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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

die Litteratur nachweisen. In unserm Jahrhundert wird man zwar die Jahre
1830 und 1890 als litterarisch epochemachend festzuhalten haben, aber nicht
oder doch nur zum Teil in Verbindung mit der Politik: in ihnen treten
Sturm- und Drangbewegungen, die sich aber schou vorher angekündigt hatten,
für die breitern Volkskreise ans Tageslicht -- vom Jahre 1740 an haben
wir eben aller dreißig Jahre den Sturm und Drang, und in unserm Jahr¬
hundert sind also 1800, 1830, 1860, 1890 die betreffenden Jahre, freilich
nur als runde Zahlen. 1848 und 1870 haben im Grunde gar keine litterarische
Bedeutung. Wie ich hier gleich hervorheben will, ist es keineswegs gesagt
daß eine Sturm- und Draugbeweguug immer die gesamte Litteratur durch-
dringe und das Wesentliche und Beste der zeitgenössischen Dichtung bedeute,
standen doch im Jahre 1800 Goethe und Schiller neben der Romantik, 1830
Uhland, Rückert, Grillparzer, Platen und Immermann neben dem jungen
Deutschland, 1860 Hebbel. Ludwig, Mörike, Keller und Freytag neben den
Münchnern. Der Sturm und Drang geht immer von der Jugend aus und
zeigt an, daß ein neues Geschlecht den Schauplatz betritt. Daß dieses Ge¬
schlecht deu litterarischen oder gar den künstlerischen Fortschritt bringt, ist nicht
immer sicher, obwohl es doch in der Regel etwas neues in die Litteratur
hineinträgt; aber stets befinden sich die vom Sturm und Drang ergriffnen
Jungen in heftigem Gegensatz zu den Alten und vertreten in Kunst und Leben
die der bisher herrschenden entgegengesetzte Richtung. Auch für das Gebiet
der Litteratur scheinen Revolutionen eine Notwendigkeit zu sein; denn so gewiß
es ist, daß die sich vordrängende Jugend für alles, was sie erstrebt, An¬
knüpfungen bei den Alten funde, ebenso gewiß übersieht sie das regelmüßig,
holt sich entweder ihre Vorbilder ans fremden Litteraturen oder glaubt gar,
die Kunst von vorn beginnen zu müssen und zu können. Nach und nach, je
mehr sich wirkliche Talente hervorthun und entwickeln, kommt dann der Sturm
zur Ruhe, und das Berechtigte der Bewegung kommt in reifen Gestaltungen
zur Erscheinung, oft erst, wenn die ersten Stürmer und Dränger längst dahin
sind. Gerade der Sturm und Drang macht es vielfach schwer, litterarische
Entwicklungen klar zu überblicken; denn nur zu leicht vergißt man, von dem
Trubel irre geleitet, was reife Geister vor ihm geleistet haben, ja man ist unter
Umständen sogar geneigt, das Gührende und Überschäumende des Sturmes
und Dranges für Kraft und Weite, die ihm folgende Abklärung und Bestimmt¬
heit für Schwäche und Enge zu halten.

Mit welchem Jahre unsre neuere Dichtung beginnt, das ist eine Frage,
auf die je nach denen, die antworten, sehr verschiedne Antworten erfolgen
können. Es hat etwas für sich, sie mit dem Jahre 1830 anzufangen, nicht
gerade mit dem jungen Deutschland, das hente längst überwunden ist, wenn
unes das jüngste Deutschland einige seiner Dummheiten wiederholt hat, aber
mit Heine, der immer noch fortwirkt und im guten und bösen als der erste


Die Alten und die Jungen

die Litteratur nachweisen. In unserm Jahrhundert wird man zwar die Jahre
1830 und 1890 als litterarisch epochemachend festzuhalten haben, aber nicht
oder doch nur zum Teil in Verbindung mit der Politik: in ihnen treten
Sturm- und Drangbewegungen, die sich aber schou vorher angekündigt hatten,
für die breitern Volkskreise ans Tageslicht — vom Jahre 1740 an haben
wir eben aller dreißig Jahre den Sturm und Drang, und in unserm Jahr¬
hundert sind also 1800, 1830, 1860, 1890 die betreffenden Jahre, freilich
nur als runde Zahlen. 1848 und 1870 haben im Grunde gar keine litterarische
Bedeutung. Wie ich hier gleich hervorheben will, ist es keineswegs gesagt
daß eine Sturm- und Draugbeweguug immer die gesamte Litteratur durch-
dringe und das Wesentliche und Beste der zeitgenössischen Dichtung bedeute,
standen doch im Jahre 1800 Goethe und Schiller neben der Romantik, 1830
Uhland, Rückert, Grillparzer, Platen und Immermann neben dem jungen
Deutschland, 1860 Hebbel. Ludwig, Mörike, Keller und Freytag neben den
Münchnern. Der Sturm und Drang geht immer von der Jugend aus und
zeigt an, daß ein neues Geschlecht den Schauplatz betritt. Daß dieses Ge¬
schlecht deu litterarischen oder gar den künstlerischen Fortschritt bringt, ist nicht
immer sicher, obwohl es doch in der Regel etwas neues in die Litteratur
hineinträgt; aber stets befinden sich die vom Sturm und Drang ergriffnen
Jungen in heftigem Gegensatz zu den Alten und vertreten in Kunst und Leben
die der bisher herrschenden entgegengesetzte Richtung. Auch für das Gebiet
der Litteratur scheinen Revolutionen eine Notwendigkeit zu sein; denn so gewiß
es ist, daß die sich vordrängende Jugend für alles, was sie erstrebt, An¬
knüpfungen bei den Alten funde, ebenso gewiß übersieht sie das regelmüßig,
holt sich entweder ihre Vorbilder ans fremden Litteraturen oder glaubt gar,
die Kunst von vorn beginnen zu müssen und zu können. Nach und nach, je
mehr sich wirkliche Talente hervorthun und entwickeln, kommt dann der Sturm
zur Ruhe, und das Berechtigte der Bewegung kommt in reifen Gestaltungen
zur Erscheinung, oft erst, wenn die ersten Stürmer und Dränger längst dahin
sind. Gerade der Sturm und Drang macht es vielfach schwer, litterarische
Entwicklungen klar zu überblicken; denn nur zu leicht vergißt man, von dem
Trubel irre geleitet, was reife Geister vor ihm geleistet haben, ja man ist unter
Umständen sogar geneigt, das Gührende und Überschäumende des Sturmes
und Dranges für Kraft und Weite, die ihm folgende Abklärung und Bestimmt¬
heit für Schwäche und Enge zu halten.

