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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker

nach und nach die Eigenschaften bemerkt, die der Mensch für sich nutzbar
machen kann, z. B. der Wohlgeschmack ihrer Milch und die Verwendbarkeit
der Haare. Nun fing der Mensch an, nicht bloß für die Göttin, sondern auch
zum eignen Gebrauch solche Tiere einzufangen. Aber die Göttin, die ihre
Wohlthaten nicht anders als unter grausamen Bedingungen spendet, fordert
von allen Besitztümern des Menschen immer das beste und ihm liebste Stück
als Opfer. Daher mußten stets die milchreichsten Kühe und die am dichtesten
behaarten Schafe der Göttin, d. h. in diesem Falle den Priestern, dargebracht
werden. So sammelte sich bei diesen ein Bestand von guten Zuchttieren an,
woraus sich eine stetige Verbesserung der Nasse ergab. "Es muß ein starkes
Machtmittel gewesen sein, das der eingebornen Indolenz und Roheit der
Menschen entgegenwirkte ^was die eingcfanguen Tiere zu Nutztieren um¬
gewandelt hat^, ein solches gewährte aber nur der religiöse Zwang." Und
nicht bloß um die Überwindung der Trägheit und Sorglosigkeit des Natur¬
menschen handelte es sich, es mußte ja die Erfahrung von dem Nutzen der
Umwandlung erst gemacht werden, wenn der Mensch den Gedanken fassen sollte,
auf solche Umwandlungen hinzuarbeiten, solche Erfahrungen wurden uun eben
zufällig gemacht an den für den Kult bestimmten Tieren.

Das gilt besonders auch für das Pflugtier, den Ochsen. Der heutige
Landwirt zieht den Ochsen dem Stiere vor, weil er sanftmütiger und lenksamer
ist, aber woher konnte man das wissen, daß die Ochsen diesen Vorzug haben,
wenn keine vorhanden waren? Es muß also die Kastration der Erkenntnis des
Zwecks, zu dem sie jetzt vorgenommen wird, vorhergegangen, sie muß aus
irgend einem andern Grunde vorgenommen worden sein. Auch das war ein
religiöser Grund. Die große Göttin mußte, wenn sie ihre Gaben gewähren
sollte, aufs heftigste bestürmt werden, sie forderte von ihren Verehrern, oder
wenigstens von ihren Priestern, deren Inbrunst den Mangel der Laien ersetzen
muß, religiöse Exaltation, einen orgiastischen Taumel. Ein solcher ist aber
bei Leuten schwer zu erzeugen, die regelmäßig arbeiten und in ordentlicher
Ehe leben, daher fordert die Göttin Diener und Dienerinnen, die entweder
in wilden Ausschweifungen oder in strenger Enthaltsamkeit leben, und da diese
bei Männern nur auf künstlichem Wege erzwungen werden kann, so wird die
Kastration religiöser Brauch. Diese Vorstellung wird dann auch auf die heiligen
Tiere der Göttin übertragen. Ihr Bild -- der Wunsch, dieses von Ort zu
Ort bewegen zu können, lehrt zuerst die Rinder als Zugtiere gebrauchen --
darf nur von noch unberührten Kühen oder von Ochsen gezogen werden. Dann
spannt man dieses heilige Tier an den ebenfalls heiligen Pflug. Auch bei
ihm ging der Gebrauch aus religiösen Gründen der Erkenntnis seines wirt¬
schaftlichen Nutzens vorher; welches seine ursprüngliche Bedeutung war, lehrt
Hahn S. 93 bis 98. So erführe der alte Glaube, daß die Götter deu Acker¬
bau gelehrt Hütten, eine wissenschaftliche Bestätigung, die seinen eigentlichen


Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker

nach und nach die Eigenschaften bemerkt, die der Mensch für sich nutzbar
machen kann, z. B. der Wohlgeschmack ihrer Milch und die Verwendbarkeit
der Haare. Nun fing der Mensch an, nicht bloß für die Göttin, sondern auch
zum eignen Gebrauch solche Tiere einzufangen. Aber die Göttin, die ihre
Wohlthaten nicht anders als unter grausamen Bedingungen spendet, fordert
von allen Besitztümern des Menschen immer das beste und ihm liebste Stück
als Opfer. Daher mußten stets die milchreichsten Kühe und die am dichtesten
behaarten Schafe der Göttin, d. h. in diesem Falle den Priestern, dargebracht
werden. So sammelte sich bei diesen ein Bestand von guten Zuchttieren an,
woraus sich eine stetige Verbesserung der Nasse ergab. „Es muß ein starkes
Machtmittel gewesen sein, das der eingebornen Indolenz und Roheit der
Menschen entgegenwirkte ^was die eingcfanguen Tiere zu Nutztieren um¬
gewandelt hat^, ein solches gewährte aber nur der religiöse Zwang." Und
nicht bloß um die Überwindung der Trägheit und Sorglosigkeit des Natur¬
menschen handelte es sich, es mußte ja die Erfahrung von dem Nutzen der
Umwandlung erst gemacht werden, wenn der Mensch den Gedanken fassen sollte,
auf solche Umwandlungen hinzuarbeiten, solche Erfahrungen wurden uun eben
zufällig gemacht an den für den Kult bestimmten Tieren.

