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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

dafür gesorgt, daß dieser von ciußen in ihn hineingepflanzt werde. Der Be¬
stand jeder Gesellschaft beruht auf einem Verhalten ihrer Mitglieder, das
wenigstens in einigen Stücken den Anforderungen der sittlichen Natur des
Menschen entspricht. Das nun, was jede Gesellschaft für notwendig zu ihrem
eignen Bestände erachtet, prägt sie ihrer heranwachsenden Jugend als Pflicht
ein und bedroht die Verletzung dieser Pflicht mit den schrecklichsten Strafen,
unter denen die allgemeine Verachtung, die den Verächter der Volkssitte trifft,
und seine Ausschließung aus der Gesellschaft die schwerste ist. Weit entfernt
davon ist die Volkssitte, sich mit den Forderungen der Sittlichkeit vollständig
zu decken; manchmal sind einzelne ihrer Forderungen geradezu unsittlich, und
manchmal legt sie ans eine Modethorheit, auf eine religiöse Zeremonie, auf
einen lächerlichen Brauch größres Gewicht als auf die heiligsten Pflichten. Auch
kann dem Pflichtgefühl, das durch Strafen und Strafandrohungen erzeugt
wird, kein besonders hoher sittlicher Wert zugesprochen werden; es steht für
sich allein nicht höher als das Pflichtgefühl eines mit dem Stachelhalsbande
dressirten Jagdhundes. Aber da die Volkssitte stets wenigstens in einigen
Stücken mit den Forderungen des Sittengesetzes übereinstimmt, und da doch
in den meisten Menschen mit diesem angcdrillten Pflichtgefühl einige edlere,
wirklich moralische Empfindungen verschmelzen, so wirkt die Volkssitte, der
sich geistliche und weltliche Behörden als Organe darbieten, im ganzen heilsam.

Da die Volkssitte nach dem Bedürfnis wechselt, so wechseln mit ihr auch
die sittlichen Vorstellungen und Ideale und die Ansichten von den Pflichten,
was uns aber nicht irre machen darf an der UnVeränderlichkeit der sittlichen
Ideen. Die Wandelbarkeit der sittlichen Erscheinungen ist ganz abgesehen vom
Einfluße der Volkssitte auch schon durch das Wesen der Sittlichkeit selbst ge¬
geben. Sie stammt einerseits aus dem Wandel der Anforderungen, die von
wechselnden Umständen an den Handelnden gestellt werden. Das Gewissen
verpflichtet uns zwar, dem Nächsten wohlzuwollen, aber es sagt uus nicht das
geringste darüber, auf welche Weise wir dieses Wohlwollen äußern sollen, ob
durch Liebkosungen, oder durch freundliche Worte, oder durch ein Geldgeschenk,
oder durch eine gute Mahlzeit, oder durch verständige Unterweisung, oder
durch eine Tracht Prügel. Bald mag das eine, bald das andre das beste
sein, aber was von dem vielen möglichen in jedem Augenblicke passend sei,
darüber entscheidet nicht das Gewissen, sondern der Verstand, und dessen Ent¬
scheidung hängt von dem Bildungsgrade, vom Temperament, von eingesognen
Vorurteilen und noch von vielen andern Umständen ab, kann daher in dem¬
selben Falle bei verschiednen Personen sehr verschieden ausfallen. Der alt¬
modische Christ hält es für ein gutes Werk, einem armen Kranken ein
Flöschlein Wein zur Stärkung zu schenken, der moderne Temperenzler hält
das für eine schwere Sünde. Andrerseits beruht die Verschiedenheit der sitt¬
lichen Erscheinungen auf der Wahrheit der sittlichen Ideen. Wiederholt haben


Atheismus und Lthik

dafür gesorgt, daß dieser von ciußen in ihn hineingepflanzt werde. Der Be¬
stand jeder Gesellschaft beruht auf einem Verhalten ihrer Mitglieder, das
wenigstens in einigen Stücken den Anforderungen der sittlichen Natur des
Menschen entspricht. Das nun, was jede Gesellschaft für notwendig zu ihrem
eignen Bestände erachtet, prägt sie ihrer heranwachsenden Jugend als Pflicht
ein und bedroht die Verletzung dieser Pflicht mit den schrecklichsten Strafen,
unter denen die allgemeine Verachtung, die den Verächter der Volkssitte trifft,
und seine Ausschließung aus der Gesellschaft die schwerste ist. Weit entfernt
davon ist die Volkssitte, sich mit den Forderungen der Sittlichkeit vollständig
zu decken; manchmal sind einzelne ihrer Forderungen geradezu unsittlich, und
manchmal legt sie ans eine Modethorheit, auf eine religiöse Zeremonie, auf
einen lächerlichen Brauch größres Gewicht als auf die heiligsten Pflichten. Auch
kann dem Pflichtgefühl, das durch Strafen und Strafandrohungen erzeugt
wird, kein besonders hoher sittlicher Wert zugesprochen werden; es steht für
sich allein nicht höher als das Pflichtgefühl eines mit dem Stachelhalsbande
dressirten Jagdhundes. Aber da die Volkssitte stets wenigstens in einigen
Stücken mit den Forderungen des Sittengesetzes übereinstimmt, und da doch
in den meisten Menschen mit diesem angcdrillten Pflichtgefühl einige edlere,
wirklich moralische Empfindungen verschmelzen, so wirkt die Volkssitte, der
sich geistliche und weltliche Behörden als Organe darbieten, im ganzen heilsam.

