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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ivelterklännigsversuche

und allgemein bekannte Lösung der Zweckmoral ist. Die Gerechtigkeit erfordert
die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. Störe ich diese Ordnung durch
einen Mord, so werde ich mit Recht als ein Mörder bestraft; stören aber die
auf der andern Seite des Wassers die Ordnung durch einen Angriff, so erfülle
ich eben durch Tötung der Angreifer meine Pflicht, die Gesellschaftsordnung
aufrecht zu erhalten. Das heißt also verallgemeinert, die Moralität einer
Handlung hängt davon ab, ob sie der menschlichen Gesellschaft nützt oder
schadet. Diese Lösung der von Pascal hervorgehobnen Schwierigkeit ist aber
aus zwei Gründen keine Lösung. Erstens behaupten in jedem Kriege beide
Teile, der andre sei der Ruhestörer, und nur sehr selten liegt das Recht so
deutlich auf der einen Seite wie im Jahre 1870. Dann aber: welche Ordnung,
oder die Ordnung welcher Gesellschaft bin ich denn verpflichtet aufrecht zu er¬
halten? Ist es denn so gewiß, daß die Sache der Franzosen die Sache der
Menschheit sei, wenn die Franzosen mit den Spaniern Händel bekommen?
Warum soll sich nicht ein Franzose, der von dem guten Recht der Spanier
überzeugt ist, mit diesen Verbunden dürfen? Warum soll nicht der Mennonit
sagen dürfen: nicht um die Gesellschaftsordnung handelt es sich in eurer
Rauferei, sondern um Beute, ihr seid alle beide Räuber und Mörder; ich folge
dem Gebot Christi und thue nicht mit? Und welcher von den Parteien in
unserm Vaterlande muß ich mich anschließen, wenn ich die Gesellschaftsordnung
aufrecht erhalten und das allgemeine Beste befördern will, den Agrariern, oder
den Antisemiten, oder den Christlich-Sozialen, oder den Demokraten? Aber
ganz abgesehen von den vielen verschiednen Ordnungen, die einander bekämpfen
und es zum Begriff einer die ganze Menschheit umfassenden Gesellschafts¬
ordnung und eines allgemeinen Menschheitswohls gar nicht kommen lassen,
bleibt uns der Zusammenhang zwischen unsern Handlungen und dem Wohl
der Menschen verborgen; wir vermögen die Wirkungen und Folgen unsrer
Handlungen nicht vorauszusehen. Ist es doch eine bekannte und alltägliche
Erfahrung, daß manchmal die edelsten Handlungen zum Schaden des Nächsten
ausschlagen, und daß Eltern oft nicht einmal in dem, womit sie das Glück
ihrer Kinder zu begründen gedenken, das Nichtige treffen. Ohne Zweifel ge¬
hören die sittlichen Triebe mit zu den Kräften, die die Menschheit erhalten
und fördern, aber ebenso unzweifelhaft sind sie nicht die einzigen solchen Kräfte,
und es ist die Frage, ob, wenn dem Menschen außer der Nächstenliebe kein
andrer Trieb eingepflanzt wäre, das Menschengeschlecht überhaupt noch vor¬
handen wäre. Gewiß steht es um eine Gesellschaft wohlwollender, gerechter
und friedfertiger Menschen im allgemeinen besser als um ein Gezücht boshafter
Haderkatzen, und wenn alle Menschen blutdürstige Tiger würeu, so käme über¬
haupt keine Gesellschaftsordnung zu stände; auch dürfen wir wohl überzeugt
sein, daß wir durch gute Handlungen im allgemeinen Nutzen stiften, durch
böse Schaden anrichten; aber in keinem einzelnen Falle haben wir die Gewiß-


Grenzboten III 1896 22
Ivelterklännigsversuche

und allgemein bekannte Lösung der Zweckmoral ist. Die Gerechtigkeit erfordert
die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. Störe ich diese Ordnung durch
einen Mord, so werde ich mit Recht als ein Mörder bestraft; stören aber die
auf der andern Seite des Wassers die Ordnung durch einen Angriff, so erfülle
ich eben durch Tötung der Angreifer meine Pflicht, die Gesellschaftsordnung
aufrecht zu erhalten. Das heißt also verallgemeinert, die Moralität einer
Handlung hängt davon ab, ob sie der menschlichen Gesellschaft nützt oder
schadet. Diese Lösung der von Pascal hervorgehobnen Schwierigkeit ist aber
aus zwei Gründen keine Lösung. Erstens behaupten in jedem Kriege beide
Teile, der andre sei der Ruhestörer, und nur sehr selten liegt das Recht so
deutlich auf der einen Seite wie im Jahre 1870. Dann aber: welche Ordnung,
oder die Ordnung welcher Gesellschaft bin ich denn verpflichtet aufrecht zu er¬
halten? Ist es denn so gewiß, daß die Sache der Franzosen die Sache der
Menschheit sei, wenn die Franzosen mit den Spaniern Händel bekommen?
Warum soll sich nicht ein Franzose, der von dem guten Recht der Spanier
überzeugt ist, mit diesen Verbunden dürfen? Warum soll nicht der Mennonit
sagen dürfen: nicht um die Gesellschaftsordnung handelt es sich in eurer
Rauferei, sondern um Beute, ihr seid alle beide Räuber und Mörder; ich folge
dem Gebot Christi und thue nicht mit? Und welcher von den Parteien in
unserm Vaterlande muß ich mich anschließen, wenn ich die Gesellschaftsordnung
aufrecht erhalten und das allgemeine Beste befördern will, den Agrariern, oder
den Antisemiten, oder den Christlich-Sozialen, oder den Demokraten? Aber
ganz abgesehen von den vielen verschiednen Ordnungen, die einander bekämpfen
und es zum Begriff einer die ganze Menschheit umfassenden Gesellschafts¬
ordnung und eines allgemeinen Menschheitswohls gar nicht kommen lassen,
bleibt uns der Zusammenhang zwischen unsern Handlungen und dem Wohl
der Menschen verborgen; wir vermögen die Wirkungen und Folgen unsrer
Handlungen nicht vorauszusehen. Ist es doch eine bekannte und alltägliche
Erfahrung, daß manchmal die edelsten Handlungen zum Schaden des Nächsten
ausschlagen, und daß Eltern oft nicht einmal in dem, womit sie das Glück
ihrer Kinder zu begründen gedenken, das Nichtige treffen. Ohne Zweifel ge¬
hören die sittlichen Triebe mit zu den Kräften, die die Menschheit erhalten
und fördern, aber ebenso unzweifelhaft sind sie nicht die einzigen solchen Kräfte,
und es ist die Frage, ob, wenn dem Menschen außer der Nächstenliebe kein
andrer Trieb eingepflanzt wäre, das Menschengeschlecht überhaupt noch vor¬
handen wäre. Gewiß steht es um eine Gesellschaft wohlwollender, gerechter
und friedfertiger Menschen im allgemeinen besser als um ein Gezücht boshafter
Haderkatzen, und wenn alle Menschen blutdürstige Tiger würeu, so käme über¬
haupt keine Gesellschaftsordnung zu stände; auch dürfen wir wohl überzeugt
sein, daß wir durch gute Handlungen im allgemeinen Nutzen stiften, durch
böse Schaden anrichten; aber in keinem einzelnen Falle haben wir die Gewiß-


Grenzboten III 1896 22
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/177>, abgerufen am 01.09.2024.