Das gilt besonders auch für das Pflugtier, den Ochsen. Der heutige
Landwirt zieht den Ochsen dem Stiere vor, weil er sanftmütiger und lenksamer
ist, aber woher konnte man das wissen, daß die Ochsen diesen Vorzug haben,
wenn keine vorhanden waren? Es muß also die Kastration der Erkenntnis des
Zwecks, zu dem sie jetzt vorgenommen wird, vorhergegangen, sie muß aus
irgend einem andern Grunde vorgenommen worden sein. Auch das war ein
religiöser Grund. Die große Göttin mußte, wenn sie ihre Gaben gewähren
sollte, aufs heftigste bestürmt werden, sie forderte von ihren Verehrern, oder
wenigstens von ihren Priestern, deren Inbrunst den Mangel der Laien ersetzen
muß, religiöse Exaltation, einen orgiastischen Taumel. Ein solcher ist aber
bei Leuten schwer zu erzeugen, die regelmäßig arbeiten und in ordentlicher
Ehe leben, daher fordert die Göttin Diener und Dienerinnen, die entweder
in wilden Ausschweifungen oder in strenger Enthaltsamkeit leben, und da diese
bei Männern nur auf künstlichem Wege erzwungen werden kann, so wird die
Kastration religiöser Brauch. Diese Vorstellung wird dann auch auf die heiligen
Tiere der Göttin übertragen. Ihr Bild — der Wunsch, dieses von Ort zu
Ort bewegen zu können, lehrt zuerst die Rinder als Zugtiere gebrauchen —
darf nur von noch unberührten Kühen oder von Ochsen gezogen werden. Dann
spannt man dieses heilige Tier an den ebenfalls heiligen Pflug. Auch bei
ihm ging der Gebrauch aus religiösen Gründen der Erkenntnis seines wirt¬
schaftlichen Nutzens vorher; welches seine ursprüngliche Bedeutung war, lehrt
Hahn S. 93 bis 98. So erführe der alte Glaube, daß die Götter deu Acker¬
bau gelehrt Hütten, eine wissenschaftliche Bestätigung, die seinen eigentlichen


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[0408] Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker nach und nach die Eigenschaften bemerkt, die der Mensch für sich nutzbar machen kann, z. B. der Wohlgeschmack ihrer Milch und die Verwendbarkeit der Haare. Nun fing der Mensch an, nicht bloß für die Göttin, sondern auch zum eignen Gebrauch solche Tiere einzufangen. Aber die Göttin, die ihre Wohlthaten nicht anders als unter grausamen Bedingungen spendet, fordert von allen Besitztümern des Menschen immer das beste und ihm liebste Stück als Opfer. Daher mußten stets die milchreichsten Kühe und die am dichtesten behaarten Schafe der Göttin, d. h. in diesem Falle den Priestern, dargebracht werden. So sammelte sich bei diesen ein Bestand von guten Zuchttieren an, woraus sich eine stetige Verbesserung der Nasse ergab. „Es muß ein starkes Machtmittel gewesen sein, das der eingebornen Indolenz und Roheit der Menschen entgegenwirkte ^was die eingcfanguen Tiere zu Nutztieren um¬ gewandelt hat^, ein solches gewährte aber nur der religiöse Zwang." Und nicht bloß um die Überwindung der Trägheit und Sorglosigkeit des Natur¬ menschen handelte es sich, es mußte ja die Erfahrung von dem Nutzen der Umwandlung erst gemacht werden, wenn der Mensch den Gedanken fassen sollte, auf solche Umwandlungen hinzuarbeiten, solche Erfahrungen wurden uun eben zufällig gemacht an den für den Kult bestimmten Tieren. Das gilt besonders auch für das Pflugtier, den Ochsen. Der heutige Landwirt zieht den Ochsen dem Stiere vor, weil er sanftmütiger und lenksamer ist, aber woher konnte man das wissen, daß die Ochsen diesen Vorzug haben, wenn keine vorhanden waren? Es muß also die Kastration der Erkenntnis des Zwecks, zu dem sie jetzt vorgenommen wird, vorhergegangen, sie muß aus irgend einem andern Grunde vorgenommen worden sein. Auch das war ein religiöser Grund. Die große Göttin mußte, wenn sie ihre Gaben gewähren sollte, aufs heftigste bestürmt werden, sie forderte von ihren Verehrern, oder wenigstens von ihren Priestern, deren Inbrunst den Mangel der Laien ersetzen muß, religiöse Exaltation, einen orgiastischen Taumel. Ein solcher ist aber bei Leuten schwer zu erzeugen, die regelmäßig arbeiten und in ordentlicher Ehe leben, daher fordert die Göttin Diener und Dienerinnen, die entweder in wilden Ausschweifungen oder in strenger Enthaltsamkeit leben, und da diese bei Männern nur auf künstlichem Wege erzwungen werden kann, so wird die Kastration religiöser Brauch. Diese Vorstellung wird dann auch auf die heiligen Tiere der Göttin übertragen. Ihr Bild — der Wunsch, dieses von Ort zu Ort bewegen zu können, lehrt zuerst die Rinder als Zugtiere gebrauchen — darf nur von noch unberührten Kühen oder von Ochsen gezogen werden. Dann spannt man dieses heilige Tier an den ebenfalls heiligen Pflug. Auch bei ihm ging der Gebrauch aus religiösen Gründen der Erkenntnis seines wirt¬ schaftlichen Nutzens vorher; welches seine ursprüngliche Bedeutung war, lehrt Hahn S. 93 bis 98. So erführe der alte Glaube, daß die Götter deu Acker¬ bau gelehrt Hütten, eine wissenschaftliche Bestätigung, die seinen eigentlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/408>, abgerufen am 01.09.2024.