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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Frauentag in Kassel

liebe Geschlecht, sondern die ganze Klasse der Arbeiter, Männer^) wie Frauen,
leidet. Man eifre also gegen die heutige Wirtschaftsordnung und helfe mit
an der Lösung der großen Frage, wie ihre Schäden zu beseitigen, wie
gerechtere soziale Grundsätze zu verwirklichen sind, helfe daran nicht mit
Worten, sondern mit praktischen Vorschlägen, aber man rede nicht von einer
heuchlerischen Ungerechtigkeit der Männer gegen die Frauen, von der dabei
gar keine Rede ist. Die Heuchelei liegt ganz wo anders. Oder hat Fräulein
Lange jene Worte nicht so gemeint? Aufgefaßt mußten sie so werden und sind
auch von der Versammlung so aufgefaßt worden: wäre ein Bericht über die
Rede erschienen, so Hütte er hinter der angeführten Äußerung "Bewegung im
Saal" verzeichnen müssen. Denn Bewegung, und zwar ziemlich lebhafte, rief
Fräulein Lange damit hervor, ob sie sich aber dadurch bei Leuten, die sich
durch Sicherheit des Auftretens allein noch nicht imponiren lassen, Sympathie
erworben hat, möchte ich nach meiner persönlichen und andrer Leute Erfahrung
bezweifeln.

Auch andre Nednerinnen ließen es nicht an Sicherheit in gewagten Be¬
hauptungen fehlen; so wurde auch diesmal wieder die berühmte Million über¬
schüssiger Frauen als sichrer Beweisgrund ins Feld geführt, während doch
längst festgestellt ist, wie es sich mit diesem Überschuß wirklich verhält, und
daß er auf der Heirath- und erwerbsfähigen Altersstufe gar nicht vorhanden
ist. Aber ich habe an Fräulein Lange genug und wende mich zum Schluß
zu einigen Äußerungen, die nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind, aber
festgenagelt zu werden verdienen.

Frau stritt erklärte am Schluß ihrer deu Rechtsschutzvereinen für Frauen
geltenden Rede: es giebt eine Forderung, die heute noch nicht von allen
meinen Genossinnen vertreten wird und heute auch noch nicht auf dem Pro¬
gramm steht, aber einst darauf erscheinen wird und muß: Vertretung der
Frauen in Gericht und Gesetzgebung. Also Stimm- und Wahlrecht der Frauen!
Das mögen sich die hinter die Ohren schreiben, die da meinen, bei uns sei
die Frauenbewegung ganz harmloser Natur und habe mit wirklichen Emanzi¬
pationsbestrebungen nichts zu thun. DisoitL moniti!

Zu dieser Forderung paßte gut die Drohung, die gleich darauf eine andre
Dame in die schon im Aufbruch begriffne Versammlung hineinrief: man dürfe
sich nicht wundern, wenn in nächster Zeit von den Frauenvereinen gegen das



Die Prostitution kommt beim Manne nicht in Betracht, aber sie ist ebenfalls eine not¬
wendige Begleiterscheinung unsrer ganzen sozialen Verhältnisse und läßt sich weder durch sitt¬
liche Entrüstung noch durch Gesetze einfach beseitigen. Auch in diesem Punkte wurden auf dem
Kongreß merkwürdige Ansichten laut, die gerade keine besondre Reife der Anschauung verrieten.
Wenn eine Rednerin erklärte: wir werden nicht eher ruhen, als bis die Prostitution verschwunden
ist, so sind das große Worte, hinter denen aber nichts steckt, und die bei dem Ernst der Sache
nur unangenehm wirken.
Grenzboten II 1396 74
Der Frauentag in Kassel

liebe Geschlecht, sondern die ganze Klasse der Arbeiter, Männer^) wie Frauen,
leidet. Man eifre also gegen die heutige Wirtschaftsordnung und helfe mit
an der Lösung der großen Frage, wie ihre Schäden zu beseitigen, wie
gerechtere soziale Grundsätze zu verwirklichen sind, helfe daran nicht mit
Worten, sondern mit praktischen Vorschlägen, aber man rede nicht von einer
heuchlerischen Ungerechtigkeit der Männer gegen die Frauen, von der dabei
gar keine Rede ist. Die Heuchelei liegt ganz wo anders. Oder hat Fräulein
Lange jene Worte nicht so gemeint? Aufgefaßt mußten sie so werden und sind
auch von der Versammlung so aufgefaßt worden: wäre ein Bericht über die
Rede erschienen, so Hütte er hinter der angeführten Äußerung „Bewegung im
Saal" verzeichnen müssen. Denn Bewegung, und zwar ziemlich lebhafte, rief
Fräulein Lange damit hervor, ob sie sich aber dadurch bei Leuten, die sich
durch Sicherheit des Auftretens allein noch nicht imponiren lassen, Sympathie
erworben hat, möchte ich nach meiner persönlichen und andrer Leute Erfahrung
bezweifeln.

Auch andre Nednerinnen ließen es nicht an Sicherheit in gewagten Be¬
hauptungen fehlen; so wurde auch diesmal wieder die berühmte Million über¬
schüssiger Frauen als sichrer Beweisgrund ins Feld geführt, während doch
längst festgestellt ist, wie es sich mit diesem Überschuß wirklich verhält, und
daß er auf der Heirath- und erwerbsfähigen Altersstufe gar nicht vorhanden
ist. Aber ich habe an Fräulein Lange genug und wende mich zum Schluß
zu einigen Äußerungen, die nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind, aber
festgenagelt zu werden verdienen.

