Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Atheismus und Lthik

achtzehuhuudertjährigem Bestehen des Christentums solcher Philosophen wie
Kant und Comte bedurft hat, die Christenheit an die selbstverständliche That¬
sache zu erinnern, daß es gar keinen Glauben geben könnte, wenn die Gegen¬
stände des Glaubens beweisbar wären. Natürlich ist damit auch der Atheis¬
mus für wissenschaftlich zulässig erklärt. Da der Glaube aus Gemütszuständen,
aus Empfindungen hervorgeht, so hängt er bei jedem einzelnen davon ab, ob
dieser die fraglichen Empfindungen hat oder nicht, und außerdem, da Empfin¬
dungen an sich ansteckend sind und auch durch äußerlich beigebrachte Vor¬
stellungen erzeugt werden können, in sehr hohem Grade von der Umgebung,
in der jeder lebt. Die Wissenschaft hat nichts einzuwenden gegen den Glauben
an eine jenseitige Welt noch gegen den Atheismus; sie hat es nur mit dem
Diesseits zu thun und ist nicht zuständig für die Fage, ob es ein Jenseits
gebe oder nicht. Unser Standpunkt ist also von dem Samsons, der die von Kant
gezogne Grenze nicht achtet und den Atheismus für wissenschaftlich bewiesen hält,
himmelweit verschieden. Trotzdem stimmen wir in drei Punkten mit ihm über¬
ein: daß die Sittlichkeit von der Religion unabhängig ist, und daß es dem¬
nach auch eine von der Theologie unabhägige Sittenlehre giebt, daß die Dienste,
die die Religion der Sittlichkeit leistet, von den Theologen überschützt werden,
und daß es seine Gefahren hat, wenn Kirche und Staatsregierung im Verein
den christlichen Glanben für die einzige Grundlage der Sittlichkeit erklären,
weil sich da die jungen Leute und die Volksmassen leicht einbilden können, sie
wären, wenn sie mit dem christlichen Glauben brechen, zugleich das Sitten¬
gesetz los, was natürlich die sittliche Kraft schwächen würde. Dagegen be¬
streiten wir drei andre Ansichten, die Samson zu beweisen sucht: daß die
Sittenlehre naturwissenschaftlich begründet werden könne, daß der Atheismus
der Sittlichkeit förderlich sei, und daß die Zeitumstände dem Staate die Ein¬
führung eines religionslosen Moralunterrichts in die Schulen nahe legten.

Von der Selbständigkeit der Sittlichkeit kann niemand fester überzeugt
sein als wir. Wir folgen in der Ethik Herbart und halten ihn für den ein¬
zigen Philosophen, der das Wesen der Sittlichkeit und ihre Unabhängigkeit
von den übrigen Gebieten des Seelenlebens klar erkannt und damit eine von
allen andern Zweigen der Wissenschaft unabhängige Ethik möglich gemacht
hat. Er hat die Ethik dahin gestellt, wohin sie gehört, neben die Ästhetik.
Erst dann beginnt sich das Menschendasein vom tierischen zu sondern, wenn
der Mensch Werturteile bildet, die sich nicht unmittelbar auf sein leibliches
Befinden beziehen. Die Dcnkoperationen unterscheiden ihn noch nicht, denn
die einfachsten davon werden auch von den Tieren vollzogen. Auch die religiösen
Empfindungen nicht, denn die ersten, rohesten. sind von der Furcht des Hundes vor
seinem Herrn und der Dankbarkeit für ihn nicht wesentlich verschieden; reinere Vor¬
stellungen vom Göttlichen können sich aus diesen Anfängen entwickeln, aber diese
Entwicklung kann auch ausbleiben, ohne daß dadurch die Entstehung einer höhern


Atheismus und Lthik

achtzehuhuudertjährigem Bestehen des Christentums solcher Philosophen wie
Kant und Comte bedurft hat, die Christenheit an die selbstverständliche That¬
sache zu erinnern, daß es gar keinen Glauben geben könnte, wenn die Gegen¬
stände des Glaubens beweisbar wären. Natürlich ist damit auch der Atheis¬
mus für wissenschaftlich zulässig erklärt. Da der Glaube aus Gemütszuständen,
aus Empfindungen hervorgeht, so hängt er bei jedem einzelnen davon ab, ob
dieser die fraglichen Empfindungen hat oder nicht, und außerdem, da Empfin¬
dungen an sich ansteckend sind und auch durch äußerlich beigebrachte Vor¬
stellungen erzeugt werden können, in sehr hohem Grade von der Umgebung,
in der jeder lebt. Die Wissenschaft hat nichts einzuwenden gegen den Glauben
an eine jenseitige Welt noch gegen den Atheismus; sie hat es nur mit dem
Diesseits zu thun und ist nicht zuständig für die Fage, ob es ein Jenseits
gebe oder nicht. Unser Standpunkt ist also von dem Samsons, der die von Kant
gezogne Grenze nicht achtet und den Atheismus für wissenschaftlich bewiesen hält,
himmelweit verschieden. Trotzdem stimmen wir in drei Punkten mit ihm über¬
ein: daß die Sittlichkeit von der Religion unabhängig ist, und daß es dem¬
nach auch eine von der Theologie unabhägige Sittenlehre giebt, daß die Dienste,
die die Religion der Sittlichkeit leistet, von den Theologen überschützt werden,
und daß es seine Gefahren hat, wenn Kirche und Staatsregierung im Verein
den christlichen Glanben für die einzige Grundlage der Sittlichkeit erklären,
weil sich da die jungen Leute und die Volksmassen leicht einbilden können, sie
wären, wenn sie mit dem christlichen Glauben brechen, zugleich das Sitten¬
gesetz los, was natürlich die sittliche Kraft schwächen würde. Dagegen be¬
streiten wir drei andre Ansichten, die Samson zu beweisen sucht: daß die
Sittenlehre naturwissenschaftlich begründet werden könne, daß der Atheismus
der Sittlichkeit förderlich sei, und daß die Zeitumstände dem Staate die Ein¬
führung eines religionslosen Moralunterrichts in die Schulen nahe legten.

