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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Mein alter Nachbar

kannst. So höre denn! Es war einmal ein junger Mann, der einen Schatz hatte,
der ihm mehr wert war als das Augenlicht, als alle Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeit. Er hatte ihn teuer bezahlt: mit sich selbst, mit seinem eignen Herzen.
Da kam der Versucher und sprach: Dein Schatz ist unecht; prüfe selbst und urteile!
Und der junge Mann lieh sein Ohr der Stimme des Versuchers und überhob sich
wie die ersten Menschen vor ihrem Falle und meinte, zwischen Gutem und Bösem
unterscheiden zu können. Er prüfte und urteilte und -- warf das lautere Gold
weg wie Flitter. Aber sein eignes Herz, das er für das weggegeben hatte, was
er jetzt verschmähte, bekam er nicht zurück; das war mit fortgeworfen. Da fühlte
er seine Armut und wurde bitter gegen Gott und Menschen, und die Bitterkeit
nahm unablässig zu, und zuletzt wollte sie ihn ganz vergiften. Er floh vor ihr
nach fernen, fremden Ländern, aber sie folgte ihm, wohin er kam; er versuchte
sich vor ihr zu verberge" in einem einsamen alten Hause einer fremden Stadt;
aber sie sand ihn auch da. Und sie hätte ihn getötet, wenn sich nicht Gott seiner
erbarmt hätte. Aber Gott erbarmte sich sein und sandte ihm einigen Trost durch
ein Kind, das er in sein stilles, totes Haus führte. Als aber das Kind zum
Jüngling geworden war und in die Welt hinauszog, da fühlte der schwer geprüfte
einsame Mann, daß die Bitterkeit wieder zunahm, und er fürchtete, daß sie ihm
zuletzt über den Kopf wachsen würde. Denn er sah nicht, daß es Gottes Finger
war, der dem jungen Manne den Weg wies, und der sah auch uicht Gottes Finger.
Gleichwohl mußte er der Richtung folgen, die er ihm zeigte, bis er an den Ort
gekommen war, wohin er kommen sollte, an den Ort, wo der weggeworfne Schatz
des alten Freundes einen Platz gefunden hatte.

Ich bin mit Rührung Ihrer Erzählung gefolgt, warf ich ein, aber was Sie
da zuletzt sagten --

Ist dir nicht ganz klar, ergänzte er. Nur Geduld! Das volle Verständnis
Wird gleich kommen. Der junge Mann -- seine Stimme zitterte ein wenig --,
der junge Mann war also an den Ort gekommen, wo der verschmähte Schatz auf¬
gehoben worden war. Und nun glaubte er, nur für sich selbst zu handeln. Aber
er wirkte zugleich im Dienste eines Höhern und wurde ein Werkzeug in der Hand
des großen Lenkers der menschlichen Schicksale, indem er, ohne es zu ahnen, den
Finder des Schatzes auf die Spur des ersten Besitzers leitete. Und nun erfuhr
dieser, wie ungeheuer er sich geirrt und was er weggeworfen hatte; er hörte und
erkannte, daß er nicht betrogen worden war, sondern daß er sich in blindem Eifer
selbst betrogen hatte, und er weinte Thränen der Reue, die spülten die alte Bitter¬
keit gegen Gott und Menschen fort. Aber er erfuhr auch, daß aus Bösem Gutes
gekommen, daß der Schatz, den er weggeworfen hatte, nicht in den Staub getreten
worden war, sondern einen Platz erhalten hatte, der seiner würdig war, daß die
edle, verkannte Frau bis zu ihrem Tode glücklich gelebt hatte an der Seite des
Mannes, den er -- der Verblendete -- in seiner Jugend als seinen besten Freund
geschätzt hatte. Und er weinte wieder, lange, lange! Aber die Thränen unterem
feinen Schmerz und spülten nach und nach die neue Bitterkeit, die er in der letzten
Stunde gegen sich selber heraufbeschworen hatte, hinweg aus seinem Herzen, und
er war versöhnt mit Gott und den Menschen und mit sich selbst.

