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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die geographische tage Deutschlands

mittelbar dadurch von Bedeutung, daß dies die einzige Stelle ist, wo ein
wenn nicht deutscher, so doch halbdeutscher Staat an das Mittelmeer noch
hinanreicht. Zwei Staaten, die in dieser Weise gleichsam ineinander gefugt
sind, sind darauf angewiesen, entweder friedlich mit einander zu verkehren
oder eine so unmäßig lange Grenze bei der ersten Gelegenheit gewaltsam zu
verkürzen.

Da Osterreich kein Einheitsstaat wie Frankreich ist, muß man auch die
Frage stellen, mit welchen Gliedern seines Reiches es an Deutschland herantritt?
Da ist zunächst als das wichtigste festzuhalten, daß sich Deutschland nicht mit
Ungarn berührt, sondern nur mit Österreich. Ungarn und Deutschland sind
durch einen 42 Kilometer breiten galizischen Streifen getrennt, und diese
schmalste Stelle füllt in das Tatragebirge, das Ungarn nach Norden hin ab¬
schließt. Galizien und Mähren berühren sich nur in schmalen Streifen mit
Deutschland, in dem galizischen liegen Krakau und Bielitz, in dem mährischen,
den die Flußlandzunge zwischen Oder und Ostra bildet, Mährisch-Ostrau; dann
folgen mit breitern Fronten Österreich-Schlesien, Böhmen, Oberösterreich,
Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Unter allen diesen Nachbarländern nimmt
Böhmen durch seine Größe, die Länge seiner Begrenzung mit Deutschland,
seine Lage, seine halbslawische Bevölkerung, die dicht und wirtschaftlich hoch¬
entwickelt ist, die erste Stelle ein.

Zwischen Frankreich und Österreich legt sich als dritter südlicher Nachbar
ein dritter Alpenstaat, die Schweiz. Da nur der Rhein und der Bodensee
Deutschland von diesem Nachbar trennt, ist es wichtig, daß die Schweiz
neutralisirt ist, sodaß sie, nach einem Ausdruck von Clausewitz, wie ein See
zwischen Deutschland und Frankreich liegt. Solange Verträge bestehen, kann
Deutschland zwischen Basel und Rorschach nicht angegriffen werden. Die Schweiz
trennt Deutschland im Westen von den Alpen, wie Österreich im Osten, sie
hält die wichtigsten Zugänge nach Italien und wird dadurch für den deutsch¬
italienischen Verkehr ein wichtiges Durchgangsland. Gleich Österreich ist auch
die Schweiz geschichtlich und ethnographisch mit Deutschland eng verbunden.
Die Gotthardbahn zeigt, wie der Verkehr wieder zusammenbindet, was die Politik
auseinander gebracht hat. Die Alpenbahnen werden sich vervielfältigen, und
die Schweiz wird sich als Durchgangsland an Deutschland verkehrspolitisch so
eng anlehnen, wie es in ihrer Lage vorgezeichnet ist. Schon jetzt überragt
der Güteraustausch beider Länder den mit allen andern Nachbarn der Schweiz.

Nördlich von Frankreich liegen an der deutschen Grenze drei kleine
Nachbarn: Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Neste des alten Lothringen
und des jüngern burgundischen Reiches, die Länder der deutsch-französischen
Übergänge, Kämpfe und Verdrängungen waren. Wenn auch durch Verträge
und Verkehr gemildert, hallt doch der Fluch der Zwischen- und Zwitterstellung
noch heute durch die schönen Maas- und Ardennenländer. Luxemburg und


Die geographische tage Deutschlands

mittelbar dadurch von Bedeutung, daß dies die einzige Stelle ist, wo ein
wenn nicht deutscher, so doch halbdeutscher Staat an das Mittelmeer noch
hinanreicht. Zwei Staaten, die in dieser Weise gleichsam ineinander gefugt
sind, sind darauf angewiesen, entweder friedlich mit einander zu verkehren
oder eine so unmäßig lange Grenze bei der ersten Gelegenheit gewaltsam zu
verkürzen.

Da Osterreich kein Einheitsstaat wie Frankreich ist, muß man auch die
Frage stellen, mit welchen Gliedern seines Reiches es an Deutschland herantritt?
Da ist zunächst als das wichtigste festzuhalten, daß sich Deutschland nicht mit
Ungarn berührt, sondern nur mit Österreich. Ungarn und Deutschland sind
durch einen 42 Kilometer breiten galizischen Streifen getrennt, und diese
schmalste Stelle füllt in das Tatragebirge, das Ungarn nach Norden hin ab¬
schließt. Galizien und Mähren berühren sich nur in schmalen Streifen mit
Deutschland, in dem galizischen liegen Krakau und Bielitz, in dem mährischen,
den die Flußlandzunge zwischen Oder und Ostra bildet, Mährisch-Ostrau; dann
folgen mit breitern Fronten Österreich-Schlesien, Böhmen, Oberösterreich,
Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Unter allen diesen Nachbarländern nimmt
Böhmen durch seine Größe, die Länge seiner Begrenzung mit Deutschland,
seine Lage, seine halbslawische Bevölkerung, die dicht und wirtschaftlich hoch¬
entwickelt ist, die erste Stelle ein.