Von der Selbständigkeit der Sittlichkeit kann niemand fester überzeugt
sein als wir. Wir folgen in der Ethik Herbart und halten ihn für den ein¬
zigen Philosophen, der das Wesen der Sittlichkeit und ihre Unabhängigkeit
von den übrigen Gebieten des Seelenlebens klar erkannt und damit eine von
allen andern Zweigen der Wissenschaft unabhängige Ethik möglich gemacht
hat. Er hat die Ethik dahin gestellt, wohin sie gehört, neben die Ästhetik.
Erst dann beginnt sich das Menschendasein vom tierischen zu sondern, wenn
der Mensch Werturteile bildet, die sich nicht unmittelbar auf sein leibliches
Befinden beziehen. Die Dcnkoperationen unterscheiden ihn noch nicht, denn
die einfachsten davon werden auch von den Tieren vollzogen. Auch die religiösen
Empfindungen nicht, denn die ersten, rohesten. sind von der Furcht des Hundes vor
seinem Herrn und der Dankbarkeit für ihn nicht wesentlich verschieden; reinere Vor¬
stellungen vom Göttlichen können sich aus diesen Anfängen entwickeln, aber diese
Entwicklung kann auch ausbleiben, ohne daß dadurch die Entstehung einer höhern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0503" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223445"/>
          <fw type="header" place="top"> Atheismus und Lthik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1424" prev="#ID_1423"> achtzehuhuudertjährigem Bestehen des Christentums solcher Philosophen wie<lb/>
Kant und Comte bedurft hat, die Christenheit an die selbstverständliche That¬<lb/>
sache zu erinnern, daß es gar keinen Glauben geben könnte, wenn die Gegen¬<lb/>
stände des Glaubens beweisbar wären. Natürlich ist damit auch der Atheis¬<lb/>
mus für wissenschaftlich zulässig erklärt. Da der Glaube aus Gemütszuständen,<lb/>
aus Empfindungen hervorgeht, so hängt er bei jedem einzelnen davon ab, ob<lb/>
dieser die fraglichen Empfindungen hat oder nicht, und außerdem, da Empfin¬<lb/>
dungen an sich ansteckend sind und auch durch äußerlich beigebrachte Vor¬<lb/>
stellungen erzeugt werden können, in sehr hohem Grade von der Umgebung,<lb/>
in der jeder lebt. Die Wissenschaft hat nichts einzuwenden gegen den Glauben<lb/>
an eine jenseitige Welt noch gegen den Atheismus; sie hat es nur mit dem<lb/>
Diesseits zu thun und ist nicht zuständig für die Fage, ob es ein Jenseits<lb/>
gebe oder nicht. Unser Standpunkt ist also von dem Samsons, der die von Kant<lb/>
gezogne Grenze nicht achtet und den Atheismus für wissenschaftlich bewiesen hält,<lb/>
himmelweit verschieden. Trotzdem stimmen wir in drei Punkten mit ihm über¬<lb/>
ein: daß die Sittlichkeit von der Religion unabhängig ist, und daß es dem¬<lb/>
nach auch eine von der Theologie unabhägige Sittenlehre giebt, daß die Dienste,<lb/>
die die Religion der Sittlichkeit leistet, von den Theologen überschützt werden,<lb/>
und daß es seine Gefahren hat, wenn Kirche und Staatsregierung im Verein<lb/>
den christlichen Glanben für die einzige Grundlage der Sittlichkeit erklären,<lb/>
weil sich da die jungen Leute und die Volksmassen leicht einbilden können, sie<lb/>
wären, wenn sie mit dem christlichen Glauben brechen, zugleich das Sitten¬<lb/>
gesetz los, was natürlich die sittliche Kraft schwächen würde. Dagegen be¬<lb/>
streiten wir drei andre Ansichten, die Samson zu beweisen sucht: daß die<lb/>
Sittenlehre naturwissenschaftlich begründet werden könne, daß der Atheismus<lb/>
der Sittlichkeit förderlich sei, und daß die Zeitumstände dem Staate die Ein¬<lb/>
führung eines religionslosen Moralunterrichts in die Schulen nahe legten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1425" next="#ID_1426"> Von der Selbständigkeit der Sittlichkeit kann niemand fester überzeugt<lb/>
sein als wir. Wir folgen in der Ethik Herbart und halten ihn für den ein¬<lb/>
zigen Philosophen, der das Wesen der Sittlichkeit und ihre Unabhängigkeit<lb/>
von den übrigen Gebieten des Seelenlebens klar erkannt und damit eine von<lb/>
allen andern Zweigen der Wissenschaft unabhängige Ethik möglich gemacht<lb/>
hat. Er hat die Ethik dahin gestellt, wohin sie gehört, neben die Ästhetik.<lb/>
