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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

aß eine Schwenkung der Regierungspolitik auf sozialpolitischen
Gebiete stattgefunden habe, ist in der offiziösen Presse lebhaft
bestritten worden, namentlich als beim Abgang des Hcmdcls-
ministcrs v. Berlepsch diese Behauptung mehrfach aufgestellt
wurde. Wir sollen eben immer an die Kontinuität der Re-
gierungspvlitik glauben, auch wenn sie nach ziemlich allgemeinem Urteil recht
starke Pendelschwingungen macht. Es bleibt alles beim alten -- so ist be¬
hauptet worden beim Abgang des Fürsten Bismarck, behauptet worden beim
Abschluß der Handelsverträge, wobei angeblich ganz und gar die bisher be¬
folgten schutzzöllnerischen Grundsätze gewahrt werden sollten, behauptet worden
beim Abgang des Grafen v. Caprivi, des Ministers v. Koller, des Ministers
v. Berlepsch. Aber die öffentliche Meinung hat sich jedesmal bei dieser Aus¬
kunft nicht ganz beruhigt. Sie hat jedesmal vor dem Rücktritt dieser Minister
"Reibungen," MißHelligkeiten zu entdecken geglaubt, und sie hat nachher ge¬
funden, daß der "Kurs" doch nicht genau der alte geblieben sei. Sie hat
geglaubt, daß sich der Durchführung der bisher von der Regierung befolgten
Grundsätze Schwierigkeiten entgegenstellten, daher dann in der Person eines
Vertreters dieser Grundsätze ein Opfer habe gebracht werden müssen. Offiziöse
Beschönigungsversuche konnten dieses Urteil nicht umstoßen.

Nun sollte ja billigerweise, so wenig wie dem Einzelnen im Privatleben,
der Regierung und Gesetzgebung eines Landes ein Vorwurf daraus gemacht
werden, wenn sie Wege verläßt, die sich als unzweckmäßig herausgestellt haben.
Es ist vielmehr Pflicht, erkannte Irrtümer gut zu machen, und es sind nicht
die schlechtesten Politiker, die sich belehren lassen und lernen. Nur darf dann
immer verlangt werden, daß die Änderungen wohlbegründet sind, daß eine
zwingende Notwendigkeit dazu vorliegt, und daß sie nicht bloß aus einer


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Der sozialpolitische Kurs

aß eine Schwenkung der Regierungspolitik auf sozialpolitischen
Gebiete stattgefunden habe, ist in der offiziösen Presse lebhaft
bestritten worden, namentlich als beim Abgang des Hcmdcls-
ministcrs v. Berlepsch diese Behauptung mehrfach aufgestellt
wurde. Wir sollen eben immer an die Kontinuität der Re-
gierungspvlitik glauben, auch wenn sie nach ziemlich allgemeinem Urteil recht
starke Pendelschwingungen macht. Es bleibt alles beim alten — so ist be¬
hauptet worden beim Abgang des Fürsten Bismarck, behauptet worden beim
Abschluß der Handelsverträge, wobei angeblich ganz und gar die bisher be¬
folgten schutzzöllnerischen Grundsätze gewahrt werden sollten, behauptet worden
beim Abgang des Grafen v. Caprivi, des Ministers v. Koller, des Ministers
v. Berlepsch. Aber die öffentliche Meinung hat sich jedesmal bei dieser Aus¬
kunft nicht ganz beruhigt. Sie hat jedesmal vor dem Rücktritt dieser Minister
„Reibungen," MißHelligkeiten zu entdecken geglaubt, und sie hat nachher ge¬
funden, daß der „Kurs" doch nicht genau der alte geblieben sei. Sie hat
geglaubt, daß sich der Durchführung der bisher von der Regierung befolgten
Grundsätze Schwierigkeiten entgegenstellten, daher dann in der Person eines
Vertreters dieser Grundsätze ein Opfer habe gebracht werden müssen. Offiziöse
Beschönigungsversuche konnten dieses Urteil nicht umstoßen.

Nun sollte ja billigerweise, so wenig wie dem Einzelnen im Privatleben,
der Regierung und Gesetzgebung eines Landes ein Vorwurf daraus gemacht
werden, wenn sie Wege verläßt, die sich als unzweckmäßig herausgestellt haben.
Es ist vielmehr Pflicht, erkannte Irrtümer gut zu machen, und es sind nicht
die schlechtesten Politiker, die sich belehren lassen und lernen. Nur darf dann
immer verlangt werden, daß die Änderungen wohlbegründet sind, daß eine
zwingende Notwendigkeit dazu vorliegt, und daß sie nicht bloß aus einer


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[0297] [Abbildung] Der sozialpolitische Kurs aß eine Schwenkung der Regierungspolitik auf sozialpolitischen Gebiete stattgefunden habe, ist in der offiziösen Presse lebhaft bestritten worden, namentlich als beim Abgang des Hcmdcls- ministcrs v. Berlepsch diese Behauptung mehrfach aufgestellt wurde. Wir sollen eben immer an die Kontinuität der Re- gierungspvlitik glauben, auch wenn sie nach ziemlich allgemeinem Urteil recht starke Pendelschwingungen macht. Es bleibt alles beim alten — so ist be¬ hauptet worden beim Abgang des Fürsten Bismarck, behauptet worden beim Abschluß der Handelsverträge, wobei angeblich ganz und gar die bisher be¬ folgten schutzzöllnerischen Grundsätze gewahrt werden sollten, behauptet worden beim Abgang des Grafen v. Caprivi, des Ministers v. Koller, des Ministers v. Berlepsch. Aber die öffentliche Meinung hat sich jedesmal bei dieser Aus¬ kunft nicht ganz beruhigt. Sie hat jedesmal vor dem Rücktritt dieser Minister „Reibungen," MißHelligkeiten zu entdecken geglaubt, und sie hat nachher ge¬ funden, daß der „Kurs" doch nicht genau der alte geblieben sei. Sie hat geglaubt, daß sich der Durchführung der bisher von der Regierung befolgten Grundsätze Schwierigkeiten entgegenstellten, daher dann in der Person eines Vertreters dieser Grundsätze ein Opfer habe gebracht werden müssen. Offiziöse Beschönigungsversuche konnten dieses Urteil nicht umstoßen. Nun sollte ja billigerweise, so wenig wie dem Einzelnen im Privatleben, der Regierung und Gesetzgebung eines Landes ein Vorwurf daraus gemacht werden, wenn sie Wege verläßt, die sich als unzweckmäßig herausgestellt haben. Es ist vielmehr Pflicht, erkannte Irrtümer gut zu machen, und es sind nicht die schlechtesten Politiker, die sich belehren lassen und lernen. Nur darf dann immer verlangt werden, daß die Änderungen wohlbegründet sind, daß eine zwingende Notwendigkeit dazu vorliegt, und daß sie nicht bloß aus einer Grenzboten IN 139» 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/297>, abgerufen am 01.09.2024.