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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Lrnst Llirtius

in dem Sinne, daß er die Grammatik und die Kritik der Texte als etwas
selbständiges betrieben hätte -- die Sprache war für ihn das Mittel, das
Altertum in allen seinen Lebensäußerungen historisch zu erfassen --, aber er
hatte eine lebendige Kenntnis der griechischen Sprache und eine sichre Herr¬
schaft über die Grammatik. Mit einer sehr guten Schulbildung ausgestattet,
hatte er sich durch andauernde Velesenhcit die Schriftsteller, auf die es ihm
ankam: die Historiker, Plato und die Dichter wirklich vertraut gemacht. Er
erfüllte später in Göttingen alle Obliegenheiten eines philologischen Professors.
Aber sein Gesichtskreis war weiter, und als Ziel hatte er etwas andres im
Auge, als die meisten seiner Fachgenossen.

Eine nicht gewöhnliche Führung seines äußern Lebens begünstigte die
ganz eigenartige und persönliche Richtung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit.
Einer vornehmen Lübecker Familie entsprossen, lernte er, zunächst als Erzieher
in dem Hause des bekannten Philosophen Brandes, der dem König Otto als
Persönlicher Berater beigegeben war, Griechenland während eines vierjährigen
Aufenthalts (1836 bis 1840) kennen. Die Eindrücke, die er dort gewann,
wurden für sein ganzes Leben bestimmend. Zuletzt war er noch mit seinem
Göttinger Lehrer Otfried Müller, der dann 1840 in Delphi starb, zusammen¬
gereiht, und endlich kehrte er nach Deutschland zurück. 1843 habilitirte er sich
in Berlin und wurde schon ein Jahr darnach außerordentlicher Professor. Zu¬
gleich siedelte er als Erzieher des nachmaligen Kaisers Friedrich in dessen
damalige Residenz über. Nachdem er seinen hohen Zögling noch auf die
rheinische Hochschule begleitet hatte, nahm er 1849 seine Vorlesungen an
der Universität wieder auf, wurde 1856 nach Göttingen und 1868, nachdem
im Jahre vorher der Archäolog Eduard Gerhard und bald darauf Böckh
gestorben war, wieder nach Berlin berufen, diesmal als Professor der Archäo¬
logie und Direktor des Antiquariums der königlichen Museen.

Jetzt, wo jeder junge Archäolog seine Studien in Athen abzuschließen
Pflegt, wo sich eine Reise nach Griechenland so von selbst versteht, daß dabei
die Frage, wer reist, vielfach als etwas ganz nebensächliches zurücktritt, kann
man sich nicht leicht mehr vorstellen, eine wie tief greifende Bedeutung dieser
lange Aufenthalt in Griechenland für Curtius haben mußte. Er las später
als Professor in Göttingen ein Kolleg über Länder- und Völkerkunde, das
allen Teilnehmern unvergeßlich geblieben ist. Sie nahmen daraus einen weiten
und lebendigen, ans Anschauung aller Art gegründeten Begriff von dem grie¬
chischen Altertum mit ins Leben hinaus, wie man ihn vielleicht auf keiner
zweiten Universität in einer einzelnen Vorlesung übermittelt bekam. Curtius
hatte eben sür das Beobachten der Landesart in ihrem Zusammenhange mit
der Geschichte eines Volkes eine natürliche Vegabnng, der er gern auch im
täglichen Leben und in der Heimat nachzugehen Pflegte. Zwei bedeutende
Lehrer hatten diese Gabe gepflegt und gefördert: der Geograph Ritter und


Lrnst Llirtius

in dem Sinne, daß er die Grammatik und die Kritik der Texte als etwas
selbständiges betrieben hätte — die Sprache war für ihn das Mittel, das
Altertum in allen seinen Lebensäußerungen historisch zu erfassen —, aber er
hatte eine lebendige Kenntnis der griechischen Sprache und eine sichre Herr¬
schaft über die Grammatik. Mit einer sehr guten Schulbildung ausgestattet,
hatte er sich durch andauernde Velesenhcit die Schriftsteller, auf die es ihm
ankam: die Historiker, Plato und die Dichter wirklich vertraut gemacht. Er
erfüllte später in Göttingen alle Obliegenheiten eines philologischen Professors.
Aber sein Gesichtskreis war weiter, und als Ziel hatte er etwas andres im
Auge, als die meisten seiner Fachgenossen.

Eine nicht gewöhnliche Führung seines äußern Lebens begünstigte die
ganz eigenartige und persönliche Richtung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit.
Einer vornehmen Lübecker Familie entsprossen, lernte er, zunächst als Erzieher
in dem Hause des bekannten Philosophen Brandes, der dem König Otto als
Persönlicher Berater beigegeben war, Griechenland während eines vierjährigen
Aufenthalts (1836 bis 1840) kennen. Die Eindrücke, die er dort gewann,
wurden für sein ganzes Leben bestimmend. Zuletzt war er noch mit seinem
Göttinger Lehrer Otfried Müller, der dann 1840 in Delphi starb, zusammen¬
gereiht, und endlich kehrte er nach Deutschland zurück. 1843 habilitirte er sich
in Berlin und wurde schon ein Jahr darnach außerordentlicher Professor. Zu¬
gleich siedelte er als Erzieher des nachmaligen Kaisers Friedrich in dessen
damalige Residenz über. Nachdem er seinen hohen Zögling noch auf die
rheinische Hochschule begleitet hatte, nahm er 1849 seine Vorlesungen an
der Universität wieder auf, wurde 1856 nach Göttingen und 1868, nachdem
im Jahre vorher der Archäolog Eduard Gerhard und bald darauf Böckh
gestorben war, wieder nach Berlin berufen, diesmal als Professor der Archäo¬
logie und Direktor des Antiquariums der königlichen Museen.