Erst dann beginnt sich das Menschendasein vom tierischen zu sondern, wenn<lb/>
der Mensch Werturteile bildet, die sich nicht unmittelbar auf sein leibliches<lb/>
Befinden beziehen. Die Dcnkoperationen unterscheiden ihn noch nicht, denn<lb/>
die einfachsten davon werden auch von den Tieren vollzogen. Auch die religiösen<lb/>
Empfindungen nicht, denn die ersten, rohesten. sind von der Furcht des Hundes vor<lb/>
seinem Herrn und der Dankbarkeit für ihn nicht wesentlich verschieden; reinere Vor¬<lb/>
stellungen vom Göttlichen können sich aus diesen Anfängen entwickeln, aber diese<lb/>
Entwicklung kann auch ausbleiben, ohne daß dadurch die Entstehung einer höhern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0503] Atheismus und Lthik achtzehuhuudertjährigem Bestehen des Christentums solcher Philosophen wie Kant und Comte bedurft hat, die Christenheit an die selbstverständliche That¬ sache zu erinnern, daß es gar keinen Glauben geben könnte, wenn die Gegen¬ stände des Glaubens beweisbar wären. Natürlich ist damit auch der Atheis¬ mus für wissenschaftlich zulässig erklärt. Da der Glaube aus Gemütszuständen, aus Empfindungen hervorgeht, so hängt er bei jedem einzelnen davon ab, ob dieser die fraglichen Empfindungen hat oder nicht, und außerdem, da Empfin¬ dungen an sich ansteckend sind und auch durch äußerlich beigebrachte Vor¬ stellungen erzeugt werden können, in sehr hohem Grade von der Umgebung, in der jeder lebt. Die Wissenschaft hat nichts einzuwenden gegen den Glauben an eine jenseitige Welt noch gegen den Atheismus; sie hat es nur mit dem Diesseits zu thun und ist nicht zuständig für die Fage, ob es ein Jenseits gebe oder nicht. Unser Standpunkt ist also von dem Samsons, der die von Kant gezogne Grenze nicht achtet und den Atheismus für wissenschaftlich bewiesen hält, himmelweit verschieden. Trotzdem stimmen wir in drei Punkten mit ihm über¬ ein: daß die Sittlichkeit von der Religion unabhängig ist, und daß es dem¬ nach auch eine von der Theologie unabhägige Sittenlehre giebt, daß die Dienste, die die Religion der Sittlichkeit leistet, von den Theologen überschützt werden, und daß es seine Gefahren hat, wenn Kirche und Staatsregierung im Verein den christlichen Glanben für die einzige Grundlage der Sittlichkeit erklären, weil sich da die jungen Leute und die Volksmassen leicht einbilden können, sie wären, wenn sie mit dem christlichen Glauben brechen, zugleich das Sitten¬ gesetz los, was natürlich die sittliche Kraft schwächen würde. Dagegen be¬ streiten wir drei andre Ansichten, die Samson zu beweisen sucht: daß die Sittenlehre naturwissenschaftlich begründet werden könne, daß der Atheismus der Sittlichkeit förderlich sei, und daß die Zeitumstände dem Staate die Ein¬ führung eines religionslosen Moralunterrichts in die Schulen nahe legten. Von der Selbständigkeit der Sittlichkeit kann niemand fester überzeugt sein als wir. Wir folgen in der Ethik Herbart und halten ihn für den ein¬ zigen Philosophen, der das Wesen der Sittlichkeit und ihre Unabhängigkeit von den übrigen Gebieten des Seelenlebens klar erkannt und damit eine von allen andern Zweigen der Wissenschaft unabhängige Ethik möglich gemacht hat. Er hat die Ethik dahin gestellt, wohin sie gehört, neben die Ästhetik. Erst dann beginnt sich das Menschendasein vom tierischen zu sondern, wenn der Mensch Werturteile bildet, die sich nicht unmittelbar auf sein leibliches Befinden beziehen. Die Dcnkoperationen unterscheiden ihn noch nicht, denn die einfachsten davon werden auch von den Tieren vollzogen. Auch die religiösen Empfindungen nicht, denn die ersten, rohesten. sind von der Furcht des Hundes vor seinem Herrn und der Dankbarkeit für ihn nicht wesentlich verschieden; reinere Vor¬ stellungen vom Göttlichen können sich aus diesen Anfängen entwickeln, aber diese Entwicklung kann auch ausbleiben, ohne daß dadurch die Entstehung einer höhern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/503
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/503>, abgerufen am 29.11.2024.