Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Welterklärungsvorsuche

Befriedigung finden könnet) Wie den Pferden, so kann man auch den Menschen
ihr Schicksal an der Leibesgestalt ablesen. Man stelle auf die eine Seite einen
Kommerzienrat und eine Metzgersgattin, und ihnen gegenüber einen Bergmann,
einen Töpfergesellen und eine Waschfrau, sämtlich 55 Jahr alt, und man be¬
antworte sich die zwei Fragen: Sind die Empfindungen Illusionen gewesen,
die die Lebensvorgänge begleiteten, denen die beiden ersten ihre runden Formen,
ihre glatte Haut, ihre blühende Farbe und ihre heitern Mienen, die drei auf
der andern Seite das Gegenteil verdanken, und sind die mit angenehmen oder
unangenehmen Empfindungen verbundnen animalischen Lebensvorgänge so un¬
geheuer gleichgiltig für das Wohl des Menschen und der" Menschheit, wie die
Verkünder erhabner Sittenlehren behaupten? Oder wird vielleicht der Verlust
von Lebensglück durch Genieblitze aufgewogen, die der Drang der Not in
Grubenarbeitern, Töpfergcselleu und Waschweibern erzeugt? Oder durch edle
sittliche Eigenschaften? Dieses wohl hie und da; insbesondre sind wir mit
Chamisso geneigt, zu glauben, daß die durchschnittliche Waschfrau sittlich höher
stehe als die durchschnittliche Metzgersgattin; öfter aber sind Stumpfsinn,
Verbitterung, Neid und ein zänkisches, unverträgliches, zornmütiges Wesen
die Folge.

Funck-Brentano, der bei weitem klarer und tiefer und dessen Lebens¬
auffassung gesünder ist, erkennt an, daß es ein Wirken ohne Beziehung auf
unser eignes Wohl nicht giebt, daß die Selbstliebe auf allen Stufen der Ent¬
wicklung des Menschen berechtigt bleibt, und daß die Nächstenliebe, z. B. in
der Gestalt des religiösen und des patriotischen Fanatismus, nicht selten in
eine verderbliche und verwerfliche Leidenschaft ausartet. Wenn er sich trotzdem
aufs heftigste gegen die Anerkennung der Thatsache sträubt, daß auch die auf¬
opferndste Nächstenliebe nur eine höhere Form der Selbstliebe ist, so darf man
darauf weiter kein Gewicht legen, schon darum, weil er selbst einmal diese Polemik
einen Streit um Worte nennt- Ganz verfehlt ist es, wenn er die von ihm
behauptete wesentliche Verschiedenheit der Selbstsucht und der Aufopferung
damit beweisen will, daß essen und aus Nächstenliebe hungern zwei ganz ver-
schiedne Handlungen seien, die man unmöglich mit einander verwechseln könne.
Essen und aus Geiz hungern sind ebenso verschieden von einander, und doch
ist der Geizige, wie niemand bestreitet, nicht weniger selbstsüchtig als der
Gourmand. Was verschieden ist, das sind nicht die Triebe, sondern die Per¬
sonen. Der Trieb ist in allen derselbe Trieb der Selbsterhaltung und derselbe



Mit größerer Berechtigung als bei den sinnlichen kann man bei manchen geistigen
Genüssen fragen, ob sie nicht reine Illusion seien, z, B. bei verschleimen Arten, den Ehrgeiz zu
befriedigen: durch Erlangung eines Ordens oder Titels, durch einen Rekord usw. Und wie
steht ez mit den Nordpolfahrem? Hat es einen vernünftigen Sinn, an eine Aufgabe, deren
Lösung ganz geivis; praktisch und wahrscheinlich auch wissenschaftlich wertlos ist, sein Leben zu
setzen und um ihretwillen unerhörte Beschwerden uno Martern zu erdulden?