Der Alte war fertig und schwieg und sann. Jetzt erkannte ich die Ursache
seines frühern Weiberhasses und seiner Menschenfeindschaft überhaupt und ahnte,
daß diese ein Ausdruck des Unfriedens in seinem Herzen gewesen war, unter dem
er gelitten, und des Hasses, den er auch gegen sich selbst gehegt hatte. Ich kannte
ihn ja als eine der tief angelegten, weichen Naturen, die ein ganzes Leben hin-


Mein alter Nachbar

kannst. So höre denn! Es war einmal ein junger Mann, der einen Schatz hatte,
der ihm mehr wert war als das Augenlicht, als alle Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeit. Er hatte ihn teuer bezahlt: mit sich selbst, mit seinem eignen Herzen.
Da kam der Versucher und sprach: Dein Schatz ist unecht; prüfe selbst und urteile!
Und der junge Mann lieh sein Ohr der Stimme des Versuchers und überhob sich
wie die ersten Menschen vor ihrem Falle und meinte, zwischen Gutem und Bösem
unterscheiden zu können. Er prüfte und urteilte und — warf das lautere Gold
weg wie Flitter. Aber sein eignes Herz, das er für das weggegeben hatte, was
er jetzt verschmähte, bekam er nicht zurück; das war mit fortgeworfen. Da fühlte
er seine Armut und wurde bitter gegen Gott und Menschen, und die Bitterkeit
nahm unablässig zu, und zuletzt wollte sie ihn ganz vergiften. Er floh vor ihr
nach fernen, fremden Ländern, aber sie folgte ihm, wohin er kam; er versuchte
sich vor ihr zu verberge» in einem einsamen alten Hause einer fremden Stadt;
aber sie sand ihn auch da. Und sie hätte ihn getötet, wenn sich nicht Gott seiner
erbarmt hätte. Aber Gott erbarmte sich sein und sandte ihm einigen Trost durch
ein Kind, das er in sein stilles, totes Haus führte. Als aber das Kind zum
Jüngling geworden war und in die Welt hinauszog, da fühlte der schwer geprüfte
einsame Mann, daß die Bitterkeit wieder zunahm, und er fürchtete, daß sie ihm
zuletzt über den Kopf wachsen würde. Denn er sah nicht, daß es Gottes Finger
war, der dem jungen Manne den Weg wies, und der sah auch uicht Gottes Finger.
Gleichwohl mußte er der Richtung folgen, die er ihm zeigte, bis er an den Ort
gekommen war, wohin er kommen sollte, an den Ort, wo der weggeworfne Schatz
des alten Freundes einen Platz gefunden hatte.

Ich bin mit Rührung Ihrer Erzählung gefolgt, warf ich ein, aber was Sie
da zuletzt sagten —

Ist dir nicht ganz klar, ergänzte er. Nur Geduld! Das volle Verständnis
Wird gleich kommen. Der junge Mann — seine Stimme zitterte ein wenig —,
der junge Mann war also an den Ort gekommen, wo der verschmähte Schatz auf¬
gehoben worden war. Und nun glaubte er, nur für sich selbst zu handeln. Aber
er wirkte zugleich im Dienste eines Höhern und wurde ein Werkzeug in der Hand
des großen Lenkers der menschlichen Schicksale, indem er, ohne es zu ahnen, den
Finder des Schatzes auf die Spur des ersten Besitzers leitete. Und nun erfuhr
dieser, wie ungeheuer er sich geirrt und was er weggeworfen hatte; er hörte und
erkannte, daß er nicht betrogen worden war, sondern daß er sich in blindem Eifer
selbst betrogen hatte, und er weinte Thränen der Reue, die spülten die alte Bitter¬
keit gegen Gott und Menschen fort. Aber er erfuhr auch, daß aus Bösem Gutes
gekommen, daß der Schatz, den er weggeworfen hatte, nicht in den Staub getreten
worden war, sondern einen Platz erhalten hatte, der seiner würdig war, daß die
edle, verkannte Frau bis zu ihrem Tode glücklich gelebt hatte an der Seite des
Mannes, den er — der Verblendete — in seiner Jugend als seinen besten Freund
geschätzt hatte. Und er weinte wieder, lange, lange! Aber die Thränen unterem
feinen Schmerz und spülten nach und nach die neue Bitterkeit, die er in der letzten
Stunde gegen sich selber heraufbeschworen hatte, hinweg aus seinem Herzen, und
er war versöhnt mit Gott und den Menschen und mit sich selbst.

