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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

dem Titelblatt war ein Kupferstich: ein Faun wirft einen Knüttel unter ein
Rudel Hunde; darunter die Unterschrift: "Der sich getroffen fühlt, schreit."

Das Bündchen enthält folgende sechs Gemäldebeschreibungen: 1. Zwei
weibliche Porträts. 2. Ein Bigamist. 3. Eine männliche Figur. 4. Mann
und Weib. 5. Ein Priester. 6. Ein Jüngling. Zwei Leute, so wird an¬
genommen, Eugenius und Pamphilus, stehen vor den Gemälden und unter¬
halten sich darüber; doch führt Pamphilus das Wort, Eugenius wirft nur
manchmal einen Satz dazwischen, damit ein Dialog zustande zu kommen scheint.
Auch sonst ist die beabsichtigte Form ungeschickt behandelt: aus der kurzen
Beschreibung eines Bildes verfällt der Verfasser gewöhnlich schon nach wenigen
Zeilen in eine lange Lebensbeschreibung des Dargestellten. Am besten ist sie
noch in dem ersten Stück festgehalten, wo in eine ziemlich ausführliche Bild¬
beschreibung biographische Züge der dargestellten Frau mehr vermutungsweise
eingeflochten sind. Da wird erst ausführlich ihr Gesicht geschildert -- "die
Miene und der Anstand, mit dem sich der Kopf zu erheben sucht, verrät einen
niedrigen und pöbelhafter Stolz" --, dann die Tracht: "dem Anschein nach
hat der Künstler die lächerlichste von den neuen Moden gewählt. Betrachte
nur den über alles Verhältnis großen Hut. Er ist von weißem Flor und
blau untergeschlagen. Der Kopf hat eine Gestalt, die ich mit nichts vergleichen
kann als mit einem Brauzober, wenn er umgekehrt wird." Dann heißt es
weiter: "Die Geschichte dieses Porträts habe ich mir jederzeit so gedacht. Die
niedrige Miene zeigt mir deutlich, daß die Dame von ganz gemeiner Herkunft
und ohne alle Erziehung ist. Ihre Ältern aber haben sich ein ziemliches Ver¬
mögen erworben -- in großen Städten kann man das, und wenn man auch
nur Bier schenkt -- und haben sodann ihre Tochter zu einer Mamsell heraus-
staffirt. An die Bildung ihres Verstandes haben die guten Leute nicht gedacht,
und das gute Mädchen ebenfalls nicht. Sie hat zwar verschiedene Romane
gelesen, aber auch nur darum, weil ihre Freundin sie las, und ihr auch über¬
dies der Stand einer Mamsell das Romanlesen mit sich zu bringen schien.
Endlich, da sie die Mamsell einige Jahre gemacht hatte, fand sich jemand aus
einer höhern Klasse und machte sie zur Dame. Der gute Mann -- wir wollen
annehmen, es war ein Offizier -- sahe, daß es mit dem Schifflein seiner Hoff¬
nungen auf die Neige ginge, und leitete es in diesen Nothafen, wo es übrigens
sicher liegt. Er bekam eine ansehnliche Summe Geldes, und die Mamsell den
Namen einer gnädigen Frau."

Obwohl sich der Verfasser in der Vorrede umständlich dagegen verwahrt,
daß er "irgend einen lebenden Menschen habe pasquilliren wollen," und er¬
klärt, daß er jeden "mit Lächeln von sich weisen werde," der sich etwa ge¬
troffen fühlen und ihn deshalb zur Rede setzen wollte, hatte er doch mehr
oder weniger kenntlich Personen aus der Leipziger Gesellschaft geschildert.
Wahrscheinlich konnte man, wie beim "Goldfitz Suseka," die Leute, die er ab-


Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

dem Titelblatt war ein Kupferstich: ein Faun wirft einen Knüttel unter ein
Rudel Hunde; darunter die Unterschrift: „Der sich getroffen fühlt, schreit."

Das Bündchen enthält folgende sechs Gemäldebeschreibungen: 1. Zwei
weibliche Porträts. 2. Ein Bigamist. 3. Eine männliche Figur. 4. Mann
und Weib. 5. Ein Priester. 6. Ein Jüngling. Zwei Leute, so wird an¬
genommen, Eugenius und Pamphilus, stehen vor den Gemälden und unter¬
halten sich darüber; doch führt Pamphilus das Wort, Eugenius wirft nur
manchmal einen Satz dazwischen, damit ein Dialog zustande zu kommen scheint.
Auch sonst ist die beabsichtigte Form ungeschickt behandelt: aus der kurzen
Beschreibung eines Bildes verfällt der Verfasser gewöhnlich schon nach wenigen
Zeilen in eine lange Lebensbeschreibung des Dargestellten. Am besten ist sie
noch in dem ersten Stück festgehalten, wo in eine ziemlich ausführliche Bild¬
beschreibung biographische Züge der dargestellten Frau mehr vermutungsweise
eingeflochten sind. Da wird erst ausführlich ihr Gesicht geschildert — „die
Miene und der Anstand, mit dem sich der Kopf zu erheben sucht, verrät einen
niedrigen und pöbelhafter Stolz" —, dann die Tracht: „dem Anschein nach
hat der Künstler die lächerlichste von den neuen Moden gewählt. Betrachte
nur den über alles Verhältnis großen Hut. Er ist von weißem Flor und
blau untergeschlagen. Der Kopf hat eine Gestalt, die ich mit nichts vergleichen
kann als mit einem Brauzober, wenn er umgekehrt wird." Dann heißt es
weiter: „Die Geschichte dieses Porträts habe ich mir jederzeit so gedacht. Die
niedrige Miene zeigt mir deutlich, daß die Dame von ganz gemeiner Herkunft
und ohne alle Erziehung ist. Ihre Ältern aber haben sich ein ziemliches Ver¬
mögen erworben — in großen Städten kann man das, und wenn man auch
nur Bier schenkt — und haben sodann ihre Tochter zu einer Mamsell heraus-
staffirt. An die Bildung ihres Verstandes haben die guten Leute nicht gedacht,
und das gute Mädchen ebenfalls nicht. Sie hat zwar verschiedene Romane
gelesen, aber auch nur darum, weil ihre Freundin sie las, und ihr auch über¬
dies der Stand einer Mamsell das Romanlesen mit sich zu bringen schien.
Endlich, da sie die Mamsell einige Jahre gemacht hatte, fand sich jemand aus
einer höhern Klasse und machte sie zur Dame. Der gute Mann — wir wollen
annehmen, es war ein Offizier — sahe, daß es mit dem Schifflein seiner Hoff¬
nungen auf die Neige ginge, und leitete es in diesen Nothafen, wo es übrigens
sicher liegt. Er bekam eine ansehnliche Summe Geldes, und die Mamsell den
Namen einer gnädigen Frau."