Da die Volkssitte nach dem Bedürfnis wechselt, so wechseln mit ihr auch
die sittlichen Vorstellungen und Ideale und die Ansichten von den Pflichten,
was uns aber nicht irre machen darf an der UnVeränderlichkeit der sittlichen
Ideen. Die Wandelbarkeit der sittlichen Erscheinungen ist ganz abgesehen vom
Einfluße der Volkssitte auch schon durch das Wesen der Sittlichkeit selbst ge¬
geben. Sie stammt einerseits aus dem Wandel der Anforderungen, die von
wechselnden Umständen an den Handelnden gestellt werden. Das Gewissen
verpflichtet uns zwar, dem Nächsten wohlzuwollen, aber es sagt uus nicht das
geringste darüber, auf welche Weise wir dieses Wohlwollen äußern sollen, ob
durch Liebkosungen, oder durch freundliche Worte, oder durch ein Geldgeschenk,
oder durch eine gute Mahlzeit, oder durch verständige Unterweisung, oder
durch eine Tracht Prügel. Bald mag das eine, bald das andre das beste
sein, aber was von dem vielen möglichen in jedem Augenblicke passend sei,
darüber entscheidet nicht das Gewissen, sondern der Verstand, und dessen Ent¬
scheidung hängt von dem Bildungsgrade, vom Temperament, von eingesognen
Vorurteilen und noch von vielen andern Umständen ab, kann daher in dem¬
selben Falle bei verschiednen Personen sehr verschieden ausfallen. Der alt¬
modische Christ hält es für ein gutes Werk, einem armen Kranken ein
Flöschlein Wein zur Stärkung zu schenken, der moderne Temperenzler hält
das für eine schwere Sünde. Andrerseits beruht die Verschiedenheit der sitt¬
lichen Erscheinungen auf der Wahrheit der sittlichen Ideen. Wiederholt haben


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[0506] Atheismus und Lthik dafür gesorgt, daß dieser von ciußen in ihn hineingepflanzt werde. Der Be¬ stand jeder Gesellschaft beruht auf einem Verhalten ihrer Mitglieder, das wenigstens in einigen Stücken den Anforderungen der sittlichen Natur des Menschen entspricht. Das nun, was jede Gesellschaft für notwendig zu ihrem eignen Bestände erachtet, prägt sie ihrer heranwachsenden Jugend als Pflicht ein und bedroht die Verletzung dieser Pflicht mit den schrecklichsten Strafen, unter denen die allgemeine Verachtung, die den Verächter der Volkssitte trifft, und seine Ausschließung aus der Gesellschaft die schwerste ist. Weit entfernt davon ist die Volkssitte, sich mit den Forderungen der Sittlichkeit vollständig zu decken; manchmal sind einzelne ihrer Forderungen geradezu unsittlich, und manchmal legt sie ans eine Modethorheit, auf eine religiöse Zeremonie, auf einen lächerlichen Brauch größres Gewicht als auf die heiligsten Pflichten. Auch kann dem Pflichtgefühl, das durch Strafen und Strafandrohungen erzeugt wird, kein besonders hoher sittlicher Wert zugesprochen werden; es steht für sich allein nicht höher als das Pflichtgefühl eines mit dem Stachelhalsbande dressirten Jagdhundes. Aber da die Volkssitte stets wenigstens in einigen Stücken mit den Forderungen des Sittengesetzes übereinstimmt, und da doch in den meisten Menschen mit diesem angcdrillten Pflichtgefühl einige edlere, wirklich moralische Empfindungen verschmelzen, so wirkt die Volkssitte, der sich geistliche und weltliche Behörden als Organe darbieten, im ganzen heilsam. Da die Volkssitte nach dem Bedürfnis wechselt, so wechseln mit ihr auch die sittlichen Vorstellungen und Ideale und die Ansichten von den Pflichten, was uns aber nicht irre machen darf an der UnVeränderlichkeit der sittlichen Ideen. Die Wandelbarkeit der sittlichen Erscheinungen ist ganz abgesehen vom Einfluße der Volkssitte auch schon durch das Wesen der Sittlichkeit selbst ge¬ geben. Sie stammt einerseits aus dem Wandel der Anforderungen, die von wechselnden Umständen an den Handelnden gestellt werden. Das Gewissen verpflichtet uns zwar, dem Nächsten wohlzuwollen, aber es sagt uus nicht das geringste darüber, auf welche Weise wir dieses Wohlwollen äußern sollen, ob durch Liebkosungen, oder durch freundliche Worte, oder durch ein Geldgeschenk, oder durch eine gute Mahlzeit, oder durch verständige Unterweisung, oder durch eine Tracht Prügel. Bald mag das eine, bald das andre das beste sein, aber was von dem vielen möglichen in jedem Augenblicke passend sei, darüber entscheidet nicht das Gewissen, sondern der Verstand, und dessen Ent¬ scheidung hängt von dem Bildungsgrade, vom Temperament, von eingesognen Vorurteilen und noch von vielen andern Umständen ab, kann daher in dem¬ selben Falle bei verschiednen Personen sehr verschieden ausfallen. Der alt¬ modische Christ hält es für ein gutes Werk, einem armen Kranken ein Flöschlein Wein zur Stärkung zu schenken, der moderne Temperenzler hält das für eine schwere Sünde. Andrerseits beruht die Verschiedenheit der sitt¬ lichen Erscheinungen auf der Wahrheit der sittlichen Ideen. Wiederholt haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/506>, abgerufen am 01.09.2024.