Welterklärungsvorsuche

Befriedigung finden könnet) Wie den Pferden, so kann man auch den Menschen
ihr Schicksal an der Leibesgestalt ablesen. Man stelle auf die eine Seite einen
Kommerzienrat und eine Metzgersgattin, und ihnen gegenüber einen Bergmann,
einen Töpfergesellen und eine Waschfrau, sämtlich 55 Jahr alt, und man be¬
antworte sich die zwei Fragen: Sind die Empfindungen Illusionen gewesen,
die die Lebensvorgänge begleiteten, denen die beiden ersten ihre runden Formen,
ihre glatte Haut, ihre blühende Farbe und ihre heitern Mienen, die drei auf
der andern Seite das Gegenteil verdanken, und sind die mit angenehmen oder
unangenehmen Empfindungen verbundnen animalischen Lebensvorgänge so un¬
geheuer gleichgiltig für das Wohl des Menschen und der» Menschheit, wie die
Verkünder erhabner Sittenlehren behaupten? Oder wird vielleicht der Verlust
von Lebensglück durch Genieblitze aufgewogen, die der Drang der Not in
Grubenarbeitern, Töpfergcselleu und Waschweibern erzeugt? Oder durch edle
sittliche Eigenschaften? Dieses wohl hie und da; insbesondre sind wir mit
Chamisso geneigt, zu glauben, daß die durchschnittliche Waschfrau sittlich höher
stehe als die durchschnittliche Metzgersgattin; öfter aber sind Stumpfsinn,
Verbitterung, Neid und ein zänkisches, unverträgliches, zornmütiges Wesen
die Folge.

Funck-Brentano, der bei weitem klarer und tiefer und dessen Lebens¬
auffassung gesünder ist, erkennt an, daß es ein Wirken ohne Beziehung auf
unser eignes Wohl nicht giebt, daß die Selbstliebe auf allen Stufen der Ent¬
wicklung des Menschen berechtigt bleibt, und daß die Nächstenliebe, z. B. in
der Gestalt des religiösen und des patriotischen Fanatismus, nicht selten in
eine verderbliche und verwerfliche Leidenschaft ausartet. Wenn er sich trotzdem
aufs heftigste gegen die Anerkennung der Thatsache sträubt, daß auch die auf¬
opferndste Nächstenliebe nur eine höhere Form der Selbstliebe ist, so darf man
darauf weiter kein Gewicht legen, schon darum, weil er selbst einmal diese Polemik
einen Streit um Worte nennt- Ganz verfehlt ist es, wenn er die von ihm
behauptete wesentliche Verschiedenheit der Selbstsucht und der Aufopferung
damit beweisen will, daß essen und aus Nächstenliebe hungern zwei ganz ver-
schiedne Handlungen seien, die man unmöglich mit einander verwechseln könne.
Essen und aus Geiz hungern sind ebenso verschieden von einander, und doch
ist der Geizige, wie niemand bestreitet, nicht weniger selbstsüchtig als der
Gourmand. Was verschieden ist, das sind nicht die Triebe, sondern die Per¬
sonen. Der Trieb ist in allen derselbe Trieb der Selbsterhaltung und derselbe



Mit größerer Berechtigung als bei den sinnlichen kann man bei manchen geistigen
Genüssen fragen, ob sie nicht reine Illusion seien, z, B. bei verschleimen Arten, den Ehrgeiz zu
befriedigen: durch Erlangung eines Ordens oder Titels, durch einen Rekord usw. Und wie
steht ez mit den Nordpolfahrem? Hat es einen vernünftigen Sinn, an eine Aufgabe, deren
Lösung ganz geivis; praktisch und wahrscheinlich auch wissenschaftlich wertlos ist, sein Leben zu
setzen und um ihretwillen unerhörte Beschwerden uno Martern zu erdulden?
