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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Schulprogramme

trachtung. Über die Berechtigung, gerade sie zu bevorzugen, ist viel geschrieben
und viel gestritten worden. Sie, und mit ihnen die gesamte Philologie, sind
zum Teil dadurch in Mißkredit gekommen, daß man einzelne Auswüchse ver¬
allgemeinert hat. Viele Menschen können sich den philologisch gebildeten Schul¬
mann gar nicht mehr anders vorstellen, als wie er in Ekstase gerät, wenn er
z. B. die verschiednen s-it! bei Catull gezählt hat, selbstverständlich mit "Philo¬
logischer Akribie," aus ihrer Zahl ein "Gesetz" gewonnen und nebenbei nach
neuester Orthographie die sämtlichen it in seinem Handexemplar weggestrichen
hat und dies nun dem Publikum berichtet mit der Aufforderung, seinem Bei¬
spiel zu folgen. Wer die zahlreichen Programmarbeiten vorurteilsfrei ansieht,
wird zugeben müssen, daß sich unter ihnen viel nützliches Material befindet,
und daß dort mancher Baustein beHauen worden ist, der gut verwendet werden
kann. Aber schließlich müssen sich auch diese Gebiete erschöpfen, auch hier muß
der öde Zustand eintreten, den kürzlich ein Fachgenosse in seinem Selbst¬
nekrolog mit dem bösen Worte "Abhandlung schreiben als Selbstzweck" be¬
zeichnet hat. Die Erforschung des Sprachgebrauchs hat schon zu einem Stil¬
spezialistentum geführt, dem der gewöhnliche Philologe mit naiven Anschauungen
kaum noch nachkommen kann. Die Textkritik ist heute nicht mehr so leicht
wie zu den Zeiten der Holländer und selbst noch Immanuel Bekkers, wo
man nur ein Paar Handschriften benutzte oder sich mit einem eklektischen Ver¬
fahren begnügte. Der moderne Verkehr ermöglicht eine allseitige Beschaffung
des Materials, und darum wird sie auch, und mit Recht, von der Wissenschaft
verlangt. Man denke nur an die neuesten Arbeiten, z. B. über Senekas
HuaösticmLs ng.wrg.1"Z3 oder die Schollen zu Aristophanes und die Parömio-
graphen, von den Kommentaren zu Aristoteles ganz zu schweigen, und man
wird zugeben müssen, daß auch hier dem Schulmanne, wenn er nicht aus
einem Schriftsteller lebenslang seine Spezialität machen will, das Material
über den Kopf gewachsen ist. Und endlich die ästhetisirenden Aufsatze. Ja,
wie selten ist darunter etwas wirklich förderndes! Wie oft werden da offne
Thüren eingeräumt, wie oft allbekanntes wiederholt! Ob es ans andern Gebieten
der Programmabhandlungen besser steht, vermögen wir nicht zu beurteilen.
Die Fachmänner verneinen es.

Ausnehmen mochten wir hier ausdrücklich die Arbeiten, die sich auf Ge¬
schichte beziehen, seien es nun Quellennntersuchungen oder orth- und schul¬
geschichtliche Arbeiten, ferner Mitteilungen ans der Praxis (theoretisirende
Versuche geraten seltner gut) und die dankenswerten Veröffentlichungen bisher
unbenützten Quellenmaterials, besonders für die deutsche Litteratur. Diese
Arbeiten sind das eigentliche Gebiet der "Schulweisheit," hier hat man fast
immer das Gefühl, daß sich der Verfasser nicht erst mühsam hat emporschrauben
müssen, sondern daß er mitten im Stoffe steht und aus dem Vollen schöpft.
Dasselbe gilt selbstverständlich auch von einer Reihe'von Arbeiten ans andern


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trachtung. Über die Berechtigung, gerade sie zu bevorzugen, ist viel geschrieben
und viel gestritten worden. Sie, und mit ihnen die gesamte Philologie, sind
zum Teil dadurch in Mißkredit gekommen, daß man einzelne Auswüchse ver¬
allgemeinert hat. Viele Menschen können sich den philologisch gebildeten Schul¬
mann gar nicht mehr anders vorstellen, als wie er in Ekstase gerät, wenn er
z. B. die verschiednen s-it! bei Catull gezählt hat, selbstverständlich mit „Philo¬
logischer Akribie," aus ihrer Zahl ein „Gesetz" gewonnen und nebenbei nach
neuester Orthographie die sämtlichen it in seinem Handexemplar weggestrichen
hat und dies nun dem Publikum berichtet mit der Aufforderung, seinem Bei¬
spiel zu folgen. Wer die zahlreichen Programmarbeiten vorurteilsfrei ansieht,
wird zugeben müssen, daß sich unter ihnen viel nützliches Material befindet,
und daß dort mancher Baustein beHauen worden ist, der gut verwendet werden
kann. Aber schließlich müssen sich auch diese Gebiete erschöpfen, auch hier muß
der öde Zustand eintreten, den kürzlich ein Fachgenosse in seinem Selbst¬
nekrolog mit dem bösen Worte „Abhandlung schreiben als Selbstzweck" be¬
zeichnet hat. Die Erforschung des Sprachgebrauchs hat schon zu einem Stil¬
spezialistentum geführt, dem der gewöhnliche Philologe mit naiven Anschauungen
kaum noch nachkommen kann. Die Textkritik ist heute nicht mehr so leicht
wie zu den Zeiten der Holländer und selbst noch Immanuel Bekkers, wo
man nur ein Paar Handschriften benutzte oder sich mit einem eklektischen Ver¬
fahren begnügte. Der moderne Verkehr ermöglicht eine allseitige Beschaffung
des Materials, und darum wird sie auch, und mit Recht, von der Wissenschaft
verlangt. Man denke nur an die neuesten Arbeiten, z. B. über Senekas
HuaösticmLs ng.wrg.1«Z3 oder die Schollen zu Aristophanes und die Parömio-
graphen, von den Kommentaren zu Aristoteles ganz zu schweigen, und man
wird zugeben müssen, daß auch hier dem Schulmanne, wenn er nicht aus
einem Schriftsteller lebenslang seine Spezialität machen will, das Material
über den Kopf gewachsen ist. Und endlich die ästhetisirenden Aufsatze. Ja,
wie selten ist darunter etwas wirklich förderndes! Wie oft werden da offne
Thüren eingeräumt, wie oft allbekanntes wiederholt! Ob es ans andern Gebieten
der Programmabhandlungen besser steht, vermögen wir nicht zu beurteilen.
Die Fachmänner verneinen es.

