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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

Kultur verhindert würde. Dagegen ist eine höhere Kultur, in der weder zwischen
schön und häßlich noch zwischen Tugend und Laster unterschieden würde, nicht
denkbar. Die ästhetischen und die ethischen Werturteile haben das gemein,
daß sie sich unmittelbar nicht auf Dinge, sondern auf Verhältnisse beziehen.
Die ästhetischen ans geometrische, arithmetische, dynamische Verhältnisse (zu
diesen gehören die Stärkeverhältnisse der Töne und der Lichtstrahlen), wie am
Kunstwerke deutlich wird, wo uns das Ding, z. B. an einem Gemälde die
Leinwand und die Farbenschicht, ganz gleichgiltig ist. Bei den ethischen
Urteilen ist der Gegenstand nicht sowohl, wie es Herbart nennt, ein Verhält¬
nis, als ein Verhalten des Menschen zur Außenwelt, woraus sich allerdings
stets Verhältnisse zu ihr ergeben. Die ethischen Urteile des Menschen über
sein und seiner Brüder Verhalten zur Außenwelt entspringen eigentümlichen
Empfindungen, die wir eben so wenig wie die Denkgesetze, den Kausalitäts¬
trieb und den Schönheitssinn aus irgend etwas andern: ableiten können und
als die ein für allemal gegebne, unerschütterlich feststehende Grundlage der
Sittlichkeit und damit auch der Sittenlehre ansehen dürfen, und da es an jeder
andern Grundlage fehlt, ansehen müssen. Diese Empfindungen sind: Wohl¬
wollen oder Sympathie in vielfacher Gestalt, Gerechtigkeitsgefühl, das Kraft¬
gefühl des die Triebe beherrschenden Geistes, und der Thätigkeitsdrang oder
vielmehr das Wohlgefühl bei befriedigten Thütigkeitsdrange. Die Vorstellung
eines diese Empfindungen in angenehmer Weise erregenden Verhaltens ergiebt
die Ideen des Wohlwollens oder der Liebe, der Gerechtigkeit, der sittlichen
Freiheit und der Vollkommenheit oder Fülle; diese letzte, indem der Thätig¬
keitsdrang eines gesunden und begabten Menschen alle in der Menschennatur
liegende Anlagen zur Entfaltung bringt. Die Verwirklichung der sittlichen
Ideen ist der Inhalt des bei Kant ganz leeren kategorischen Imperativs. Ein
Imperativ ist überhaupt ursprünglich gar nicht vorhanden. Der Mensch
empfindet an seinem und der Brüder Verhalten zur Außenwelt bald Wohl¬
gefallen, bald Mißfallen. Zum Urteil wird die Empfindung, indem sie mit
den Worten: das gefällt oder das mißfällt mir! ausgesprochen wird. Das
ausgesprochne Mißfallen ist eine Verurteilung, und die Selbstverurteilung,
zu der sich der Mensch manchmal gezwungen sieht, thut weh. Die Schmerz-
empfindung bei solcher Selbstverurteilung nennen wir das böse Gewissen
(während es der gute und nützliche Schmerz über das begangne Böse ist),
und die Angst vor der Gefahr, uns diesen Schmerz zuzuziehen, nennen wir
das mahnende Gewissen. Die Erscheinungen, die das Leben dem Menschen in
desto reicherer Fülle darbietet, je länger es dauert und je höher die Kultur
steigt, vergleicht er mit einander, und die angenehmsten, auf deuen sein Blick
am liebsten weilt, werden ihm zu ästhetischen und zu sittlichen Idealen. In
ihnen namentlich zeigt es sich, wie eng beide Gebiete mit einander verwandt
sind; in dem Wohlgefallen an einer edeln oder an einer großen Persönlichkeit