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223117"/>
          <fw type="header" place="top"> Welterklärungsvorsuche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_541" prev="#ID_540"> Befriedigung finden könnet) Wie den Pferden, so kann man auch den Menschen<lb/>
ihr Schicksal an der Leibesgestalt ablesen. Man stelle auf die eine Seite einen<lb/>
Kommerzienrat und eine Metzgersgattin, und ihnen gegenüber einen Bergmann,<lb/>
einen Töpfergesellen und eine Waschfrau, sämtlich 55 Jahr alt, und man be¬<lb/>
antworte sich die zwei Fragen: Sind die Empfindungen Illusionen gewesen,<lb/>
die die Lebensvorgänge begleiteten, denen die beiden ersten ihre runden Formen,<lb/>
ihre glatte Haut, ihre blühende Farbe und ihre heitern Mienen, die drei auf<lb/>
der andern Seite das Gegenteil verdanken, und sind die mit angenehmen oder<lb/>
unangenehmen Empfindungen verbundnen animalischen Lebensvorgänge so un¬<lb/>
geheuer gleichgiltig für das Wohl des Menschen und der» Menschheit, wie die<lb/>
Verkünder erhabner Sittenlehren behaupten? Oder wird vielleicht der Verlust<lb/>
von Lebensglück durch Genieblitze aufgewogen, die der Drang der Not in<lb/>
Grubenarbeitern, Töpfergcselleu und Waschweibern erzeugt? Oder durch edle<lb/>
sittliche Eigenschaften? Dieses wohl hie und da; insbesondre sind wir mit<lb/>
Chamisso geneigt, zu glauben, daß die durchschnittliche Waschfrau sittlich höher<lb/>
stehe als die durchschnittliche Metzgersgattin; öfter aber sind Stumpfsinn,<lb/>
Verbitterung, Neid und ein zänkisches, unverträgliches, zornmütiges Wesen<lb/>
die Folge.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_542" next="#ID_543"> Funck-Brentano, der bei weitem klarer und tiefer und dessen Lebens¬<lb/>
auffassung gesünder ist, erkennt an, daß es ein Wirken ohne Beziehung auf<lb/>
unser eignes Wohl nicht giebt, daß die Selbstliebe auf allen Stufen der Ent¬<lb/>
wicklung des Menschen berechtigt bleibt, und daß die Nächstenliebe, z. B. in<lb/>
der Gestalt des religiösen und des patriotischen Fanatismus, nicht selten in<lb/>
eine verderbliche und verwerfliche Leidenschaft ausartet. Wenn er sich trotzdem<lb/>
aufs heftigste gegen die Anerkennung der Thatsache sträubt, daß auch die auf¬<lb/>
opferndste Nächstenliebe nur eine höhere Form der Selbstliebe ist, so darf man<lb/>
darauf weiter kein Gewicht legen, schon darum, weil er selbst einmal diese Polemik<lb/>
einen Streit um Worte nennt- Ganz verfehlt ist es, wenn er die von ihm<lb/>
behauptete wesentliche Verschiedenheit der Selbstsucht und der Aufopferung<lb/>
damit beweisen will, daß essen und aus Nächstenliebe hungern zwei ganz ver-<lb/>
schiedne Handlungen seien, die man unmöglich mit einander verwechseln könne.<lb/>
Essen und aus Geiz hungern sind ebenso verschieden von einander, und doch<lb/>
ist der Geizige, wie niemand bestreitet, nicht weniger selbstsüchtig als der<lb/>
Gourmand. Was verschieden ist, das sind nicht die Triebe, sondern die Per¬<lb/>
sonen. Der Trieb ist in allen derselbe Trieb der Selbsterhaltung und derselbe</p><lb/>
          <note xml:id="FID_10" place="foot"> Mit größerer Berechtigung als bei den sinnlichen kann man bei manchen geistigen<lb/>
Genüssen fragen, ob sie nicht reine Illusion seien, z, B. bei verschleimen Arten, den Ehrgeiz zu<lb/>
befriedigen: durch Erlangung eines Ordens oder Titels, durch einen Rekord usw. Und wie<lb/>
steht ez mit den Nordpolfahrem? Hat es einen vernünftigen Sinn, an eine Aufgabe, deren<lb/>