Obwohl sich der Verfasser in der Vorrede umständlich dagegen verwahrt,
daß er „irgend einen lebenden Menschen habe pasquilliren wollen," und er¬
klärt, daß er jeden „mit Lächeln von sich weisen werde," der sich etwa ge¬
troffen fühlen und ihn deshalb zur Rede setzen wollte, hatte er doch mehr
oder weniger kenntlich Personen aus der Leipziger Gesellschaft geschildert.
Wahrscheinlich konnte man, wie beim „Goldfitz Suseka," die Leute, die er ab-


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[0263] Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts dem Titelblatt war ein Kupferstich: ein Faun wirft einen Knüttel unter ein Rudel Hunde; darunter die Unterschrift: „Der sich getroffen fühlt, schreit." Das Bündchen enthält folgende sechs Gemäldebeschreibungen: 1. Zwei weibliche Porträts. 2. Ein Bigamist. 3. Eine männliche Figur. 4. Mann und Weib. 5. Ein Priester. 6. Ein Jüngling. Zwei Leute, so wird an¬ genommen, Eugenius und Pamphilus, stehen vor den Gemälden und unter¬ halten sich darüber; doch führt Pamphilus das Wort, Eugenius wirft nur manchmal einen Satz dazwischen, damit ein Dialog zustande zu kommen scheint. Auch sonst ist die beabsichtigte Form ungeschickt behandelt: aus der kurzen Beschreibung eines Bildes verfällt der Verfasser gewöhnlich schon nach wenigen Zeilen in eine lange Lebensbeschreibung des Dargestellten. Am besten ist sie noch in dem ersten Stück festgehalten, wo in eine ziemlich ausführliche Bild¬ beschreibung biographische Züge der dargestellten Frau mehr vermutungsweise eingeflochten sind. Da wird erst ausführlich ihr Gesicht geschildert — „die Miene und der Anstand, mit dem sich der Kopf zu erheben sucht, verrät einen niedrigen und pöbelhafter Stolz" —, dann die Tracht: „dem Anschein nach hat der Künstler die lächerlichste von den neuen Moden gewählt. Betrachte nur den über alles Verhältnis großen Hut. Er ist von weißem Flor und blau untergeschlagen. Der Kopf hat eine Gestalt, die ich mit nichts vergleichen kann als mit einem Brauzober, wenn er umgekehrt wird." Dann heißt es weiter: „Die Geschichte dieses Porträts habe ich mir jederzeit so gedacht. Die niedrige Miene zeigt mir deutlich, daß die Dame von ganz gemeiner Herkunft und ohne alle Erziehung ist. Ihre Ältern aber haben sich ein ziemliches Ver¬ mögen erworben — in großen Städten kann man das, und wenn man auch nur Bier schenkt — und haben sodann ihre Tochter zu einer Mamsell heraus- staffirt. An die Bildung ihres Verstandes haben die guten Leute nicht gedacht, und das gute Mädchen ebenfalls nicht. Sie hat zwar verschiedene Romane gelesen, aber auch nur darum, weil ihre Freundin sie las, und ihr auch über¬ dies der Stand einer Mamsell das Romanlesen mit sich zu bringen schien. Endlich, da sie die Mamsell einige Jahre gemacht hatte, fand sich jemand aus einer höhern Klasse und machte sie zur Dame. Der gute Mann — wir wollen annehmen, es war ein Offizier — sahe, daß es mit dem Schifflein seiner Hoff¬ nungen auf die Neige ginge, und leitete es in diesen Nothafen, wo es übrigens sicher liegt. Er bekam eine ansehnliche Summe Geldes, und die Mamsell den Namen einer gnädigen Frau." Obwohl sich der Verfasser in der Vorrede umständlich dagegen verwahrt, daß er „irgend einen lebenden Menschen habe pasquilliren wollen," und er¬ klärt, daß er jeden „mit Lächeln von sich weisen werde," der sich etwa ge¬ troffen fühlen und ihn deshalb zur Rede setzen wollte, hatte er doch mehr oder weniger kenntlich Personen aus der Leipziger Gesellschaft geschildert. Wahrscheinlich konnte man, wie beim „Goldfitz Suseka," die Leute, die er ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/263>, abgerufen am 01.09.2024.