Ausnehmen mochten wir hier ausdrücklich die Arbeiten, die sich auf Ge¬
schichte beziehen, seien es nun Quellennntersuchungen oder orth- und schul¬
geschichtliche Arbeiten, ferner Mitteilungen ans der Praxis (theoretisirende
Versuche geraten seltner gut) und die dankenswerten Veröffentlichungen bisher
unbenützten Quellenmaterials, besonders für die deutsche Litteratur. Diese
Arbeiten sind das eigentliche Gebiet der „Schulweisheit," hier hat man fast
immer das Gefühl, daß sich der Verfasser nicht erst mühsam hat emporschrauben
müssen, sondern daß er mitten im Stoffe steht und aus dem Vollen schöpft.
Dasselbe gilt selbstverständlich auch von einer Reihe'von Arbeiten ans andern


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[0126] Die Schulprogramme trachtung. Über die Berechtigung, gerade sie zu bevorzugen, ist viel geschrieben und viel gestritten worden. Sie, und mit ihnen die gesamte Philologie, sind zum Teil dadurch in Mißkredit gekommen, daß man einzelne Auswüchse ver¬ allgemeinert hat. Viele Menschen können sich den philologisch gebildeten Schul¬ mann gar nicht mehr anders vorstellen, als wie er in Ekstase gerät, wenn er z. B. die verschiednen s-it! bei Catull gezählt hat, selbstverständlich mit „Philo¬ logischer Akribie," aus ihrer Zahl ein „Gesetz" gewonnen und nebenbei nach neuester Orthographie die sämtlichen it in seinem Handexemplar weggestrichen hat und dies nun dem Publikum berichtet mit der Aufforderung, seinem Bei¬ spiel zu folgen. Wer die zahlreichen Programmarbeiten vorurteilsfrei ansieht, wird zugeben müssen, daß sich unter ihnen viel nützliches Material befindet, und daß dort mancher Baustein beHauen worden ist, der gut verwendet werden kann. Aber schließlich müssen sich auch diese Gebiete erschöpfen, auch hier muß der öde Zustand eintreten, den kürzlich ein Fachgenosse in seinem Selbst¬ nekrolog mit dem bösen Worte „Abhandlung schreiben als Selbstzweck" be¬ zeichnet hat. Die Erforschung des Sprachgebrauchs hat schon zu einem Stil¬ spezialistentum geführt, dem der gewöhnliche Philologe mit naiven Anschauungen kaum noch nachkommen kann. Die Textkritik ist heute nicht mehr so leicht wie zu den Zeiten der Holländer und selbst noch Immanuel Bekkers, wo man nur ein Paar Handschriften benutzte oder sich mit einem eklektischen Ver¬ fahren begnügte. Der moderne Verkehr ermöglicht eine allseitige Beschaffung des Materials, und darum wird sie auch, und mit Recht, von der Wissenschaft verlangt. Man denke nur an die neuesten Arbeiten, z. B. über Senekas HuaösticmLs ng.wrg.1«Z3 oder die Schollen zu Aristophanes und die Parömio- graphen, von den Kommentaren zu Aristoteles ganz zu schweigen, und man wird zugeben müssen, daß auch hier dem Schulmanne, wenn er nicht aus einem Schriftsteller lebenslang seine Spezialität machen will, das Material über den Kopf gewachsen ist. Und endlich die ästhetisirenden Aufsatze. Ja, wie selten ist darunter etwas wirklich förderndes! Wie oft werden da offne Thüren eingeräumt, wie oft allbekanntes wiederholt! Ob es ans andern Gebieten der Programmabhandlungen besser steht, vermögen wir nicht zu beurteilen. Die Fachmänner verneinen es. Ausnehmen mochten wir hier ausdrücklich die Arbeiten, die sich auf Ge¬ schichte beziehen, seien es nun Quellennntersuchungen oder orth- und schul¬ geschichtliche Arbeiten, ferner Mitteilungen ans der Praxis (theoretisirende Versuche geraten seltner gut) und die dankenswerten Veröffentlichungen bisher unbenützten Quellenmaterials, besonders für die deutsche Litteratur. Diese Arbeiten sind das eigentliche Gebiet der „Schulweisheit," hier hat man fast immer das Gefühl, daß sich der Verfasser nicht erst mühsam hat emporschrauben müssen, sondern daß er mitten im Stoffe steht und aus dem Vollen schöpft. Dasselbe gilt selbstverständlich auch von einer Reihe'von Arbeiten ans andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/126>, abgerufen am 01.09.2024.