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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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sandte, erklärt sich selbstverständlich daraus, daß in ihm der Kalender zu Hause
und am meisten verbreitet ist; die verhältnismäßig große Zahl von Bewerbern
aus Elsaß-Lothringen muß man zum Teil auf Rechnung des (auch in fran¬
zösischer Zeit nie ganz erloschenen) sreundnachbarlicheu Verhältnisses des
Elsasses zu Baden setzen, man kann aber auch eine Gewähr des dort erstar¬
kenden Deutschtums darin sehen.

Und nun zu den Erzählungen selbst. Man glaubt mir aufs Wort, wenn
ich versichere, daß schreckliches Zeug dabei war. Zumal einige Frauenzimmer
hatten schauderhafte Dinge geleistet, aber auch viele der bessern Leistungen
stammten von Frauen, ja hier schienen sie die Männer fast zu überwiegen.
Zunächst mag eine stoffliche Einteilung der Arbeiten versucht werden. Min¬
destens ein Viertel sämtlicher Einsendungen waren Dorfgeschichten, und zwar
die Mehrzahl nach dem Rezept: Ein armer Bursch liebt ein reiches Mädchen
oder ein reicher Bursch ein armes; der hartherzige Vater des wohlhabende"
Teils will nicht -- da geschieht etwas schreckliches, und nun will er. Das in
irgend welchem Lokalkvstüm, das aber in der Regel nicht echt ist, dargestellt
und mit möglichst viel falscher Sentimentalität vorgetragen, und die Dorf¬
geschichte ist fertig. Doch fanden sich daneben auch Dorfgeschichten, die ohne
Zweifel der Beobachtung der Wirklichkeit entstammten, selbst solche, die schon
die Technik der naturalistischen Kunst, die bei der Dorfgeschichte immerhin etwas
wert ist, zur Darstellung verwandten. Aus den verschiedensten Gegenden unsers
Vaterlandes waren Erzählungen gekommen, die das deutsche Volk wirklich bei
der Arbeit zeigten, und die Gesamtheit der Einsendungen, die städtische Stoffe
behandelnden eingeschlossen, bot doch ein so umfangreiches und vielseitiges Bild
deutschen Lebens, daß ich es nicht bereue, mich durch den ganzen Haufen durch¬
gearbeitet zu haben. Sind auch die Alpenländer mit ihrer großartigen Natur
und ihrem romantischer als das der Ebne ausschauenden Volk noch immer der
beliebteste "Spielplatz" der Dorfgeschichte, man wagt sich doch jetzt auch in
Gegenden, die früher für "uninteressant" galten, und ich entsinne mich, von
den Bewohnern des mährischen Gebirgsrcmdes, von den biedern Sachsen des
Elbsandsteingcbirges, den Bauern der ostdeutschen Ebne, Brandenburgs und
Schlesiens, denen der schwäbischen Alp, des pfälzischen Westrichs und der
Eifelgegend, um nur einzelnes hervorzuheben, mehr oder minder anschauliche
Lebeusdarstellungen gelesen zu haben, oft unter trefflicher Behandlung der
Mundart. Es ist der im allgemeinen nun doch geschärfte soziale Blick, die
Teilnahme an sozialen Fragen, die die Dorfgeschichte auffrischt, und geschieht
das nicht in der thörichten Weise, daß man nun ebenso klägliche bäuerlich-
sozialistische Armeleutbilder malt, wie man städtische und solche aus den Jn-
dustriegegenden schon lange gemalt hat, so ist das gewiß nur freudig zu be¬
grüßen. Die deutsche Litteratur sollte zu jeder Zeit auch ein treues Bild des
Sonderlebens sämtlicher deutschen Stämme (und Gott sei Dank, die meisten


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sandte, erklärt sich selbstverständlich daraus, daß in ihm der Kalender zu Hause
und am meisten verbreitet ist; die verhältnismäßig große Zahl von Bewerbern
aus Elsaß-Lothringen muß man zum Teil auf Rechnung des (auch in fran¬
zösischer Zeit nie ganz erloschenen) sreundnachbarlicheu Verhältnisses des
Elsasses zu Baden setzen, man kann aber auch eine Gewähr des dort erstar¬
kenden Deutschtums darin sehen.