Der Alte war fertig und schwieg und sann. Jetzt erkannte ich die Ursache
seines frühern Weiberhasses und seiner Menschenfeindschaft überhaupt und ahnte,
daß diese ein Ausdruck des Unfriedens in seinem Herzen gewesen war, unter dem
er gelitten, und des Hasses, den er auch gegen sich selbst gehegt hatte. Ich kannte
ihn ja als eine der tief angelegten, weichen Naturen, die ein ganzes Leben hin-


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[0623] Mein alter Nachbar kannst. So höre denn! Es war einmal ein junger Mann, der einen Schatz hatte, der ihm mehr wert war als das Augenlicht, als alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. Er hatte ihn teuer bezahlt: mit sich selbst, mit seinem eignen Herzen. Da kam der Versucher und sprach: Dein Schatz ist unecht; prüfe selbst und urteile! Und der junge Mann lieh sein Ohr der Stimme des Versuchers und überhob sich wie die ersten Menschen vor ihrem Falle und meinte, zwischen Gutem und Bösem unterscheiden zu können. Er prüfte und urteilte und — warf das lautere Gold weg wie Flitter. Aber sein eignes Herz, das er für das weggegeben hatte, was er jetzt verschmähte, bekam er nicht zurück; das war mit fortgeworfen. Da fühlte er seine Armut und wurde bitter gegen Gott und Menschen, und die Bitterkeit nahm unablässig zu, und zuletzt wollte sie ihn ganz vergiften. Er floh vor ihr nach fernen, fremden Ländern, aber sie folgte ihm, wohin er kam; er versuchte sich vor ihr zu verberge» in einem einsamen alten Hause einer fremden Stadt; aber sie sand ihn auch da. Und sie hätte ihn getötet, wenn sich nicht Gott seiner erbarmt hätte. Aber Gott erbarmte sich sein und sandte ihm einigen Trost durch ein Kind, das er in sein stilles, totes Haus führte. Als aber das Kind zum Jüngling geworden war und in die Welt hinauszog, da fühlte der schwer geprüfte einsame Mann, daß die Bitterkeit wieder zunahm, und er fürchtete, daß sie ihm zuletzt über den Kopf wachsen würde. Denn er sah nicht, daß es Gottes Finger war, der dem jungen Manne den Weg wies, und der sah auch uicht Gottes Finger. Gleichwohl mußte er der Richtung folgen, die er ihm zeigte, bis er an den Ort gekommen war, wohin er kommen sollte, an den Ort, wo der weggeworfne Schatz des alten Freundes einen Platz gefunden hatte. Ich bin mit Rührung Ihrer Erzählung gefolgt, warf ich ein, aber was Sie da zuletzt sagten — Ist dir nicht ganz klar, ergänzte er. Nur Geduld! Das volle Verständnis Wird gleich kommen. Der junge Mann — seine Stimme zitterte ein wenig —, der junge Mann war also an den Ort gekommen, wo der verschmähte Schatz auf¬ gehoben worden war. Und nun glaubte er, nur für sich selbst zu handeln. Aber er wirkte zugleich im Dienste eines Höhern und wurde ein Werkzeug in der Hand des großen Lenkers der menschlichen Schicksale, indem er, ohne es zu ahnen, den Finder des Schatzes auf die Spur des ersten Besitzers leitete. Und nun erfuhr dieser, wie ungeheuer er sich geirrt und was er weggeworfen hatte; er hörte und erkannte, daß er nicht betrogen worden war, sondern daß er sich in blindem Eifer selbst betrogen hatte, und er weinte Thränen der Reue, die spülten die alte Bitter¬ keit gegen Gott und Menschen fort. Aber er erfuhr auch, daß aus Bösem Gutes gekommen, daß der Schatz, den er weggeworfen hatte, nicht in den Staub getreten worden war, sondern einen Platz erhalten hatte, der seiner würdig war, daß die edle, verkannte Frau bis zu ihrem Tode glücklich gelebt hatte an der Seite des Mannes, den er — der Verblendete — in seiner Jugend als seinen besten Freund geschätzt hatte. Und er weinte wieder, lange, lange! Aber die Thränen unterem feinen Schmerz und spülten nach und nach die neue Bitterkeit, die er in der letzten Stunde gegen sich selber heraufbeschworen hatte, hinweg aus seinem Herzen, und er war versöhnt mit Gott und den Menschen und mit sich selbst. Der Alte war fertig und schwieg und sann. Jetzt erkannte ich die Ursache seines frühern Weiberhasses und seiner Menschenfeindschaft überhaupt und ahnte, daß diese ein Ausdruck des Unfriedens in seinem Herzen gewesen war, unter dem er gelitten, und des Hasses, den er auch gegen sich selbst gehegt hatte. Ich kannte ihn ja als eine der tief angelegten, weichen Naturen, die ein ganzes Leben hin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/623>, abgerufen am 15.01.2025.