Atheismus und Lthik

Kultur verhindert würde. Dagegen ist eine höhere Kultur, in der weder zwischen
schön und häßlich noch zwischen Tugend und Laster unterschieden würde, nicht
denkbar. Die ästhetischen und die ethischen Werturteile haben das gemein,
daß sie sich unmittelbar nicht auf Dinge, sondern auf Verhältnisse beziehen.
Die ästhetischen ans geometrische, arithmetische, dynamische Verhältnisse (zu
diesen gehören die Stärkeverhältnisse der Töne und der Lichtstrahlen), wie am
Kunstwerke deutlich wird, wo uns das Ding, z. B. an einem Gemälde die
Leinwand und die Farbenschicht, ganz gleichgiltig ist. Bei den ethischen
Urteilen ist der Gegenstand nicht sowohl, wie es Herbart nennt, ein Verhält¬
nis, als ein Verhalten des Menschen zur Außenwelt, woraus sich allerdings
stets Verhältnisse zu ihr ergeben. Die ethischen Urteile des Menschen über
sein und seiner Brüder Verhalten zur Außenwelt entspringen eigentümlichen
Empfindungen, die wir eben so wenig wie die Denkgesetze, den Kausalitäts¬
trieb und den Schönheitssinn aus irgend etwas andern: ableiten können und
als die ein für allemal gegebne, unerschütterlich feststehende Grundlage der
Sittlichkeit und damit auch der Sittenlehre ansehen dürfen, und da es an jeder
andern Grundlage fehlt, ansehen müssen. Diese Empfindungen sind: Wohl¬
wollen oder Sympathie in vielfacher Gestalt, Gerechtigkeitsgefühl, das Kraft¬
gefühl des die Triebe beherrschenden Geistes, und der Thätigkeitsdrang oder
vielmehr das Wohlgefühl bei befriedigten Thütigkeitsdrange. Die Vorstellung
eines diese Empfindungen in angenehmer Weise erregenden Verhaltens ergiebt
die Ideen des Wohlwollens oder der Liebe, der Gerechtigkeit, der sittlichen
Freiheit und der Vollkommenheit oder Fülle; diese letzte, indem der Thätig¬
keitsdrang eines gesunden und begabten Menschen alle in der Menschennatur
liegende Anlagen zur Entfaltung bringt. Die Verwirklichung der sittlichen
Ideen ist der Inhalt des bei Kant ganz leeren kategorischen Imperativs. Ein
Imperativ ist überhaupt ursprünglich gar nicht vorhanden. Der Mensch
empfindet an seinem und der Brüder Verhalten zur Außenwelt bald Wohl¬
gefallen, bald Mißfallen. Zum Urteil wird die Empfindung, indem sie mit
den Worten: das gefällt oder das mißfällt mir! ausgesprochen wird. Das
ausgesprochne Mißfallen ist eine Verurteilung, und die Selbstverurteilung,
zu der sich der Mensch manchmal gezwungen sieht, thut weh. Die Schmerz-
empfindung bei solcher Selbstverurteilung nennen wir das böse Gewissen
(während es der gute und nützliche Schmerz über das begangne Böse ist),
und die Angst vor der Gefahr, uns diesen Schmerz zuzuziehen, nennen wir
das mahnende Gewissen. Die Erscheinungen, die das Leben dem Menschen in
desto reicherer Fülle darbietet, je länger es dauert und je höher die Kultur
steigt, vergleicht er mit einander, und die angenehmsten, auf deuen sein Blick
am liebsten weilt, werden ihm zu ästhetischen und zu sittlichen Idealen. In
ihnen namentlich zeigt es sich, wie eng beide Gebiete mit einander verwandt
sind; in dem Wohlgefallen an einer edeln oder an einer großen Persönlichkeit


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[0504] Atheismus und Lthik Kultur verhindert würde. Dagegen ist eine höhere Kultur, in der weder zwischen schön und häßlich noch zwischen Tugend und Laster unterschieden würde, nicht denkbar. Die ästhetischen und die ethischen Werturteile haben das gemein, daß sie sich unmittelbar nicht auf Dinge, sondern auf Verhältnisse beziehen. Die ästhetischen ans geometrische, arithmetische, dynamische Verhältnisse (zu diesen gehören die Stärkeverhältnisse der Töne und der Lichtstrahlen), wie am Kunstwerke deutlich wird, wo uns das Ding, z. B. an einem Gemälde die Leinwand und die Farbenschicht, ganz gleichgiltig ist. Bei den ethischen Urteilen ist der Gegenstand nicht sowohl, wie es Herbart nennt, ein Verhält¬ nis, als ein Verhalten des Menschen zur Außenwelt, woraus sich allerdings stets Verhältnisse zu ihr ergeben. Die ethischen Urteile des Menschen über sein und seiner Brüder Verhalten zur Außenwelt entspringen eigentümlichen Empfindungen, die wir eben so wenig wie die Denkgesetze, den Kausalitäts¬ trieb und den Schönheitssinn aus irgend etwas andern: ableiten können und als die ein für allemal gegebne, unerschütterlich feststehende Grundlage der Sittlichkeit und damit auch der Sittenlehre ansehen dürfen, und da es an jeder andern Grundlage fehlt, ansehen müssen. Diese Empfindungen sind: Wohl¬ wollen oder Sympathie in vielfacher Gestalt, Gerechtigkeitsgefühl, das Kraft¬ gefühl des die Triebe beherrschenden Geistes, und der Thätigkeitsdrang oder vielmehr das Wohlgefühl bei befriedigten Thütigkeitsdrange. Die Vorstellung eines diese Empfindungen in angenehmer Weise erregenden Verhaltens ergiebt die Ideen des Wohlwollens oder der Liebe, der Gerechtigkeit, der sittlichen Freiheit und der Vollkommenheit oder Fülle; diese letzte, indem der Thätig¬ keitsdrang eines gesunden und begabten Menschen alle in der Menschennatur liegende Anlagen zur Entfaltung bringt. Die Verwirklichung der sittlichen Ideen ist der Inhalt des bei Kant ganz leeren kategorischen Imperativs. Ein Imperativ ist überhaupt ursprünglich gar nicht vorhanden. Der Mensch empfindet an seinem und der Brüder Verhalten zur Außenwelt bald Wohl¬ gefallen, bald Mißfallen. Zum Urteil wird die Empfindung, indem sie mit den Worten: das gefällt oder das mißfällt mir! ausgesprochen wird. Das ausgesprochne Mißfallen ist eine Verurteilung, und die Selbstverurteilung, zu der sich der Mensch manchmal gezwungen sieht, thut weh. Die Schmerz- empfindung bei solcher Selbstverurteilung nennen wir das böse Gewissen (während es der gute und nützliche Schmerz über das begangne Böse ist), und die Angst vor der Gefahr, uns diesen Schmerz zuzuziehen, nennen wir das mahnende Gewissen. Die Erscheinungen, die das Leben dem Menschen in desto reicherer Fülle darbietet, je länger es dauert und je höher die Kultur steigt, vergleicht er mit einander, und die angenehmsten, auf deuen sein Blick am liebsten weilt, werden ihm zu ästhetischen und zu sittlichen Idealen. In ihnen namentlich zeigt es sich, wie eng beide Gebiete mit einander verwandt sind; in dem Wohlgefallen an einer edeln oder an einer großen Persönlichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/504>, abgerufen am 01.09.2024.