Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Jrrenpflege

die in jedem einzelnen Falle dem Kranken gegenüber einzunehmende Stellung auf¬
merksam zu machen. Eine stufenförmige Einteilung der Wärter besteht wohl
schon jetzt in allen größern Anstalten. Jeder Krankenabteiluug steht der
tüchtigste und meist auch älteste Wärter als sogenannter Stationswärter vor.
Er ist für die Ordnung auf der Station zunächst verantwortlich. Die übrigen
Wärter der Station sind ihm untergeben. An der Spitze des ganzen Wärter¬
personals stehen Oberwürter und Oberwärterin. Was Erlenmeyer gegen die
Stellung des Oberwärters einwendet, entbehrt jeder Berechtigung. Dieser
Beamte ist ein ganz notwendiges Glied der Anstaltsorganisation. Es giebt
in einer Anstalt vielerlei niedern Dienst, der auch zum Teil nicht unmittelbar
mit der Krankenpflege zusammenhängt: es sind allerhand Listen zu führen
über die Bekleidung, das Gewicht, die Beschäftigung der Kranken, es ist die
Sorge für Ordnung und Reinlichkeit zu beaufsichtigen, die Wärter sind in
und außer dem Dienste zu überwachen usw. Wenn man das alles dem Arzte
aufladen wollte, dann würde das sehr kostspielig werden. Außerdem würde
manches sogar weniger gut erledigt werden. Der Oberwärter steht in seinem
Bildungsgrade den Wärtern näher und hat daher in mancher Hinsicht einen
tiefern Einblick in ihr ganzes Thun und Treiben. Um vollends die Wärte¬
rinnen in Zucht zu halten, ist eine ihnen an Bildung überlegne Oberwürterin
ganz unumgänglich nötig. In zu häufigen Besuchen des Arztes bei seinen
Kranken oder gar in seinem dauernden Verweilen auf den Abteilungen sehen
wir schließlich keinen Vorteil. Er muß sich freilich über alles genau unter¬
richten, genaue Befehle erteilen und ihre Durchführung überwachen, aber dazu
ist fortwährende Anwesenheit nicht nötig. Man darf nicht vergessen, daß sehr
viele Kranke vor allem der Ruhe bedürfen, sie müssen -- wenigstens an¬
scheinend -- ganz sich selbst überlassen bleiben. Die Gegenwart des Arztes
aber, zumal wenn er sich mit diesem oder jenem Kranken in ein Gespräch
einläßt, nimmt immer in gewissem Grade die Aufmerksamkeit auch der andern
Kranken in Anspruch. Eine gewisse Gattung von Kranken, unheilbar Ver¬
rückte, die an Größen- und Verfolgungswahn leiden und sich oft nur schwer
der Austaltsordnung fügen, werden meist allein dnrch das achtunggebietende
Wesen des Arztes in Schranken gehalten. Der Arzt verliert aber diesen
wohlthätigen Einfluß, deu er seiner höhern Bildung verdankt, sobald er
sich mit diesen Kranken zu gemein macht. Er darf mit ihnen nicht mehr Ver¬
kehren, als gerade zu ihrer dauernden Beobachtung nötig ist. Aber auch die
Wärter leisten durchaus nicht besseres, wenn das Auge des Arztes fort¬
während auf ihnen ruht, und seine Anordnungen allzuoft in ihre Arbeit
eingreifen. Jeder tüchtige Mensch muß in seiner Thätigkeit eine gewisse Selb¬
ständigkeit haben. Allzu große Geschäftigkeit ist daher nicht die richtige Art
sorgfältiger Krankenpflege. Das gilt hier gerade so wie in andern Berufen
auch. Wenn der Hauptmann fortwährend dem Nekrutendrillen beiwohnen


Zur Jrrenpflege

die in jedem einzelnen Falle dem Kranken gegenüber einzunehmende Stellung auf¬
merksam zu machen. Eine stufenförmige Einteilung der Wärter besteht wohl
schon jetzt in allen größern Anstalten. Jeder Krankenabteiluug steht der
tüchtigste und meist auch älteste Wärter als sogenannter Stationswärter vor.
