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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Schule und Politik

dürfen: "Ich bin kein Politiker/' denn er ist nicht nur Lehrer, sondern auch
Bürger eines Verfassungsstaats, und er hat in seinem Amtseide die Verfassung
des Landes mit beschworen. Wozu denn sonst der Preis antiker Bürgertugend,
wenn wir sie selbst nicht üben wollen? Wie weit er von dieser seiner Über¬
zeugung aus in den Kampf der Parteien persönlich und thätig eingreifen darf,
diese schwierige Frage zu entscheiden, ist nicht Aufgabe der Schule, also auch
nicht dieses Orts; sicher aber gehört seine Parteiansicht nicht in die Schule
und nicht vor die Schüler, weil sie eben eine Parteiansicht ist und den Zwist
des Lebens in die Schule tragen würde, die davon frei bleiben muß.

Wie aber? Kann und soll die Schule gar nichts dazu thun, ihre Zög¬
linge so auszurüsten, daß sie sich dereinst eine eigne politische Meinung bilden
können? Soll sie das etwa ganz dem Elternhause überlassen oder gar dem
Zufall?

Gewiß nicht. Sie soll vielmehr das leisten, was sie nach ihrem Wesen
und nach den Verhältnissen unsrer Zeit vermag. Sie soll ihren reifern Schülern
die Einsicht in das Wesen des geschichtlichen Werdens im weitesten Sinne ver¬
mitteln. Sie soll ihnen zeigen, wie eins immer ans dem andern wächst, die
Gegenwart aus der Vergangenheit, die Zukunft aus der Gegenwart, wie die
Geschichte keinen Sprung kennt und daher allem Radikalismus, er mag auf¬
treten, auf welchem Gebiet er will, entgegen ist, wie nicht nur Verhältnisse
und Idee" die Geschichte machen, sondern lebendige Menschen, die verantwort¬
lich sind sür das, was sie thun, wie eine sittliche Weltordnung das Ganze be¬
herrscht und ohne diese Voraussetzung die Entwicklung der Menschheit ein
wüstes, trostloses Chaos sein würde, und sie soll, indem sie zu vorurteilsfreier
Betrachtung des Geschehenen und Gewvrduen anleitet, Begeisterung für alles
Große und für das Vaterland in den jungen Seelen entzünden, denn das
Beste, was wir von der Geschichte haben, sagt Goethe, ist der Enthusiasmus,
den sie erregt. Solche Einsicht und solche Gesinnung zu pflanzen, ist nicht
Parteiliche; über die nationale, monarchische und christliche Grundlage unsrer
Staatsordnung lassen wir nicht mit uns handeln; wer sie verwirft, gehört nicht
zu uus und nicht in die Schule.

Wenn die Schule diese Aufgabe löst, soweit sie vermag, so wird sie genug
thun für die Vorbereitung zum Leben. Welche Folgen es haben kann, wenn
sie das nicht thut, kann ein Beispiel lehren. Das Geschlecht, das vor einem
Jahrhundert die französische Revolution gemacht hat, hatte eine solche Er¬
ziehung nicht gehabt. Von der Jesuitenschule brachte der junge Franzose da¬
mals nichts weiter ins Leben mit als eine gewisse formale Fertigkeit im Latein,
eine logisch-rhetorische Abrichtung und eine äußerliche Kirchlichkeit. Von der
Geschichte seines eignen Volks hatte er nichts erfahren, seine Ideale sah er in
Sparta, Athen und Rom, und diese waren nicht nur republikanisch, sondern
auch noch dazu rhetorisch aufgeputzt. Auf diesem Boden erwuchs jener rcidi-


Schule und Politik

dürfen: „Ich bin kein Politiker/' denn er ist nicht nur Lehrer, sondern auch
Bürger eines Verfassungsstaats, und er hat in seinem Amtseide die Verfassung
des Landes mit beschworen. Wozu denn sonst der Preis antiker Bürgertugend,
wenn wir sie selbst nicht üben wollen? Wie weit er von dieser seiner Über¬
zeugung aus in den Kampf der Parteien persönlich und thätig eingreifen darf,
diese schwierige Frage zu entscheiden, ist nicht Aufgabe der Schule, also auch
nicht dieses Orts; sicher aber gehört seine Parteiansicht nicht in die Schule
und nicht vor die Schüler, weil sie eben eine Parteiansicht ist und den Zwist
des Lebens in die Schule tragen würde, die davon frei bleiben muß.

Wie aber? Kann und soll die Schule gar nichts dazu thun, ihre Zög¬
linge so auszurüsten, daß sie sich dereinst eine eigne politische Meinung bilden
können? Soll sie das etwa ganz dem Elternhause überlassen oder gar dem
Zufall?

Gewiß nicht. Sie soll vielmehr das leisten, was sie nach ihrem Wesen
und nach den Verhältnissen unsrer Zeit vermag. Sie soll ihren reifern Schülern
die Einsicht in das Wesen des geschichtlichen Werdens im weitesten Sinne ver¬
mitteln. Sie soll ihnen zeigen, wie eins immer ans dem andern wächst, die
Gegenwart aus der Vergangenheit, die Zukunft aus der Gegenwart, wie die
Geschichte keinen Sprung kennt und daher allem Radikalismus, er mag auf¬
treten, auf welchem Gebiet er will, entgegen ist, wie nicht nur Verhältnisse
und Idee» die Geschichte machen, sondern lebendige Menschen, die verantwort¬
lich sind sür das, was sie thun, wie eine sittliche Weltordnung das Ganze be¬
herrscht und ohne diese Voraussetzung die Entwicklung der Menschheit ein
wüstes, trostloses Chaos sein würde, und sie soll, indem sie zu vorurteilsfreier
Betrachtung des Geschehenen und Gewvrduen anleitet, Begeisterung für alles
Große und für das Vaterland in den jungen Seelen entzünden, denn das
Beste, was wir von der Geschichte haben, sagt Goethe, ist der Enthusiasmus,
den sie erregt. Solche Einsicht und solche Gesinnung zu pflanzen, ist nicht
Parteiliche; über die nationale, monarchische und christliche Grundlage unsrer
Staatsordnung lassen wir nicht mit uns handeln; wer sie verwirft, gehört nicht
zu uus und nicht in die Schule.

Wenn die Schule diese Aufgabe löst, soweit sie vermag, so wird sie genug
thun für die Vorbereitung zum Leben. Welche Folgen es haben kann, wenn
sie das nicht thut, kann ein Beispiel lehren. Das Geschlecht, das vor einem
Jahrhundert die französische Revolution gemacht hat, hatte eine solche Er¬
ziehung nicht gehabt. Von der Jesuitenschule brachte der junge Franzose da¬
mals nichts weiter ins Leben mit als eine gewisse formale Fertigkeit im Latein,
eine logisch-rhetorische Abrichtung und eine äußerliche Kirchlichkeit. Von der
Geschichte seines eignen Volks hatte er nichts erfahren, seine Ideale sah er in
Sparta, Athen und Rom, und diese waren nicht nur republikanisch, sondern
auch noch dazu rhetorisch aufgeputzt. Auf diesem Boden erwuchs jener rcidi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/60>, abgerufen am 15.01.2025.