Jetzt, wo jeder junge Archäolog seine Studien in Athen abzuschließen
Pflegt, wo sich eine Reise nach Griechenland so von selbst versteht, daß dabei
die Frage, wer reist, vielfach als etwas ganz nebensächliches zurücktritt, kann
man sich nicht leicht mehr vorstellen, eine wie tief greifende Bedeutung dieser
lange Aufenthalt in Griechenland für Curtius haben mußte. Er las später
als Professor in Göttingen ein Kolleg über Länder- und Völkerkunde, das
allen Teilnehmern unvergeßlich geblieben ist. Sie nahmen daraus einen weiten
und lebendigen, ans Anschauung aller Art gegründeten Begriff von dem grie¬
chischen Altertum mit ins Leben hinaus, wie man ihn vielleicht auf keiner
zweiten Universität in einer einzelnen Vorlesung übermittelt bekam. Curtius
hatte eben sür das Beobachten der Landesart in ihrem Zusammenhange mit
der Geschichte eines Volkes eine natürliche Vegabnng, der er gern auch im
täglichen Leben und in der Heimat nachzugehen Pflegte. Zwei bedeutende
Lehrer hatten diese Gabe gepflegt und gefördert: der Geograph Ritter und


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[0183] Lrnst Llirtius in dem Sinne, daß er die Grammatik und die Kritik der Texte als etwas selbständiges betrieben hätte — die Sprache war für ihn das Mittel, das Altertum in allen seinen Lebensäußerungen historisch zu erfassen —, aber er hatte eine lebendige Kenntnis der griechischen Sprache und eine sichre Herr¬ schaft über die Grammatik. Mit einer sehr guten Schulbildung ausgestattet, hatte er sich durch andauernde Velesenhcit die Schriftsteller, auf die es ihm ankam: die Historiker, Plato und die Dichter wirklich vertraut gemacht. Er erfüllte später in Göttingen alle Obliegenheiten eines philologischen Professors. Aber sein Gesichtskreis war weiter, und als Ziel hatte er etwas andres im Auge, als die meisten seiner Fachgenossen. Eine nicht gewöhnliche Führung seines äußern Lebens begünstigte die ganz eigenartige und persönliche Richtung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit. Einer vornehmen Lübecker Familie entsprossen, lernte er, zunächst als Erzieher in dem Hause des bekannten Philosophen Brandes, der dem König Otto als Persönlicher Berater beigegeben war, Griechenland während eines vierjährigen Aufenthalts (1836 bis 1840) kennen. Die Eindrücke, die er dort gewann, wurden für sein ganzes Leben bestimmend. Zuletzt war er noch mit seinem Göttinger Lehrer Otfried Müller, der dann 1840 in Delphi starb, zusammen¬ gereiht, und endlich kehrte er nach Deutschland zurück. 1843 habilitirte er sich in Berlin und wurde schon ein Jahr darnach außerordentlicher Professor. Zu¬ gleich siedelte er als Erzieher des nachmaligen Kaisers Friedrich in dessen damalige Residenz über. Nachdem er seinen hohen Zögling noch auf die rheinische Hochschule begleitet hatte, nahm er 1849 seine Vorlesungen an der Universität wieder auf, wurde 1856 nach Göttingen und 1868, nachdem im Jahre vorher der Archäolog Eduard Gerhard und bald darauf Böckh gestorben war, wieder nach Berlin berufen, diesmal als Professor der Archäo¬ logie und Direktor des Antiquariums der königlichen Museen. Jetzt, wo jeder junge Archäolog seine Studien in Athen abzuschließen Pflegt, wo sich eine Reise nach Griechenland so von selbst versteht, daß dabei die Frage, wer reist, vielfach als etwas ganz nebensächliches zurücktritt, kann man sich nicht leicht mehr vorstellen, eine wie tief greifende Bedeutung dieser lange Aufenthalt in Griechenland für Curtius haben mußte. Er las später als Professor in Göttingen ein Kolleg über Länder- und Völkerkunde, das allen Teilnehmern unvergeßlich geblieben ist. Sie nahmen daraus einen weiten und lebendigen, ans Anschauung aller Art gegründeten Begriff von dem grie¬ chischen Altertum mit ins Leben hinaus, wie man ihn vielleicht auf keiner zweiten Universität in einer einzelnen Vorlesung übermittelt bekam. Curtius hatte eben sür das Beobachten der Landesart in ihrem Zusammenhange mit der Geschichte eines Volkes eine natürliche Vegabnng, der er gern auch im täglichen Leben und in der Heimat nachzugehen Pflegte. Zwei bedeutende Lehrer hatten diese Gabe gepflegt und gefördert: der Geograph Ritter und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/183>, abgerufen am 01.09.2024.