Er ist für die Ordnung auf der Station zunächst verantwortlich. Die übrigen
Wärter der Station sind ihm untergeben. An der Spitze des ganzen Wärter¬
personals stehen Oberwürter und Oberwärterin. Was Erlenmeyer gegen die
Stellung des Oberwärters einwendet, entbehrt jeder Berechtigung. Dieser
Beamte ist ein ganz notwendiges Glied der Anstaltsorganisation. Es giebt
in einer Anstalt vielerlei niedern Dienst, der auch zum Teil nicht unmittelbar
mit der Krankenpflege zusammenhängt: es sind allerhand Listen zu führen
über die Bekleidung, das Gewicht, die Beschäftigung der Kranken, es ist die
Sorge für Ordnung und Reinlichkeit zu beaufsichtigen, die Wärter sind in
und außer dem Dienste zu überwachen usw. Wenn man das alles dem Arzte
aufladen wollte, dann würde das sehr kostspielig werden. Außerdem würde
manches sogar weniger gut erledigt werden. Der Oberwärter steht in seinem
Bildungsgrade den Wärtern näher und hat daher in mancher Hinsicht einen
tiefern Einblick in ihr ganzes Thun und Treiben. Um vollends die Wärte¬
rinnen in Zucht zu halten, ist eine ihnen an Bildung überlegne Oberwürterin
ganz unumgänglich nötig. In zu häufigen Besuchen des Arztes bei seinen
Kranken oder gar in seinem dauernden Verweilen auf den Abteilungen sehen
wir schließlich keinen Vorteil. Er muß sich freilich über alles genau unter¬
richten, genaue Befehle erteilen und ihre Durchführung überwachen, aber dazu
ist fortwährende Anwesenheit nicht nötig. Man darf nicht vergessen, daß sehr
viele Kranke vor allem der Ruhe bedürfen, sie müssen — wenigstens an¬
scheinend — ganz sich selbst überlassen bleiben. Die Gegenwart des Arztes
aber, zumal wenn er sich mit diesem oder jenem Kranken in ein Gespräch
einläßt, nimmt immer in gewissem Grade die Aufmerksamkeit auch der andern
Kranken in Anspruch. Eine gewisse Gattung von Kranken, unheilbar Ver¬
rückte, die an Größen- und Verfolgungswahn leiden und sich oft nur schwer
der Austaltsordnung fügen, werden meist allein dnrch das achtunggebietende
Wesen des Arztes in Schranken gehalten. Der Arzt verliert aber diesen
wohlthätigen Einfluß, deu er seiner höhern Bildung verdankt, sobald er
sich mit diesen Kranken zu gemein macht. Er darf mit ihnen nicht mehr Ver¬
kehren, als gerade zu ihrer dauernden Beobachtung nötig ist. Aber auch die
Wärter leisten durchaus nicht besseres, wenn das Auge des Arztes fort¬
während auf ihnen ruht, und seine Anordnungen allzuoft in ihre Arbeit
eingreifen. Jeder tüchtige Mensch muß in seiner Thätigkeit eine gewisse Selb¬
ständigkeit haben. Allzu große Geschäftigkeit ist daher nicht die richtige Art
sorgfältiger Krankenpflege. Das gilt hier gerade so wie in andern Berufen
auch. Wenn der Hauptmann fortwährend dem Nekrutendrillen beiwohnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223292"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Jrrenpflege</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1021" prev="#ID_1020" next="#ID_1022"> die in jedem einzelnen Falle dem Kranken gegenüber einzunehmende Stellung auf¬<lb/>
merksam zu machen. Eine stufenförmige Einteilung der Wärter besteht wohl<lb/>
