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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Ursachen der Unsicherheit im Innern

sagen wir einem großen Teil, dein überwiegend größten Teil des Volks gebildet
hatte, und wodurch lange Zeit die politische Lage bestimmt wurde, ganz eigen¬
tümlich und ungewöhnlich war, daß die Bedeutung einer außerordentlichen
Persönlichkeit und große ungewöhnliche Zeitereignisse zusammengewirkt hatten,
ein solches Verhältnis zu ermöglichen. Es sollte allgemein zugegeben werden,
daß hiervon nicht sür alle Zeiten das Muster einer Regierung entlehnt
werden darf, und die, die den Ruf nach der "starken Hand" erheben, sollten
sich eines geflügelten Worts erinnern und bedenken, daß die Zeit gekommen
ist, wo Deutschland zeigen muß, daß es "reiten" kann, nachdem es von
geschickter Hand in den Sattel gehoben worden ist.

Die auf beideu Seiten erhobnen Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt.
Auch im Volke fehlt es zu sehr an der Fähigkeit zu fruchtbarer Parteibildung
und fruchtbarer politischer Thätigkeit. Alle Versuche, ein neues Kartell zu
bilden, sind schmählich gescheitert, weil die Bedingungen für eine Parteibildung
nach dem Muster der frühern nicht mehr vorhanden sind. Auch das Volk
bedarf der politischen Erziehung, weil es unter der Bismarckschen Regierung
die Selbstthätigkeit zu sehr verlernt hat, aber die Fähigkeit zu fruchtbarer
Thätigkeit wird sich schon einstellen, wenn dem Volke größere Selbständigkeit
gewährt wird, wenn man im Volke weiß, daß die Parteibildung und das
Stärkeverhältuis der Parteien für die Gesetzgebung entscheidend ist. Vor allem
aber: wenn gewohnheitsgemäß ans die Initiative der Negierung so viel Wert
gelegt wird, ist das Verlangen berechtigt, daß die Negierung einen festen
Kurs steuere.

Und da stellt sich denn mehr und mehr als ein Mangel heraus, was als
ein Vorzug gepriesen worden ist. Es ist als die Aufgabe der Regierung
bezeichnet worden, keinen bestimmten Parteistandpunkt einzunehmen, vielmehr
unter den Parteiprogrammen eine Auswahl zu treffen. Aber dieses Bestreben,
Parteilichkeit und Einseitigkeit zu vermeiden, hat zu einem haltlosen Schwanken
geführt. Es ist zuzugeben, daß Ausschreitungen des Parteigeistes verwerflich
sind, daß der Parteikampf viel Abstoßendes hat. Aber daraus darf nicht
gefolgert werden, daß Parteilosigkeit ein Vorzug und das Festhalten bestimmter
Grundsätze entbehrlich sei. Bei Personenwechseln in der Negierung ist mehrfach
die Versicherung abgegeben worden, daß es sich nicht um einen Systemwechsel
handle. In Wahrheit aber wird damit die Berechtigung des Personenwechsels
sehr in Frage gestellt. Denn nicht Personenfragen, sondern wichtige politische
Fragen sollten in solchen Fällen entscheiden. Welche Gründe eigentlich für
die Entlassung von Ministern und die Neubesetzung ihrer Ämter bestimmend
waren, ist in mehreren Fällen nicht genügend aufgeklärt worden. Die Auskunft
aber, daß politische Meinungsverschiedenheiten nicht den Anlaß zur Entlastung
gegeben hätten, eine Änderung der Regierungspvlitik nicht beabsichtigt sei,
kann nach keiner Seite befriedigen. Denn im Volke ist man von der Not-


Die Ursachen der Unsicherheit im Innern

sagen wir einem großen Teil, dein überwiegend größten Teil des Volks gebildet
hatte, und wodurch lange Zeit die politische Lage bestimmt wurde, ganz eigen¬
tümlich und ungewöhnlich war, daß die Bedeutung einer außerordentlichen
Persönlichkeit und große ungewöhnliche Zeitereignisse zusammengewirkt hatten,
ein solches Verhältnis zu ermöglichen. Es sollte allgemein zugegeben werden,
daß hiervon nicht sür alle Zeiten das Muster einer Regierung entlehnt
werden darf, und die, die den Ruf nach der „starken Hand" erheben, sollten
sich eines geflügelten Worts erinnern und bedenken, daß die Zeit gekommen
ist, wo Deutschland zeigen muß, daß es „reiten" kann, nachdem es von
geschickter Hand in den Sattel gehoben worden ist.

Die auf beideu Seiten erhobnen Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt.
Auch im Volke fehlt es zu sehr an der Fähigkeit zu fruchtbarer Parteibildung
und fruchtbarer politischer Thätigkeit. Alle Versuche, ein neues Kartell zu
bilden, sind schmählich gescheitert, weil die Bedingungen für eine Parteibildung
nach dem Muster der frühern nicht mehr vorhanden sind. Auch das Volk
bedarf der politischen Erziehung, weil es unter der Bismarckschen Regierung
die Selbstthätigkeit zu sehr verlernt hat, aber die Fähigkeit zu fruchtbarer
Thätigkeit wird sich schon einstellen, wenn dem Volke größere Selbständigkeit
gewährt wird, wenn man im Volke weiß, daß die Parteibildung und das
Stärkeverhältuis der Parteien für die Gesetzgebung entscheidend ist. Vor allem
aber: wenn gewohnheitsgemäß ans die Initiative der Negierung so viel Wert
gelegt wird, ist das Verlangen berechtigt, daß die Negierung einen festen
Kurs steuere.

