Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Die Erweiterung der Krankenversicheruiig Viertel der dortigen Einwohnerschaft in Krankenkassen versichert seien. Und Sollen wir Ärzte diese Bestrebungen des Kleinbürgertums nach einer Die soziale Frage ist die schwere Gewissensfrage unsrer Zeit, die nicht Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, da ich alle diese Dinge in Die Erweiterung der Krankenversicheruiig Viertel der dortigen Einwohnerschaft in Krankenkassen versichert seien. Und Sollen wir Ärzte diese Bestrebungen des Kleinbürgertums nach einer Die soziale Frage ist die schwere Gewissensfrage unsrer Zeit, die nicht Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, da ich alle diese Dinge in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0501" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223443"/> <fw type="header" place="top"> Die Erweiterung der Krankenversicheruiig</fw><lb/> <p xml:id="ID_1416" prev="#ID_1415"> Viertel der dortigen Einwohnerschaft in Krankenkassen versichert seien. Und<lb/> ähnlich dürften die Verhältnisse in andern Großstädten liegen, wo die „Sanitäts¬<lb/> vereine" wie Pilze ans der Erde schießen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1417"> Sollen wir Ärzte diese Bestrebungen des Kleinbürgertums nach einer<lb/> bessern Sicherstellung seiner wirtschaftlichen Lage zu vereiteln suchen? Das<lb/> hieße die Bedürfnisse und die sozialen Aufgaben unsrer Zeit völlig verkennen,<lb/> und das wäre ein Fehler, in den gerade wir Ärzte am wenigsten verfallen<lb/> dürfen. Alle Proteste würden aber auch nur wenig nützen und nicht imstande<lb/> sein, eine Bewegung aufzuhalten, die — soweit es sich dabei um den un¬<lb/> bemittelten und hilfsbedürftigen Teil der Bevölkerung handelt — als sozial<lb/> berechtigt und notwendig anerkannt werden muß. Wenn Offiziere und höhere<lb/> Beamte ihre Konsumvereine und Krankenkassen haben dürfen, mit welchem<lb/> Recht wollte man es da den kleinen Handwerkern verwehren, sich vor der Not<lb/> in Krankheitsfällen zu schützen? Da also ein Protest gegen diesen Zug der<lb/> Zeit doch vergeblich sein würde, so sollte man doch lieber gleich davon ab¬<lb/> stehen und, statt zu hemmen, die notwendige Erweiterung der Kranken¬<lb/> versicherung eher zu fördern suchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1418"> Die soziale Frage ist die schwere Gewissensfrage unsrer Zeit, die nicht<lb/> eher von der Tagesordnung schwinden wird, als bis ihre notwendigen und<lb/> berechtigten Forderungen erfüllt sein werden. Und diesen Forderungen werden<lb/> die besitzenden Klassen noch mehr Verständnis und mehr Herz entgegenbringen<lb/> müssen, als bisher geschehen ist. Der Sinn für die sozialen Aufgaben unsrer<lb/> Zeit muß noch mehr geweckt werden, denn die Scheu der Gebildeten, sich<lb/> ernstlich mit sozialen Dingen zu befassen, ist leider noch immer recht groß.<lb/> Mag uns auch der sozialdemokratische „Zukunftsstaat" mit seinen phantastischen<lb/> und verwerflichen Zielen als eine Utopie erscheinen, so enthält doch das<lb/> sozialistische Programm auch Forderungen genug, die von allen verständigen<lb/> Leuten als berechtigt anerkannt werden. Dazu rechne ich auch die Verstaat¬<lb/> lichung des Heilwcsens, oder — wenn wir uns auf das vorläufig erreichbare<lb/> Ziel beschränken wollen die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfe für alle<lb/> ..wirtschaftlich Schwachen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1419"> Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, da ich alle diese Dinge in<lb/> meiner Schrift über die Verstaatlichung der kassenärztlichen Praxis (Leipzig,<lb/> Gustav Font, 1896) und in einem Aufsatz im Ärztlichen Vereinsblatt, 1896,<lb/> Ur. 323, ausführlich erörtert habe.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0501]
Die Erweiterung der Krankenversicheruiig
Viertel der dortigen Einwohnerschaft in Krankenkassen versichert seien. Und
ähnlich dürften die Verhältnisse in andern Großstädten liegen, wo die „Sanitäts¬
vereine" wie Pilze ans der Erde schießen.
Sollen wir Ärzte diese Bestrebungen des Kleinbürgertums nach einer
bessern Sicherstellung seiner wirtschaftlichen Lage zu vereiteln suchen? Das
hieße die Bedürfnisse und die sozialen Aufgaben unsrer Zeit völlig verkennen,
und das wäre ein Fehler, in den gerade wir Ärzte am wenigsten verfallen
dürfen. Alle Proteste würden aber auch nur wenig nützen und nicht imstande
sein, eine Bewegung aufzuhalten, die — soweit es sich dabei um den un¬
bemittelten und hilfsbedürftigen Teil der Bevölkerung handelt — als sozial
berechtigt und notwendig anerkannt werden muß. Wenn Offiziere und höhere
Beamte ihre Konsumvereine und Krankenkassen haben dürfen, mit welchem
Recht wollte man es da den kleinen Handwerkern verwehren, sich vor der Not
in Krankheitsfällen zu schützen? Da also ein Protest gegen diesen Zug der
Zeit doch vergeblich sein würde, so sollte man doch lieber gleich davon ab¬
stehen und, statt zu hemmen, die notwendige Erweiterung der Kranken¬
versicherung eher zu fördern suchen.
Die soziale Frage ist die schwere Gewissensfrage unsrer Zeit, die nicht
eher von der Tagesordnung schwinden wird, als bis ihre notwendigen und
berechtigten Forderungen erfüllt sein werden. Und diesen Forderungen werden
die besitzenden Klassen noch mehr Verständnis und mehr Herz entgegenbringen
müssen, als bisher geschehen ist. Der Sinn für die sozialen Aufgaben unsrer
Zeit muß noch mehr geweckt werden, denn die Scheu der Gebildeten, sich
ernstlich mit sozialen Dingen zu befassen, ist leider noch immer recht groß.
Mag uns auch der sozialdemokratische „Zukunftsstaat" mit seinen phantastischen
und verwerflichen Zielen als eine Utopie erscheinen, so enthält doch das
sozialistische Programm auch Forderungen genug, die von allen verständigen
Leuten als berechtigt anerkannt werden. Dazu rechne ich auch die Verstaat¬
lichung des Heilwcsens, oder — wenn wir uns auf das vorläufig erreichbare
Ziel beschränken wollen die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfe für alle
..wirtschaftlich Schwachen."
Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, da ich alle diese Dinge in
meiner Schrift über die Verstaatlichung der kassenärztlichen Praxis (Leipzig,
Gustav Font, 1896) und in einem Aufsatz im Ärztlichen Vereinsblatt, 1896,
Ur. 323, ausführlich erörtert habe.
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