schon jetzt in allen größern Anstalten. Jeder Krankenabteiluug steht der<lb/>
tüchtigste und meist auch älteste Wärter als sogenannter Stationswärter vor.<lb/>
Er ist für die Ordnung auf der Station zunächst verantwortlich. Die übrigen<lb/>
Wärter der Station sind ihm untergeben. An der Spitze des ganzen Wärter¬<lb/>
personals stehen Oberwürter und Oberwärterin. Was Erlenmeyer gegen die<lb/>
Stellung des Oberwärters einwendet, entbehrt jeder Berechtigung. Dieser<lb/>
Beamte ist ein ganz notwendiges Glied der Anstaltsorganisation. Es giebt<lb/>
in einer Anstalt vielerlei niedern Dienst, der auch zum Teil nicht unmittelbar<lb/>
mit der Krankenpflege zusammenhängt: es sind allerhand Listen zu führen<lb/>
über die Bekleidung, das Gewicht, die Beschäftigung der Kranken, es ist die<lb/>
Sorge für Ordnung und Reinlichkeit zu beaufsichtigen, die Wärter sind in<lb/>
und außer dem Dienste zu überwachen usw. Wenn man das alles dem Arzte<lb/>
aufladen wollte, dann würde das sehr kostspielig werden. Außerdem würde<lb/>
manches sogar weniger gut erledigt werden. Der Oberwärter steht in seinem<lb/>
Bildungsgrade den Wärtern näher und hat daher in mancher Hinsicht einen<lb/>
tiefern Einblick in ihr ganzes Thun und Treiben. Um vollends die Wärte¬<lb/>
rinnen in Zucht zu halten, ist eine ihnen an Bildung überlegne Oberwürterin<lb/>
ganz unumgänglich nötig. In zu häufigen Besuchen des Arztes bei seinen<lb/>
Kranken oder gar in seinem dauernden Verweilen auf den Abteilungen sehen<lb/>
wir schließlich keinen Vorteil. Er muß sich freilich über alles genau unter¬<lb/>
richten, genaue Befehle erteilen und ihre Durchführung überwachen, aber dazu<lb/>
ist fortwährende Anwesenheit nicht nötig. Man darf nicht vergessen, daß sehr<lb/>
viele Kranke vor allem der Ruhe bedürfen, sie müssen &#x2014; wenigstens an¬<lb/>
scheinend &#x2014; ganz sich selbst überlassen bleiben. Die Gegenwart des Arztes<lb/>
aber, zumal wenn er sich mit diesem oder jenem Kranken in ein Gespräch<lb/>
einläßt, nimmt immer in gewissem Grade die Aufmerksamkeit auch der andern<lb/>
Kranken in Anspruch. Eine gewisse Gattung von Kranken, unheilbar Ver¬<lb/>
rückte, die an Größen- und Verfolgungswahn leiden und sich oft nur schwer<lb/>
der Austaltsordnung fügen, werden meist allein dnrch das achtunggebietende<lb/>
Wesen des Arztes in Schranken gehalten. Der Arzt verliert aber diesen<lb/>
wohlthätigen Einfluß, deu er seiner höhern Bildung verdankt, sobald er<lb/>
sich mit diesen Kranken zu gemein macht. Er darf mit ihnen nicht mehr Ver¬<lb/>
kehren, als gerade zu ihrer dauernden Beobachtung nötig ist. Aber auch die<lb/>
Wärter leisten durchaus nicht besseres, wenn das Auge des Arztes fort¬<lb/>
während auf ihnen ruht, und seine Anordnungen allzuoft in ihre Arbeit<lb/>
eingreifen. Jeder tüchtige Mensch muß in seiner Thätigkeit eine gewisse Selb¬<lb/>
ständigkeit haben. Allzu große Geschäftigkeit ist daher nicht die richtige Art<lb/>
sorgfältiger Krankenpflege. Das gilt hier gerade so wie in andern Berufen<lb/>
