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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

Wir hervorgehoben, daß sich Liebe und Gerechtigkeit sowohl unter einander
als mit der Thatkraft oft schlecht vertragen, und daß diese auch nicht selten
mit der dritten der sittlichen Ideen in Konflikt gerät, indem Großes oft nur ge¬
lingt, wenn der Handelnde von starken Leidenschaften erfüllt und fortgerissen
wird. So entstehen die Haupttypen des liebevollen, des gerechten, des sich
selbst beherrschenden und sittenreinen, des thatkräftigen, mit reichen Gaben
weithin wirkenden Menschen in unzähligen Untertypen, und ob ein harmonischer
Mensch, der alle diese Typen in sich vereinigte, möglich sei, das ist sehr die
Frage; die Geschichte kennt kein Beispiel. Die großen Männer tragen alle
den letzten Typus; die Weltgeschichte kennt keinen, der nicht vielfach die Liebe
oder die Gerechtigkeit oder die Reinheit oder alle diese Tugenden verletzt
hätte. Sollen wir nun, wie das gewöhnlich geschieht, nur einen Typus gelten
lassen, etwa den des liebevollen, oder den des gerechten, oder den des reinen
Menschen, und darnach die Menschheit scheiden in Sittliche und Unsittliche?
Sollen wir das gute Weiblein, das nie etwas sehr arges begangen hat, weil
sein Geist, sein Wille und sein Vermögen zu beschränkt dazu waren, in die
Glorie am Throne Gottes versetzen, Alexander den Großen, Cäsar, Karl
den Großen, Luther, Friedrich den Großen, Goethe, Bismarck, die alle
mit einander beim gewöhnlichen Sittenrichter so manches auf dem Kerbholz
haben, in den stinkenden Pfuhl zu Luzifern verweisen? Selbst Napoleon, bei
dem die rücksichtslose Selbstsucht am unverhülltesten hervortritt, einfach als
einen unmoralischen Menschen abzuthun, wird einem nicht leicht, wenn mau sich
die ungeheure Größe dieser Persönlichkeit vorstellt, gar nicht zu gedenken,
wie notwendig für Europa seine welterschütternde Thätigkeit gewesen ist, und
welchen Segen sie zurückgelassen hat. Die Herbartische Ansicht überhebt uns
der Verlegenheiten, die aus der Einteilung der Menschen in moralische und
unmoralische entspringen; sie gestattet, ja sie fordert neben der Einteilung in
Menschen von größerer und geringerer sittlicher Kraft auch die in verschiedne
Arten, wobei es als selbstverständlich anerkannt wird, daß die Moralischen
der einen Art in andrer Beziehung unmoralisch fein können. Völlig un¬
moralisch, sittlich böse würde der Teufel sein, wenn es einen gäbe, ein Wesen,
dessen Lebenszweck es ist, jedes Glück und jede vernünftige Ordnung zu zer¬
stören und alle moralischen Empfindungen tötlich zu verletzen und dadurch
sich selbst zu peinigen. Die ganz verkommnen Menschen sind als geistige
Krüppel anzusehen, die in der sittlichen Welt nicht zählen.

Also die Sittlichkeit steht für sich fest und ruht auf ihrer eignen natür¬
lichen Grundlage. Was nun den Einfluß der Religion, namentlich des Christen¬
tums, auf sie betrifft, so ist zuzugeben, daß die heroischen Tugenden, zu denen
der religiöse Glaube die Kraft verleiht, aufgewogen werden durch die Unthaten,
die in seinem Namen verübt werden, und daß er die Gewissen ebenso oft irre
leitet als aufklärt und ans den rechten Weg weist. Freilich sind die schlimmen


Atheismus und Lthik

Wir hervorgehoben, daß sich Liebe und Gerechtigkeit sowohl unter einander
als mit der Thatkraft oft schlecht vertragen, und daß diese auch nicht selten
mit der dritten der sittlichen Ideen in Konflikt gerät, indem Großes oft nur ge¬
lingt, wenn der Handelnde von starken Leidenschaften erfüllt und fortgerissen
wird. So entstehen die Haupttypen des liebevollen, des gerechten, des sich
selbst beherrschenden und sittenreinen, des thatkräftigen, mit reichen Gaben
weithin wirkenden Menschen in unzähligen Untertypen, und ob ein harmonischer
Mensch, der alle diese Typen in sich vereinigte, möglich sei, das ist sehr die
Frage; die Geschichte kennt kein Beispiel. Die großen Männer tragen alle
den letzten Typus; die Weltgeschichte kennt keinen, der nicht vielfach die Liebe
oder die Gerechtigkeit oder die Reinheit oder alle diese Tugenden verletzt
hätte. Sollen wir nun, wie das gewöhnlich geschieht, nur einen Typus gelten
lassen, etwa den des liebevollen, oder den des gerechten, oder den des reinen
Menschen, und darnach die Menschheit scheiden in Sittliche und Unsittliche?
Sollen wir das gute Weiblein, das nie etwas sehr arges begangen hat, weil
sein Geist, sein Wille und sein Vermögen zu beschränkt dazu waren, in die
Glorie am Throne Gottes versetzen, Alexander den Großen, Cäsar, Karl
den Großen, Luther, Friedrich den Großen, Goethe, Bismarck, die alle
mit einander beim gewöhnlichen Sittenrichter so manches auf dem Kerbholz
haben, in den stinkenden Pfuhl zu Luzifern verweisen? Selbst Napoleon, bei
dem die rücksichtslose Selbstsucht am unverhülltesten hervortritt, einfach als
einen unmoralischen Menschen abzuthun, wird einem nicht leicht, wenn mau sich
die ungeheure Größe dieser Persönlichkeit vorstellt, gar nicht zu gedenken,
wie notwendig für Europa seine welterschütternde Thätigkeit gewesen ist, und
welchen Segen sie zurückgelassen hat. Die Herbartische Ansicht überhebt uns
der Verlegenheiten, die aus der Einteilung der Menschen in moralische und
unmoralische entspringen; sie gestattet, ja sie fordert neben der Einteilung in
Menschen von größerer und geringerer sittlicher Kraft auch die in verschiedne
Arten, wobei es als selbstverständlich anerkannt wird, daß die Moralischen
der einen Art in andrer Beziehung unmoralisch fein können. Völlig un¬
moralisch, sittlich böse würde der Teufel sein, wenn es einen gäbe, ein Wesen,
dessen Lebenszweck es ist, jedes Glück und jede vernünftige Ordnung zu zer¬
stören und alle moralischen Empfindungen tötlich zu verletzen und dadurch
sich selbst zu peinigen. Die ganz verkommnen Menschen sind als geistige
Krüppel anzusehen, die in der sittlichen Welt nicht zählen.