Lösung ganz geivis; praktisch und wahrscheinlich auch wissenschaftlich wertlos ist, sein Leben zu<lb/>
setzen und um ihretwillen unerhörte Beschwerden uno Martern zu erdulden?</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] Welterklärungsvorsuche Befriedigung finden könnet) Wie den Pferden, so kann man auch den Menschen ihr Schicksal an der Leibesgestalt ablesen. Man stelle auf die eine Seite einen Kommerzienrat und eine Metzgersgattin, und ihnen gegenüber einen Bergmann, einen Töpfergesellen und eine Waschfrau, sämtlich 55 Jahr alt, und man be¬ antworte sich die zwei Fragen: Sind die Empfindungen Illusionen gewesen, die die Lebensvorgänge begleiteten, denen die beiden ersten ihre runden Formen, ihre glatte Haut, ihre blühende Farbe und ihre heitern Mienen, die drei auf der andern Seite das Gegenteil verdanken, und sind die mit angenehmen oder unangenehmen Empfindungen verbundnen animalischen Lebensvorgänge so un¬ geheuer gleichgiltig für das Wohl des Menschen und der» Menschheit, wie die Verkünder erhabner Sittenlehren behaupten? Oder wird vielleicht der Verlust von Lebensglück durch Genieblitze aufgewogen, die der Drang der Not in Grubenarbeitern, Töpfergcselleu und Waschweibern erzeugt? Oder durch edle sittliche Eigenschaften? Dieses wohl hie und da; insbesondre sind wir mit Chamisso geneigt, zu glauben, daß die durchschnittliche Waschfrau sittlich höher stehe als die durchschnittliche Metzgersgattin; öfter aber sind Stumpfsinn, Verbitterung, Neid und ein zänkisches, unverträgliches, zornmütiges Wesen die Folge. Funck-Brentano, der bei weitem klarer und tiefer und dessen Lebens¬ auffassung gesünder ist, erkennt an, daß es ein Wirken ohne Beziehung auf unser eignes Wohl nicht giebt, daß die Selbstliebe auf allen Stufen der Ent¬ wicklung des Menschen berechtigt bleibt, und daß die Nächstenliebe, z. B. in der Gestalt des religiösen und des patriotischen Fanatismus, nicht selten in eine verderbliche und verwerfliche Leidenschaft ausartet. Wenn er sich trotzdem aufs heftigste gegen die Anerkennung der Thatsache sträubt, daß auch die auf¬ opferndste Nächstenliebe nur eine höhere Form der Selbstliebe ist, so darf man darauf weiter kein Gewicht legen, schon darum, weil er selbst einmal diese Polemik einen Streit um Worte nennt- Ganz verfehlt ist es, wenn er die von ihm behauptete wesentliche Verschiedenheit der Selbstsucht und der Aufopferung damit beweisen will, daß essen und aus Nächstenliebe hungern zwei ganz ver- schiedne Handlungen seien, die man unmöglich mit einander verwechseln könne. Essen und aus Geiz hungern sind ebenso verschieden von einander, und doch ist der Geizige, wie niemand bestreitet, nicht weniger selbstsüchtig als der Gourmand. Was verschieden ist, das sind nicht die Triebe, sondern die Per¬ sonen. Der Trieb ist in allen derselbe Trieb der Selbsterhaltung und derselbe Mit größerer Berechtigung als bei den sinnlichen kann man bei manchen geistigen Genüssen fragen, ob sie nicht reine Illusion seien, z, B. bei verschleimen Arten, den Ehrgeiz zu befriedigen: durch Erlangung eines Ordens oder Titels, durch einen Rekord usw. Und wie steht ez mit den Nordpolfahrem? Hat es einen vernünftigen Sinn, an eine Aufgabe, deren Lösung ganz geivis; praktisch und wahrscheinlich auch wissenschaftlich wertlos ist, sein Leben zu setzen und um ihretwillen unerhörte Beschwerden uno Martern zu erdulden?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/175>, abgerufen am 23.11.2024.