auch.  Wenn der Hauptmann fortwährend dem Nekrutendrillen beiwohnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Zur Jrrenpflege die in jedem einzelnen Falle dem Kranken gegenüber einzunehmende Stellung auf¬ merksam zu machen. Eine stufenförmige Einteilung der Wärter besteht wohl schon jetzt in allen größern Anstalten. Jeder Krankenabteiluug steht der tüchtigste und meist auch älteste Wärter als sogenannter Stationswärter vor. Er ist für die Ordnung auf der Station zunächst verantwortlich. Die übrigen Wärter der Station sind ihm untergeben. An der Spitze des ganzen Wärter¬ personals stehen Oberwürter und Oberwärterin. Was Erlenmeyer gegen die Stellung des Oberwärters einwendet, entbehrt jeder Berechtigung. Dieser Beamte ist ein ganz notwendiges Glied der Anstaltsorganisation. Es giebt in einer Anstalt vielerlei niedern Dienst, der auch zum Teil nicht unmittelbar mit der Krankenpflege zusammenhängt: es sind allerhand Listen zu führen über die Bekleidung, das Gewicht, die Beschäftigung der Kranken, es ist die Sorge für Ordnung und Reinlichkeit zu beaufsichtigen, die Wärter sind in und außer dem Dienste zu überwachen usw. Wenn man das alles dem Arzte aufladen wollte, dann würde das sehr kostspielig werden. Außerdem würde manches sogar weniger gut erledigt werden. Der Oberwärter steht in seinem Bildungsgrade den Wärtern näher und hat daher in mancher Hinsicht einen tiefern Einblick in ihr ganzes Thun und Treiben. Um vollends die Wärte¬ rinnen in Zucht zu halten, ist eine ihnen an Bildung überlegne Oberwürterin ganz unumgänglich nötig. In zu häufigen Besuchen des Arztes bei seinen Kranken oder gar in seinem dauernden Verweilen auf den Abteilungen sehen wir schließlich keinen Vorteil. Er muß sich freilich über alles genau unter¬ richten, genaue Befehle erteilen und ihre Durchführung überwachen, aber dazu ist fortwährende Anwesenheit nicht nötig. Man darf nicht vergessen, daß sehr viele Kranke vor allem der Ruhe bedürfen, sie müssen — wenigstens an¬ scheinend — ganz sich selbst überlassen bleiben. Die Gegenwart des Arztes aber, zumal wenn er sich mit diesem oder jenem Kranken in ein Gespräch einläßt, nimmt immer in gewissem Grade die Aufmerksamkeit auch der andern Kranken in Anspruch. Eine gewisse Gattung von Kranken, unheilbar Ver¬ rückte, die an Größen- und Verfolgungswahn leiden und sich oft nur schwer der Austaltsordnung fügen, werden meist allein dnrch das achtunggebietende Wesen des Arztes in Schranken gehalten. Der Arzt verliert aber diesen wohlthätigen Einfluß, deu er seiner höhern Bildung verdankt, sobald er sich mit diesen Kranken zu gemein macht. Er darf mit ihnen nicht mehr Ver¬ kehren, als gerade zu ihrer dauernden Beobachtung nötig ist. Aber auch die Wärter leisten durchaus nicht besseres, wenn das Auge des Arztes fort¬ während auf ihnen ruht, und seine Anordnungen allzuoft in ihre Arbeit eingreifen. Jeder tüchtige Mensch muß in seiner Thätigkeit eine gewisse Selb¬ ständigkeit haben. Allzu große Geschäftigkeit ist daher nicht die richtige Art sorgfältiger Krankenpflege. Das gilt hier gerade so wie in andern Berufen auch. Wenn der Hauptmann fortwährend dem Nekrutendrillen beiwohnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/350>, abgerufen am 01.09.2024.