Und nun zu den Erzählungen selbst. Man glaubt mir aufs Wort, wenn
ich versichere, daß schreckliches Zeug dabei war. Zumal einige Frauenzimmer
hatten schauderhafte Dinge geleistet, aber auch viele der bessern Leistungen
stammten von Frauen, ja hier schienen sie die Männer fast zu überwiegen.
Zunächst mag eine stoffliche Einteilung der Arbeiten versucht werden. Min¬
destens ein Viertel sämtlicher Einsendungen waren Dorfgeschichten, und zwar
die Mehrzahl nach dem Rezept: Ein armer Bursch liebt ein reiches Mädchen
oder ein reicher Bursch ein armes; der hartherzige Vater des wohlhabende»
Teils will nicht — da geschieht etwas schreckliches, und nun will er. Das in
irgend welchem Lokalkvstüm, das aber in der Regel nicht echt ist, dargestellt
und mit möglichst viel falscher Sentimentalität vorgetragen, und die Dorf¬
geschichte ist fertig. Doch fanden sich daneben auch Dorfgeschichten, die ohne
Zweifel der Beobachtung der Wirklichkeit entstammten, selbst solche, die schon
die Technik der naturalistischen Kunst, die bei der Dorfgeschichte immerhin etwas
wert ist, zur Darstellung verwandten. Aus den verschiedensten Gegenden unsers
Vaterlandes waren Erzählungen gekommen, die das deutsche Volk wirklich bei
der Arbeit zeigten, und die Gesamtheit der Einsendungen, die städtische Stoffe
behandelnden eingeschlossen, bot doch ein so umfangreiches und vielseitiges Bild
deutschen Lebens, daß ich es nicht bereue, mich durch den ganzen Haufen durch¬
gearbeitet zu haben. Sind auch die Alpenländer mit ihrer großartigen Natur
und ihrem romantischer als das der Ebne ausschauenden Volk noch immer der
beliebteste „Spielplatz" der Dorfgeschichte, man wagt sich doch jetzt auch in
Gegenden, die früher für „uninteressant" galten, und ich entsinne mich, von
den Bewohnern des mährischen Gebirgsrcmdes, von den biedern Sachsen des
Elbsandsteingcbirges, den Bauern der ostdeutschen Ebne, Brandenburgs und
Schlesiens, denen der schwäbischen Alp, des pfälzischen Westrichs und der
Eifelgegend, um nur einzelnes hervorzuheben, mehr oder minder anschauliche
Lebeusdarstellungen gelesen zu haben, oft unter trefflicher Behandlung der
Mundart. Es ist der im allgemeinen nun doch geschärfte soziale Blick, die
Teilnahme an sozialen Fragen, die die Dorfgeschichte auffrischt, und geschieht
das nicht in der thörichten Weise, daß man nun ebenso klägliche bäuerlich-
sozialistische Armeleutbilder malt, wie man städtische und solche aus den Jn-
dustriegegenden schon lange gemalt hat, so ist das gewiß nur freudig zu be¬
grüßen. Die deutsche Litteratur sollte zu jeder Zeit auch ein treues Bild des
Sonderlebens sämtlicher deutschen Stämme (und Gott sei Dank, die meisten


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[0042] Lin Preisausschreiben sandte, erklärt sich selbstverständlich daraus, daß in ihm der Kalender zu Hause und am meisten verbreitet ist; die verhältnismäßig große Zahl von Bewerbern aus Elsaß-Lothringen muß man zum Teil auf Rechnung des (auch in fran¬ zösischer Zeit nie ganz erloschenen) sreundnachbarlicheu Verhältnisses des Elsasses zu Baden setzen, man kann aber auch eine Gewähr des dort erstar¬ kenden Deutschtums darin sehen. Und nun zu den Erzählungen selbst. Man glaubt mir aufs Wort, wenn ich versichere, daß schreckliches Zeug dabei war. Zumal einige Frauenzimmer hatten schauderhafte Dinge geleistet, aber auch viele der bessern Leistungen stammten von Frauen, ja hier schienen sie die Männer fast zu überwiegen. Zunächst mag eine stoffliche Einteilung der Arbeiten versucht werden. Min¬ destens ein Viertel sämtlicher Einsendungen waren Dorfgeschichten, und zwar die Mehrzahl nach dem Rezept: Ein armer Bursch liebt ein reiches Mädchen oder ein reicher Bursch ein armes; der hartherzige Vater des wohlhabende» Teils will nicht — da geschieht etwas schreckliches, und nun will er. Das in irgend welchem Lokalkvstüm, das aber in der Regel nicht echt ist, dargestellt und mit möglichst viel falscher Sentimentalität vorgetragen, und die Dorf¬ geschichte ist fertig. Doch fanden sich daneben auch Dorfgeschichten, die ohne Zweifel der Beobachtung der Wirklichkeit entstammten, selbst solche, die schon die Technik der naturalistischen Kunst, die bei der Dorfgeschichte immerhin etwas wert ist, zur Darstellung verwandten. Aus den verschiedensten Gegenden unsers Vaterlandes waren Erzählungen gekommen, die das deutsche Volk wirklich bei der Arbeit zeigten, und die Gesamtheit der Einsendungen, die städtische Stoffe behandelnden eingeschlossen, bot doch ein so umfangreiches und vielseitiges Bild deutschen Lebens, daß ich es nicht bereue, mich durch den ganzen Haufen durch¬ gearbeitet zu haben. Sind auch die Alpenländer mit ihrer großartigen Natur und ihrem romantischer als das der Ebne ausschauenden Volk noch immer der beliebteste „Spielplatz" der Dorfgeschichte, man wagt sich doch jetzt auch in Gegenden, die früher für „uninteressant" galten, und ich entsinne mich, von den Bewohnern des mährischen Gebirgsrcmdes, von den biedern Sachsen des Elbsandsteingcbirges, den Bauern der ostdeutschen Ebne, Brandenburgs und Schlesiens, denen der schwäbischen Alp, des pfälzischen Westrichs und der Eifelgegend, um nur einzelnes hervorzuheben, mehr oder minder anschauliche Lebeusdarstellungen gelesen zu haben, oft unter trefflicher Behandlung der Mundart. Es ist der im allgemeinen nun doch geschärfte soziale Blick, die Teilnahme an sozialen Fragen, die die Dorfgeschichte auffrischt, und geschieht das nicht in der thörichten Weise, daß man nun ebenso klägliche bäuerlich- sozialistische Armeleutbilder malt, wie man städtische und solche aus den Jn- dustriegegenden schon lange gemalt hat, so ist das gewiß nur freudig zu be¬ grüßen. Die deutsche Litteratur sollte zu jeder Zeit auch ein treues Bild des Sonderlebens sämtlicher deutschen Stämme (und Gott sei Dank, die meisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/42>, abgerufen am 01.09.2024.