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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Lin "virtschciftspolitischer Rückblick

Wirtschaft wesentlich Anteil hatte. Und der Rückgang der Landwirtschaft in
der Neuzeit ist doch in England, wie bei uns, zum Teil eine Nachwirkung
eben jenes Aufschwungs und des dadurch veranlaßten allzu hohen Steigens
der Bodenpreise. Darum ist die Landwirtschaft so wenig widerstandsfähig
gegen die starke Konkurrenz der Neuzeit. Gewiß mußte diese Konkurrenz die
Landwirtschaft auf alle Fälle schwer treffen. Und die englische Landwirtschaft
ist dieser Gefahr noch mehr ausgesetzt als die unsrige. Ob sich aber Kornzölle
als ein kräftiges Heilmittel bewährt hätten, nMz zweifelhaft erscheinen, wenn
man bedenkt, wie unzulänglich sich selbst unsre hohen Zölle nach dem eignen
Urteil der Agrarier in dieser Hinsicht erwiesen haben.

Aber anch Englands gewerbliche Blüte, so wird uns gesagt, trägt den
Krankheitskei.n in sich. Englands Industrie ist dem Untergange geweiht, wenn
es auch gelingt, ihn noch eine Zeit lang auszuhalten. Zunächst scheint sich
aber England selbst nicht mehr krank zu sühlen als andre Staaten, die nach
angeblich so vortrefflichen wirtschaftspolitischen Grundsätzen geleitet werden.
A" den düstern Prophezeiungen ist nur so viel richtig, daß England seine
frühere Überlegenheit nicht behaupten kann, da es mit dein Wettbewerb auf¬
strebender Nationen auf dem Gebiete des Handels und der Industrie zu kämpfen
hat. Auch die weiseste, ausschließlich im Interesse Englands geleitete Wirt¬
schaftspolitik hätte diese Entwicklung nicht hindern und die daraus für Eng¬
land entstehenden Folgen nicht abwehren können.

Daß gesetzgeberische Maßregeln uur eins der Förderungsmittel wirtschaft¬
lichen Gedeihens sind, daß ihre Wirkung immer nur beschränkt ist und nicht
überschätzt werden darf, das übersehen eben unsre Fanatiker der Staatshilfe
bestündig. Das hat sich bei ihrer Beurteilung unsrer Wirtschaftspolitik, wie
schon so oft, auch wieder bei dieser Gelegenheit gezeigt. Die Hamburger
Nachrichten und verwandte Blätter glaubten ein Loblied auf die nach dem
Fürsten Bismarck benannte Wirtschaftspolitik anstimmen und sie der verfehlten
Wirtschaftspolitik Englands gegenüberstellen zu müssen. Dabei ist es nur
merkwürdig, daß gerade die Vertreter der Anschauungen, die in den genannten
Blättern ihren Ausdruck finden, am allerunzufriedensten mit den heutigen wirt¬
schaftlichen Zuständen sind. Wenn die Bismarcksche Wirtschaftspolitik wirklich
die Wunderdinge ausgerichtet hätte, die ihr vou ihren Anhängern zugeschrieben
werden, so würde es wohl etwas anders bei uns aussehen. Denn diese Wirt¬
schaftspolitik ist ja uicht abgeschafft, uuter Cciprivi nur ganz unwesentlich ge¬
ändert, im übrigen aber durch Maßregeln in ähnlichem Sinne noch bestärkt
worden.

Wollen wir das wirtschaftspolitische System Bismarcks gerecht be¬
urteilen, so dürfen wir nicht bloß darauf sehen, was zu Anfänge beabsichtigt
wurde, sondern wir müssen untersuchen, was allmählich daraus geworden ist,
wie es sich im Laufe der Zeit gestaltet, ob der Erfolg den Erwartungen ent-


Lin »virtschciftspolitischer Rückblick

Wirtschaft wesentlich Anteil hatte. Und der Rückgang der Landwirtschaft in
der Neuzeit ist doch in England, wie bei uns, zum Teil eine Nachwirkung
eben jenes Aufschwungs und des dadurch veranlaßten allzu hohen Steigens
der Bodenpreise. Darum ist die Landwirtschaft so wenig widerstandsfähig
gegen die starke Konkurrenz der Neuzeit. Gewiß mußte diese Konkurrenz die
Landwirtschaft auf alle Fälle schwer treffen. Und die englische Landwirtschaft
ist dieser Gefahr noch mehr ausgesetzt als die unsrige. Ob sich aber Kornzölle
als ein kräftiges Heilmittel bewährt hätten, nMz zweifelhaft erscheinen, wenn
man bedenkt, wie unzulänglich sich selbst unsre hohen Zölle nach dem eignen
Urteil der Agrarier in dieser Hinsicht erwiesen haben.

Aber anch Englands gewerbliche Blüte, so wird uns gesagt, trägt den
Krankheitskei.n in sich. Englands Industrie ist dem Untergange geweiht, wenn
es auch gelingt, ihn noch eine Zeit lang auszuhalten. Zunächst scheint sich
aber England selbst nicht mehr krank zu sühlen als andre Staaten, die nach
angeblich so vortrefflichen wirtschaftspolitischen Grundsätzen geleitet werden.
A» den düstern Prophezeiungen ist nur so viel richtig, daß England seine
frühere Überlegenheit nicht behaupten kann, da es mit dein Wettbewerb auf¬
strebender Nationen auf dem Gebiete des Handels und der Industrie zu kämpfen
hat. Auch die weiseste, ausschließlich im Interesse Englands geleitete Wirt¬
schaftspolitik hätte diese Entwicklung nicht hindern und die daraus für Eng¬
land entstehenden Folgen nicht abwehren können.

Daß gesetzgeberische Maßregeln uur eins der Förderungsmittel wirtschaft¬
lichen Gedeihens sind, daß ihre Wirkung immer nur beschränkt ist und nicht
überschätzt werden darf, das übersehen eben unsre Fanatiker der Staatshilfe
bestündig. Das hat sich bei ihrer Beurteilung unsrer Wirtschaftspolitik, wie
schon so oft, auch wieder bei dieser Gelegenheit gezeigt. Die Hamburger
Nachrichten und verwandte Blätter glaubten ein Loblied auf die nach dem
Fürsten Bismarck benannte Wirtschaftspolitik anstimmen und sie der verfehlten
Wirtschaftspolitik Englands gegenüberstellen zu müssen. Dabei ist es nur
merkwürdig, daß gerade die Vertreter der Anschauungen, die in den genannten
Blättern ihren Ausdruck finden, am allerunzufriedensten mit den heutigen wirt¬
schaftlichen Zuständen sind. Wenn die Bismarcksche Wirtschaftspolitik wirklich
die Wunderdinge ausgerichtet hätte, die ihr vou ihren Anhängern zugeschrieben
werden, so würde es wohl etwas anders bei uns aussehen. Denn diese Wirt¬
schaftspolitik ist ja uicht abgeschafft, uuter Cciprivi nur ganz unwesentlich ge¬
ändert, im übrigen aber durch Maßregeln in ähnlichem Sinne noch bestärkt
worden.

Wollen wir das wirtschaftspolitische System Bismarcks gerecht be¬
urteilen, so dürfen wir nicht bloß darauf sehen, was zu Anfänge beabsichtigt
wurde, sondern wir müssen untersuchen, was allmählich daraus geworden ist,
wie es sich im Laufe der Zeit gestaltet, ob der Erfolg den Erwartungen ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/155>, abgerufen am 25.11.2024.