Also die Sittlichkeit steht für sich fest und ruht auf ihrer eignen natür¬
lichen Grundlage. Was nun den Einfluß der Religion, namentlich des Christen¬
tums, auf sie betrifft, so ist zuzugeben, daß die heroischen Tugenden, zu denen
der religiöse Glaube die Kraft verleiht, aufgewogen werden durch die Unthaten,
die in seinem Namen verübt werden, und daß er die Gewissen ebenso oft irre
leitet als aufklärt und ans den rechten Weg weist. Freilich sind die schlimmen


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[0507] Atheismus und Lthik Wir hervorgehoben, daß sich Liebe und Gerechtigkeit sowohl unter einander als mit der Thatkraft oft schlecht vertragen, und daß diese auch nicht selten mit der dritten der sittlichen Ideen in Konflikt gerät, indem Großes oft nur ge¬ lingt, wenn der Handelnde von starken Leidenschaften erfüllt und fortgerissen wird. So entstehen die Haupttypen des liebevollen, des gerechten, des sich selbst beherrschenden und sittenreinen, des thatkräftigen, mit reichen Gaben weithin wirkenden Menschen in unzähligen Untertypen, und ob ein harmonischer Mensch, der alle diese Typen in sich vereinigte, möglich sei, das ist sehr die Frage; die Geschichte kennt kein Beispiel. Die großen Männer tragen alle den letzten Typus; die Weltgeschichte kennt keinen, der nicht vielfach die Liebe oder die Gerechtigkeit oder die Reinheit oder alle diese Tugenden verletzt hätte. Sollen wir nun, wie das gewöhnlich geschieht, nur einen Typus gelten lassen, etwa den des liebevollen, oder den des gerechten, oder den des reinen Menschen, und darnach die Menschheit scheiden in Sittliche und Unsittliche? Sollen wir das gute Weiblein, das nie etwas sehr arges begangen hat, weil sein Geist, sein Wille und sein Vermögen zu beschränkt dazu waren, in die Glorie am Throne Gottes versetzen, Alexander den Großen, Cäsar, Karl den Großen, Luther, Friedrich den Großen, Goethe, Bismarck, die alle mit einander beim gewöhnlichen Sittenrichter so manches auf dem Kerbholz haben, in den stinkenden Pfuhl zu Luzifern verweisen? Selbst Napoleon, bei dem die rücksichtslose Selbstsucht am unverhülltesten hervortritt, einfach als einen unmoralischen Menschen abzuthun, wird einem nicht leicht, wenn mau sich die ungeheure Größe dieser Persönlichkeit vorstellt, gar nicht zu gedenken, wie notwendig für Europa seine welterschütternde Thätigkeit gewesen ist, und welchen Segen sie zurückgelassen hat. Die Herbartische Ansicht überhebt uns der Verlegenheiten, die aus der Einteilung der Menschen in moralische und unmoralische entspringen; sie gestattet, ja sie fordert neben der Einteilung in Menschen von größerer und geringerer sittlicher Kraft auch die in verschiedne Arten, wobei es als selbstverständlich anerkannt wird, daß die Moralischen der einen Art in andrer Beziehung unmoralisch fein können. Völlig un¬ moralisch, sittlich böse würde der Teufel sein, wenn es einen gäbe, ein Wesen, dessen Lebenszweck es ist, jedes Glück und jede vernünftige Ordnung zu zer¬ stören und alle moralischen Empfindungen tötlich zu verletzen und dadurch sich selbst zu peinigen. Die ganz verkommnen Menschen sind als geistige Krüppel anzusehen, die in der sittlichen Welt nicht zählen. Also die Sittlichkeit steht für sich fest und ruht auf ihrer eignen natür¬ lichen Grundlage. Was nun den Einfluß der Religion, namentlich des Christen¬ tums, auf sie betrifft, so ist zuzugeben, daß die heroischen Tugenden, zu denen der religiöse Glaube die Kraft verleiht, aufgewogen werden durch die Unthaten, die in seinem Namen verübt werden, und daß er die Gewissen ebenso oft irre leitet als aufklärt und ans den rechten Weg weist. Freilich sind die schlimmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/507>, abgerufen am 01.09.2024.