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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Erweiterung der Araiikenveisichcrung

fängt, hört die Zufriedenheit auf. Zu einem erträglichen Dasein dem Volke
die äußern Bedingungen zu schaffen, dazu sollten sich Staat und Gesellschaft
schon im Interesse der Selbsterhaltung für verpflichtet halten.

Würde nun aber die Ausdehnung der Krankenversicherung auf das Klein¬
bürgertum in der Art vorgenommen, daß man -- wie beim Arbeiter -- ein
Einkommen von 2000 Mark als Grenze für die Verhinderungspflicht festsetzte,
so würde, wenn alle Familienangehörigen mit eingeschlossen würden, eine so
gewaltige Zahl von Versicherten herauskommen -- nämlich etwa 90 Prozent
der Gesamtbevölkerung --, daß sich die Notwendigkeit einer staatlichen
Organisation der ärztlichen Praxis ganz von selbst daraus ergeben würde.
Das eine wäre nicht denkbar ohne das andre. Der Weg der sozialpolitischen
Gesetzgebung -- auf dem es kein Halten mehr giebt und geben darf -- führt
schließlich zur Verstaatlichung des Ärztestandes!

Die Macht der Thatsachen und Verhältnisse ist stärker als der Wille des
Menschen; so wird es auch hier sein. Oder wer wäre so naiv, zu glauben,
daß unsre heutige Gesellschaftsordnung schon aus dem Gipfel ihrer Entwicklung
angelangt sei, und daß die Mißstünde, die gerade wir Ärzte täglich vor Augen
sehen, in alle Ewigkeit fortbestehen müßten?

Wenn wir aber weiter die Beobachtung machen, daß -- namentlich in
den größern Städten -- schon große Kreise sich zu dem Zwecke zusammen¬
geschlossen haben, sich billige ärztliche Hilfe zu verschaffen, und wenn wir
ferner sehen, daß diese Neigung immer mehr um sich greift, dann werden wir
uns sagen müssen, daß in den Großstädten über kurz oder lang überhaupt
nur noch ein winziger Teil des Publikums sür die ärztliche Privatpraxis übrig
sein wird. Wie sehr diese Bestrebungen in dem Zuge unsrer Zeit liegen, hat
erst kürzlich wieder die Nachricht aus Österreich gezeigt, daß die Meister dort
auf dem Wege der Gesetzgebung die Gründung einer "obligatorischen Meister¬
krankenkasse" anstreben. Die Münchner medizinische Wochenschrift bemerkte
dazu: "So will ein Stand um den andern abbröckeln, um sich die ärztliche
Hilfe um ein Bettel zu sichern. Die Staatsbeamten errichten sich Kasinos
mit Krankenversicherung und Kassenärzten, die Lehrer gründen einen Lehrer¬
hausverein mit Krankenversicherung usw. Nun kommen die Gewerbtreibenden
und wollen sich auch ihre Kassen machen: wovon soll der praktische Arzt in
der Stadt und auf dem Lande schließlich leben? Sehr wenigen Ärzten gelingt
es, einen Sparpfennig für ihre alten Tage zurückzulegen, was ja die Ver¬
handlungen über die von der Ärztekammer geplanten obligatorischen Ver¬
sicherungen aller Ärzte Österreichs gegen Tod und Invalidität zur Genüge
erwiesen haben. Die raras avss gelten aber der großen Menge noch immer
als die regelmäßigen oder als die Durchschnittsfülle, noch immer wird der
ärztliche Stand im allgemeinen beneidet und als sehr gewinnbringend an¬
gesehen." Aus Hamburg ist schon vor Jahren berichtet worden, daß drei


Die Erweiterung der Araiikenveisichcrung

fängt, hört die Zufriedenheit auf. Zu einem erträglichen Dasein dem Volke
die äußern Bedingungen zu schaffen, dazu sollten sich Staat und Gesellschaft
schon im Interesse der Selbsterhaltung für verpflichtet halten.

Würde nun aber die Ausdehnung der Krankenversicherung auf das Klein¬
bürgertum in der Art vorgenommen, daß man — wie beim Arbeiter — ein
Einkommen von 2000 Mark als Grenze für die Verhinderungspflicht festsetzte,
so würde, wenn alle Familienangehörigen mit eingeschlossen würden, eine so
gewaltige Zahl von Versicherten herauskommen — nämlich etwa 90 Prozent
der Gesamtbevölkerung —, daß sich die Notwendigkeit einer staatlichen
Organisation der ärztlichen Praxis ganz von selbst daraus ergeben würde.
Das eine wäre nicht denkbar ohne das andre. Der Weg der sozialpolitischen
Gesetzgebung — auf dem es kein Halten mehr giebt und geben darf — führt
schließlich zur Verstaatlichung des Ärztestandes!

Die Macht der Thatsachen und Verhältnisse ist stärker als der Wille des
Menschen; so wird es auch hier sein. Oder wer wäre so naiv, zu glauben,
daß unsre heutige Gesellschaftsordnung schon aus dem Gipfel ihrer Entwicklung
angelangt sei, und daß die Mißstünde, die gerade wir Ärzte täglich vor Augen
sehen, in alle Ewigkeit fortbestehen müßten?

Wenn wir aber weiter die Beobachtung machen, daß — namentlich in
den größern Städten — schon große Kreise sich zu dem Zwecke zusammen¬
geschlossen haben, sich billige ärztliche Hilfe zu verschaffen, und wenn wir
ferner sehen, daß diese Neigung immer mehr um sich greift, dann werden wir
uns sagen müssen, daß in den Großstädten über kurz oder lang überhaupt
nur noch ein winziger Teil des Publikums sür die ärztliche Privatpraxis übrig
sein wird. Wie sehr diese Bestrebungen in dem Zuge unsrer Zeit liegen, hat
erst kürzlich wieder die Nachricht aus Österreich gezeigt, daß die Meister dort
auf dem Wege der Gesetzgebung die Gründung einer „obligatorischen Meister¬
krankenkasse" anstreben. Die Münchner medizinische Wochenschrift bemerkte
dazu: „So will ein Stand um den andern abbröckeln, um sich die ärztliche
Hilfe um ein Bettel zu sichern. Die Staatsbeamten errichten sich Kasinos
mit Krankenversicherung und Kassenärzten, die Lehrer gründen einen Lehrer¬
hausverein mit Krankenversicherung usw. Nun kommen die Gewerbtreibenden
und wollen sich auch ihre Kassen machen: wovon soll der praktische Arzt in
der Stadt und auf dem Lande schließlich leben? Sehr wenigen Ärzten gelingt
es, einen Sparpfennig für ihre alten Tage zurückzulegen, was ja die Ver¬
handlungen über die von der Ärztekammer geplanten obligatorischen Ver¬
sicherungen aller Ärzte Österreichs gegen Tod und Invalidität zur Genüge
erwiesen haben. Die raras avss gelten aber der großen Menge noch immer
als die regelmäßigen oder als die Durchschnittsfülle, noch immer wird der
ärztliche Stand im allgemeinen beneidet und als sehr gewinnbringend an¬
gesehen." Aus Hamburg ist schon vor Jahren berichtet worden, daß drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/500>, abgerufen am 29.11.2024.