Frau stritt erklärte am Schluß ihrer deu Rechtsschutzvereinen für Frauen
geltenden Rede: es giebt eine Forderung, die heute noch nicht von allen
meinen Genossinnen vertreten wird und heute auch noch nicht auf dem Pro¬
gramm steht, aber einst darauf erscheinen wird und muß: Vertretung der
Frauen in Gericht und Gesetzgebung. Also Stimm- und Wahlrecht der Frauen!
Das mögen sich die hinter die Ohren schreiben, die da meinen, bei uns sei
die Frauenbewegung ganz harmloser Natur und habe mit wirklichen Emanzi¬
pationsbestrebungen nichts zu thun. DisoitL moniti!

Zu dieser Forderung paßte gut die Drohung, die gleich darauf eine andre
Dame in die schon im Aufbruch begriffne Versammlung hineinrief: man dürfe
sich nicht wundern, wenn in nächster Zeit von den Frauenvereinen gegen das



Die Prostitution kommt beim Manne nicht in Betracht, aber sie ist ebenfalls eine not¬
wendige Begleiterscheinung unsrer ganzen sozialen Verhältnisse und läßt sich weder durch sitt¬
liche Entrüstung noch durch Gesetze einfach beseitigen. Auch in diesem Punkte wurden auf dem
Kongreß merkwürdige Ansichten laut, die gerade keine besondre Reife der Anschauung verrieten.
Wenn eine Rednerin erklärte: wir werden nicht eher ruhen, als bis die Prostitution verschwunden
ist, so sind das große Worte, hinter denen aber nichts steckt, und die bei dem Ernst der Sache
nur unangenehm wirken.
Grenzboten II 1396 74
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[0593] Der Frauentag in Kassel liebe Geschlecht, sondern die ganze Klasse der Arbeiter, Männer^) wie Frauen, leidet. Man eifre also gegen die heutige Wirtschaftsordnung und helfe mit an der Lösung der großen Frage, wie ihre Schäden zu beseitigen, wie gerechtere soziale Grundsätze zu verwirklichen sind, helfe daran nicht mit Worten, sondern mit praktischen Vorschlägen, aber man rede nicht von einer heuchlerischen Ungerechtigkeit der Männer gegen die Frauen, von der dabei gar keine Rede ist. Die Heuchelei liegt ganz wo anders. Oder hat Fräulein Lange jene Worte nicht so gemeint? Aufgefaßt mußten sie so werden und sind auch von der Versammlung so aufgefaßt worden: wäre ein Bericht über die Rede erschienen, so Hütte er hinter der angeführten Äußerung „Bewegung im Saal" verzeichnen müssen. Denn Bewegung, und zwar ziemlich lebhafte, rief Fräulein Lange damit hervor, ob sie sich aber dadurch bei Leuten, die sich durch Sicherheit des Auftretens allein noch nicht imponiren lassen, Sympathie erworben hat, möchte ich nach meiner persönlichen und andrer Leute Erfahrung bezweifeln. Auch andre Nednerinnen ließen es nicht an Sicherheit in gewagten Be¬ hauptungen fehlen; so wurde auch diesmal wieder die berühmte Million über¬ schüssiger Frauen als sichrer Beweisgrund ins Feld geführt, während doch längst festgestellt ist, wie es sich mit diesem Überschuß wirklich verhält, und daß er auf der Heirath- und erwerbsfähigen Altersstufe gar nicht vorhanden ist. Aber ich habe an Fräulein Lange genug und wende mich zum Schluß zu einigen Äußerungen, die nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind, aber festgenagelt zu werden verdienen. Frau stritt erklärte am Schluß ihrer deu Rechtsschutzvereinen für Frauen geltenden Rede: es giebt eine Forderung, die heute noch nicht von allen meinen Genossinnen vertreten wird und heute auch noch nicht auf dem Pro¬ gramm steht, aber einst darauf erscheinen wird und muß: Vertretung der Frauen in Gericht und Gesetzgebung. Also Stimm- und Wahlrecht der Frauen! Das mögen sich die hinter die Ohren schreiben, die da meinen, bei uns sei die Frauenbewegung ganz harmloser Natur und habe mit wirklichen Emanzi¬ pationsbestrebungen nichts zu thun. DisoitL moniti! Zu dieser Forderung paßte gut die Drohung, die gleich darauf eine andre Dame in die schon im Aufbruch begriffne Versammlung hineinrief: man dürfe sich nicht wundern, wenn in nächster Zeit von den Frauenvereinen gegen das Die Prostitution kommt beim Manne nicht in Betracht, aber sie ist ebenfalls eine not¬ wendige Begleiterscheinung unsrer ganzen sozialen Verhältnisse und läßt sich weder durch sitt¬ liche Entrüstung noch durch Gesetze einfach beseitigen. Auch in diesem Punkte wurden auf dem Kongreß merkwürdige Ansichten laut, die gerade keine besondre Reife der Anschauung verrieten. Wenn eine Rednerin erklärte: wir werden nicht eher ruhen, als bis die Prostitution verschwunden ist, so sind das große Worte, hinter denen aber nichts steckt, und die bei dem Ernst der Sache nur unangenehm wirken. Grenzboten II 1396 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/593>, abgerufen am 22.07.2024.