Mit welchem Jahre unsre neuere Dichtung beginnt, das ist eine Frage,
auf die je nach denen, die antworten, sehr verschiedne Antworten erfolgen
können. Es hat etwas für sich, sie mit dem Jahre 1830 anzufangen, nicht
gerade mit dem jungen Deutschland, das hente längst überwunden ist, wenn
unes das jüngste Deutschland einige seiner Dummheiten wiederholt hat, aber
mit Heine, der immer noch fortwirkt und im guten und bösen als der erste


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[0231] Die Alten und die Jungen die Litteratur nachweisen. In unserm Jahrhundert wird man zwar die Jahre 1830 und 1890 als litterarisch epochemachend festzuhalten haben, aber nicht oder doch nur zum Teil in Verbindung mit der Politik: in ihnen treten Sturm- und Drangbewegungen, die sich aber schou vorher angekündigt hatten, für die breitern Volkskreise ans Tageslicht — vom Jahre 1740 an haben wir eben aller dreißig Jahre den Sturm und Drang, und in unserm Jahr¬ hundert sind also 1800, 1830, 1860, 1890 die betreffenden Jahre, freilich nur als runde Zahlen. 1848 und 1870 haben im Grunde gar keine litterarische Bedeutung. Wie ich hier gleich hervorheben will, ist es keineswegs gesagt daß eine Sturm- und Draugbeweguug immer die gesamte Litteratur durch- dringe und das Wesentliche und Beste der zeitgenössischen Dichtung bedeute, standen doch im Jahre 1800 Goethe und Schiller neben der Romantik, 1830 Uhland, Rückert, Grillparzer, Platen und Immermann neben dem jungen Deutschland, 1860 Hebbel. Ludwig, Mörike, Keller und Freytag neben den Münchnern. Der Sturm und Drang geht immer von der Jugend aus und zeigt an, daß ein neues Geschlecht den Schauplatz betritt. Daß dieses Ge¬ schlecht deu litterarischen oder gar den künstlerischen Fortschritt bringt, ist nicht immer sicher, obwohl es doch in der Regel etwas neues in die Litteratur hineinträgt; aber stets befinden sich die vom Sturm und Drang ergriffnen Jungen in heftigem Gegensatz zu den Alten und vertreten in Kunst und Leben die der bisher herrschenden entgegengesetzte Richtung. Auch für das Gebiet der Litteratur scheinen Revolutionen eine Notwendigkeit zu sein; denn so gewiß es ist, daß die sich vordrängende Jugend für alles, was sie erstrebt, An¬ knüpfungen bei den Alten funde, ebenso gewiß übersieht sie das regelmüßig, holt sich entweder ihre Vorbilder ans fremden Litteraturen oder glaubt gar, die Kunst von vorn beginnen zu müssen und zu können. Nach und nach, je mehr sich wirkliche Talente hervorthun und entwickeln, kommt dann der Sturm zur Ruhe, und das Berechtigte der Bewegung kommt in reifen Gestaltungen zur Erscheinung, oft erst, wenn die ersten Stürmer und Dränger längst dahin sind. Gerade der Sturm und Drang macht es vielfach schwer, litterarische Entwicklungen klar zu überblicken; denn nur zu leicht vergißt man, von dem Trubel irre geleitet, was reife Geister vor ihm geleistet haben, ja man ist unter Umständen sogar geneigt, das Gührende und Überschäumende des Sturmes und Dranges für Kraft und Weite, die ihm folgende Abklärung und Bestimmt¬ heit für Schwäche und Enge zu halten. Mit welchem Jahre unsre neuere Dichtung beginnt, das ist eine Frage, auf die je nach denen, die antworten, sehr verschiedne Antworten erfolgen können. Es hat etwas für sich, sie mit dem Jahre 1830 anzufangen, nicht gerade mit dem jungen Deutschland, das hente längst überwunden ist, wenn unes das jüngste Deutschland einige seiner Dummheiten wiederholt hat, aber mit Heine, der immer noch fortwirkt und im guten und bösen als der erste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/231>, abgerufen am 01.09.2024.