Zwischen Frankreich und Österreich legt sich als dritter südlicher Nachbar
ein dritter Alpenstaat, die Schweiz. Da nur der Rhein und der Bodensee
Deutschland von diesem Nachbar trennt, ist es wichtig, daß die Schweiz
neutralisirt ist, sodaß sie, nach einem Ausdruck von Clausewitz, wie ein See
zwischen Deutschland und Frankreich liegt. Solange Verträge bestehen, kann
Deutschland zwischen Basel und Rorschach nicht angegriffen werden. Die Schweiz
trennt Deutschland im Westen von den Alpen, wie Österreich im Osten, sie
hält die wichtigsten Zugänge nach Italien und wird dadurch für den deutsch¬
italienischen Verkehr ein wichtiges Durchgangsland. Gleich Österreich ist auch
die Schweiz geschichtlich und ethnographisch mit Deutschland eng verbunden.
Die Gotthardbahn zeigt, wie der Verkehr wieder zusammenbindet, was die Politik
auseinander gebracht hat. Die Alpenbahnen werden sich vervielfältigen, und
die Schweiz wird sich als Durchgangsland an Deutschland verkehrspolitisch so
eng anlehnen, wie es in ihrer Lage vorgezeichnet ist. Schon jetzt überragt
der Güteraustausch beider Länder den mit allen andern Nachbarn der Schweiz.

Nördlich von Frankreich liegen an der deutschen Grenze drei kleine
Nachbarn: Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Neste des alten Lothringen
und des jüngern burgundischen Reiches, die Länder der deutsch-französischen
Übergänge, Kämpfe und Verdrängungen waren. Wenn auch durch Verträge
und Verkehr gemildert, hallt doch der Fluch der Zwischen- und Zwitterstellung
noch heute durch die schönen Maas- und Ardennenländer. Luxemburg und


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[0459] Die geographische tage Deutschlands mittelbar dadurch von Bedeutung, daß dies die einzige Stelle ist, wo ein wenn nicht deutscher, so doch halbdeutscher Staat an das Mittelmeer noch hinanreicht. Zwei Staaten, die in dieser Weise gleichsam ineinander gefugt sind, sind darauf angewiesen, entweder friedlich mit einander zu verkehren oder eine so unmäßig lange Grenze bei der ersten Gelegenheit gewaltsam zu verkürzen. Da Osterreich kein Einheitsstaat wie Frankreich ist, muß man auch die Frage stellen, mit welchen Gliedern seines Reiches es an Deutschland herantritt? Da ist zunächst als das wichtigste festzuhalten, daß sich Deutschland nicht mit Ungarn berührt, sondern nur mit Österreich. Ungarn und Deutschland sind durch einen 42 Kilometer breiten galizischen Streifen getrennt, und diese schmalste Stelle füllt in das Tatragebirge, das Ungarn nach Norden hin ab¬ schließt. Galizien und Mähren berühren sich nur in schmalen Streifen mit Deutschland, in dem galizischen liegen Krakau und Bielitz, in dem mährischen, den die Flußlandzunge zwischen Oder und Ostra bildet, Mährisch-Ostrau; dann folgen mit breitern Fronten Österreich-Schlesien, Böhmen, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Unter allen diesen Nachbarländern nimmt Böhmen durch seine Größe, die Länge seiner Begrenzung mit Deutschland, seine Lage, seine halbslawische Bevölkerung, die dicht und wirtschaftlich hoch¬ entwickelt ist, die erste Stelle ein. Zwischen Frankreich und Österreich legt sich als dritter südlicher Nachbar ein dritter Alpenstaat, die Schweiz. Da nur der Rhein und der Bodensee Deutschland von diesem Nachbar trennt, ist es wichtig, daß die Schweiz neutralisirt ist, sodaß sie, nach einem Ausdruck von Clausewitz, wie ein See zwischen Deutschland und Frankreich liegt. Solange Verträge bestehen, kann Deutschland zwischen Basel und Rorschach nicht angegriffen werden. Die Schweiz trennt Deutschland im Westen von den Alpen, wie Österreich im Osten, sie hält die wichtigsten Zugänge nach Italien und wird dadurch für den deutsch¬ italienischen Verkehr ein wichtiges Durchgangsland. Gleich Österreich ist auch die Schweiz geschichtlich und ethnographisch mit Deutschland eng verbunden. Die Gotthardbahn zeigt, wie der Verkehr wieder zusammenbindet, was die Politik auseinander gebracht hat. Die Alpenbahnen werden sich vervielfältigen, und die Schweiz wird sich als Durchgangsland an Deutschland verkehrspolitisch so eng anlehnen, wie es in ihrer Lage vorgezeichnet ist. Schon jetzt überragt der Güteraustausch beider Länder den mit allen andern Nachbarn der Schweiz. Nördlich von Frankreich liegen an der deutschen Grenze drei kleine Nachbarn: Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Neste des alten Lothringen und des jüngern burgundischen Reiches, die Länder der deutsch-französischen Übergänge, Kämpfe und Verdrängungen waren. Wenn auch durch Verträge und Verkehr gemildert, hallt doch der Fluch der Zwischen- und Zwitterstellung noch heute durch die schönen Maas- und Ardennenländer. Luxemburg und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/459>, abgerufen am 01.09.2024.