Und da stellt sich denn mehr und mehr als ein Mangel heraus, was als
ein Vorzug gepriesen worden ist. Es ist als die Aufgabe der Regierung
bezeichnet worden, keinen bestimmten Parteistandpunkt einzunehmen, vielmehr
unter den Parteiprogrammen eine Auswahl zu treffen. Aber dieses Bestreben,
Parteilichkeit und Einseitigkeit zu vermeiden, hat zu einem haltlosen Schwanken
geführt. Es ist zuzugeben, daß Ausschreitungen des Parteigeistes verwerflich
sind, daß der Parteikampf viel Abstoßendes hat. Aber daraus darf nicht
gefolgert werden, daß Parteilosigkeit ein Vorzug und das Festhalten bestimmter
Grundsätze entbehrlich sei. Bei Personenwechseln in der Negierung ist mehrfach
die Versicherung abgegeben worden, daß es sich nicht um einen Systemwechsel
handle. In Wahrheit aber wird damit die Berechtigung des Personenwechsels
sehr in Frage gestellt. Denn nicht Personenfragen, sondern wichtige politische
Fragen sollten in solchen Fällen entscheiden. Welche Gründe eigentlich für
die Entlassung von Ministern und die Neubesetzung ihrer Ämter bestimmend
waren, ist in mehreren Fällen nicht genügend aufgeklärt worden. Die Auskunft
aber, daß politische Meinungsverschiedenheiten nicht den Anlaß zur Entlastung
gegeben hätten, eine Änderung der Regierungspvlitik nicht beabsichtigt sei,
kann nach keiner Seite befriedigen. Denn im Volke ist man von der Not-


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[0395] Die Ursachen der Unsicherheit im Innern sagen wir einem großen Teil, dein überwiegend größten Teil des Volks gebildet hatte, und wodurch lange Zeit die politische Lage bestimmt wurde, ganz eigen¬ tümlich und ungewöhnlich war, daß die Bedeutung einer außerordentlichen Persönlichkeit und große ungewöhnliche Zeitereignisse zusammengewirkt hatten, ein solches Verhältnis zu ermöglichen. Es sollte allgemein zugegeben werden, daß hiervon nicht sür alle Zeiten das Muster einer Regierung entlehnt werden darf, und die, die den Ruf nach der „starken Hand" erheben, sollten sich eines geflügelten Worts erinnern und bedenken, daß die Zeit gekommen ist, wo Deutschland zeigen muß, daß es „reiten" kann, nachdem es von geschickter Hand in den Sattel gehoben worden ist. Die auf beideu Seiten erhobnen Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt. Auch im Volke fehlt es zu sehr an der Fähigkeit zu fruchtbarer Parteibildung und fruchtbarer politischer Thätigkeit. Alle Versuche, ein neues Kartell zu bilden, sind schmählich gescheitert, weil die Bedingungen für eine Parteibildung nach dem Muster der frühern nicht mehr vorhanden sind. Auch das Volk bedarf der politischen Erziehung, weil es unter der Bismarckschen Regierung die Selbstthätigkeit zu sehr verlernt hat, aber die Fähigkeit zu fruchtbarer Thätigkeit wird sich schon einstellen, wenn dem Volke größere Selbständigkeit gewährt wird, wenn man im Volke weiß, daß die Parteibildung und das Stärkeverhältuis der Parteien für die Gesetzgebung entscheidend ist. Vor allem aber: wenn gewohnheitsgemäß ans die Initiative der Negierung so viel Wert gelegt wird, ist das Verlangen berechtigt, daß die Negierung einen festen Kurs steuere. Und da stellt sich denn mehr und mehr als ein Mangel heraus, was als ein Vorzug gepriesen worden ist. Es ist als die Aufgabe der Regierung bezeichnet worden, keinen bestimmten Parteistandpunkt einzunehmen, vielmehr unter den Parteiprogrammen eine Auswahl zu treffen. Aber dieses Bestreben, Parteilichkeit und Einseitigkeit zu vermeiden, hat zu einem haltlosen Schwanken geführt. Es ist zuzugeben, daß Ausschreitungen des Parteigeistes verwerflich sind, daß der Parteikampf viel Abstoßendes hat. Aber daraus darf nicht gefolgert werden, daß Parteilosigkeit ein Vorzug und das Festhalten bestimmter Grundsätze entbehrlich sei. Bei Personenwechseln in der Negierung ist mehrfach die Versicherung abgegeben worden, daß es sich nicht um einen Systemwechsel handle. In Wahrheit aber wird damit die Berechtigung des Personenwechsels sehr in Frage gestellt. Denn nicht Personenfragen, sondern wichtige politische Fragen sollten in solchen Fällen entscheiden. Welche Gründe eigentlich für die Entlassung von Ministern und die Neubesetzung ihrer Ämter bestimmend waren, ist in mehreren Fällen nicht genügend aufgeklärt worden. Die Auskunft aber, daß politische Meinungsverschiedenheiten nicht den Anlaß zur Entlastung gegeben hätten, eine Änderung der Regierungspvlitik nicht beabsichtigt sei, kann nach keiner Seite befriedigen. Denn im Volke ist man von der Not-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/395>, abgerufen am 01.09.2024.