dichter in die
Willkür verfielen, die eben geschildert ist. Zuerst kannte man nur die Romanze,
nicht die Ballade, dann gingen beide neben einander her, zuletzt kehrte man
wieder fast ausschließlich zu der Bezeichnung "Romanze" zurück. Keinem
unsrer Dichter aber seit Gleim hat eine klare Unterscheidung von Ballade und
Romanze vorgeschwebt, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich war.
Es bleibt also wohl nichts weiter übrig, als die in den Poetiken versuchte
Unterscheidung der beiden Begriffe aufzugeben.




Ballade und Romanze

Auch in der folgenden Zeit, als sich viele Dichter, angeregt durch Schiller
und Goethe, der lyrisch-epischen Dichtung zuwandten, findet man dieselbe
Willkür. Uhland und Schwab zeigen ihre Unsicherheit schon durch die ge¬
wählten Titel „Balladen und Romanzen" und „Romanzen, Balladen, Legenden."
Als dann Herder die Aufmerksamkeit mehr auf die spanische Dichtung gelenkt
hatte, bevorzugte man wieder den Namen Romanze, selbst bei Stoffen, für
die Bürger ohne Zweifel den Namen Ballade verlangt Hütte. A. W. von
Schlegel nennt sogar das im Bünkelsängerton verfaßte Gedicht „Vom Raube
der Sabinerinnen" (Boeckings Ausgabe II, 248), das er selbst als Lied eines
„Bänkelsängers" hinstellt, Ballade, während er sür alle seine übrigen episch-
lyrischen Gedichte die Bezeichnung Romanze vorzieht. Er hat also den Begriff
der Bürgerschen Ballade und der Schiebelerschen mythologisirenden Romanze
geradezu umgekehrt: die Romanze gilt ihm als das edlere, die Ballade als
das komische, possenhaft übertriebne Jahrmarktsgedicht.

Aus alledem ergiebt sich die Schlußfolgerung leicht. Jeder wird gern
zugeben, daß sich die düstere englische Ballade stark unterscheidet von der
Hellem spanischen Romanze, obgleich beide der gleichen Dichtungsgattung an¬
gehören. Jedes Volk hat eben dieselbe Dichtungsart nach seinem Charakter
gestaltet. Aber unsre Dichter sind ja nicht einfach bei ihren Vorbildern stehen
geblieben; auch die deutschen Balladen und Romanzen sind, wie es in der
Natur der Sache lag, eigentümlich gestaltet worden. Darum kann auch nur
das Verhalten unsrer eignen Dichter die Entscheidung in dem hier behandelten
Streit abgeben, wie sehr sich anch Echtermeyer dagegen Strundt. Da nun
die englische Ballade und die spanische Romanze derselben Dichtungsgattung
zuzuweisen sind, so konnte es gar nicht ausbleiben, daß unsre Dichter in die
Willkür verfielen, die eben geschildert ist. Zuerst kannte man nur die Romanze,
nicht die Ballade, dann gingen beide neben einander her, zuletzt kehrte man
wieder fast ausschließlich zu der Bezeichnung „Romanze" zurück. Keinem
unsrer Dichter aber seit Gleim hat eine klare Unterscheidung von Ballade und
Romanze vorgeschwebt, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich war.
Es bleibt also wohl nichts weiter übrig, als die in den Poetiken versuchte
Unterscheidung der beiden Begriffe aufzugeben.




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[0524] Ballade und Romanze Auch in der folgenden Zeit, als sich viele Dichter, angeregt durch Schiller und Goethe, der lyrisch-epischen Dichtung zuwandten, findet man dieselbe Willkür. Uhland und Schwab zeigen ihre Unsicherheit schon durch die ge¬ wählten Titel „Balladen und Romanzen" und „Romanzen, Balladen, Legenden." Als dann Herder die Aufmerksamkeit mehr auf die spanische Dichtung gelenkt hatte, bevorzugte man wieder den Namen Romanze, selbst bei Stoffen, für die Bürger ohne Zweifel den Namen Ballade verlangt Hütte. A. W. von Schlegel nennt sogar das im Bünkelsängerton verfaßte Gedicht „Vom Raube der Sabinerinnen" (Boeckings Ausgabe II, 248), das er selbst als Lied eines „Bänkelsängers" hinstellt, Ballade, während er sür alle seine übrigen episch- lyrischen Gedichte die Bezeichnung Romanze vorzieht. Er hat also den Begriff der Bürgerschen Ballade und der Schiebelerschen mythologisirenden Romanze geradezu umgekehrt: die Romanze gilt ihm als das edlere, die Ballade als das komische, possenhaft übertriebne Jahrmarktsgedicht. Aus alledem ergiebt sich die Schlußfolgerung leicht. Jeder wird gern zugeben, daß sich die düstere englische Ballade stark unterscheidet von der Hellem spanischen Romanze, obgleich beide der gleichen Dichtungsgattung an¬ gehören. Jedes Volk hat eben dieselbe Dichtungsart nach seinem Charakter gestaltet. Aber unsre Dichter sind ja nicht einfach bei ihren Vorbildern stehen geblieben; auch die deutschen Balladen und Romanzen sind, wie es in der Natur der Sache lag, eigentümlich gestaltet worden. Darum kann auch nur das Verhalten unsrer eignen Dichter die Entscheidung in dem hier behandelten Streit abgeben, wie sehr sich anch Echtermeyer dagegen Strundt. Da nun die englische Ballade und die spanische Romanze derselben Dichtungsgattung zuzuweisen sind, so konnte es gar nicht ausbleiben, daß unsre Dichter in die Willkür verfielen, die eben geschildert ist. Zuerst kannte man nur die Romanze, nicht die Ballade, dann gingen beide neben einander her, zuletzt kehrte man wieder fast ausschließlich zu der Bezeichnung „Romanze" zurück. Keinem unsrer Dichter aber seit Gleim hat eine klare Unterscheidung von Ballade und Romanze vorgeschwebt, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich war. Es bleibt also wohl nichts weiter übrig, als die in den Poetiken versuchte Unterscheidung der beiden Begriffe aufzugeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/524>, abgerufen am 01.09.2024.