Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

richtig: der Verfasser war ein junger Leipziger Jurist, Degenhard Pott. Er
stammte aus Braunschweig, wo sein Vater Kaufmann gewesen war, hatte seit
1779 in Leipzig Jura studirt, 1784 auch eine Schrift drücke" lassen: Über
Bankerotte und Fallimente, eine Kritik des kursächsischen Bankerottirermandats
von 1733, die, wie er selbst behauptete, viel Beifall gefunden hatte. Wahr¬
scheinlich hatte er sich aber mit dieser Schrift mehr geschadet als genutzt, und wie
man aus einzelnen Stellen der "Vertrauten Briefe" schließen kann, hatte er
wohl auch hie und da in der Gesellschaft als "Raisonneur" Anstoß erregt,
hatte sich daher vergebens um eine Stellung bemüht, obwohl er ein begabter
und kenntnisreicher Mensch war, war nirgends angekommen, war in Not ge¬
raten und war so schließlich zur Schriftstellerei gedrängt worden. Seine ganze
Galle über dieses Mißgeschick schüttete er in den "Vertrauten Briefen" aus.
Denn ein Pasquill sind sie, ein hagebüchnes Pasquill, so oft sich auch der
Verfasser seiner Unparteilichkeit, seiner Vorsicht, seines Anstandes rühmt, so
auffüllig er auch beflissen ist, den Rat der Stadt gegen ungerechte Anklagen
in Schutz zu nehmen, so oft er auch versichert, daß er weder zum Pasquillanten
noch zum Schmeichler herabsinken wolle, daß es ihm nur um die Wahrheit
zu thun sei, und daß er gegen das viele Gute in Leipzig keineswegs blind sei.
Viele seiner Schilderungen sind stark übertrieben, seine Urteile oft viel zu scharf,
und das übelste: seine sittliche Entrüstung hat gar nichts überzeugendes, sie
wird verdächtig auch da, wo er mit seinen scharfen Urteilen, wie sich beweisen
läßt, und wie eine spätere Zeit bestätigt hat, Recht gehabt hat. Dennoch ist
auch dieses Buch eine unschätzbare und ganz unentbehrliche Ergänzung zu so
kritiklosen, in fortwährender Bewunderung schwimmenden Büchern, wie etwa
Schutzes Beschreibung der Stadt Leipzig vom Jahre 1784. Auch geschrieben
ist das Buch vortrefflich, den Juristen merkt niemand heraus. "Machte ein
gedrückter Mann -- sagt der Verfasser einmal an einer Stelle, wo er von den
Klagen über Steuerdruck redet -- eine ordentliche Vorstellung, Spruch' er nicht
im Akten-, sondern im ehrlichen Mannesstil darinnen, ich bin gewiß, es würde
ihm geholfen werden." Diesen "ehrlichen Mannesstil" beherrscht er; man sieht
hier schon den Einfluß unsrer großen Schriftsteller.

Poets Buch besteht aus zwanzig Briefen, in die der ganze Stoff planvoll
verteilt ist. Auf einige Bemerkungen über das Äußere der Stadt folgen zu¬
nächst die kirchlichen Zustände, die Universität, an die gleich die Schriftsteller
angeschlossen sind, dann die Schulen, das Stadtregiment und die städtischen
Einrichtungen. Das ist der "politische" Teil. Der "moralische" schildert
die gesellschaftlichen Zustände, besonders eingehend die französische Kolonie,
dann den Kaufmannsstand überhaupt, im Anschluß daran den herrschenden Luxus,
die Vergnügungen und -- die Liederlichkeit in allen Schichten der Gesellschaft.
Der letzte Punkt wird hier zum erstenmal mit erschreckender Offenheit behandelt;
dabei werden, wenn auch ohne Namen, ebenso rücksichtslos eine Menge ein-


Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

richtig: der Verfasser war ein junger Leipziger Jurist, Degenhard Pott. Er
stammte aus Braunschweig, wo sein Vater Kaufmann gewesen war, hatte seit
1779 in Leipzig Jura studirt, 1784 auch eine Schrift drücke« lassen: Über
Bankerotte und Fallimente, eine Kritik des kursächsischen Bankerottirermandats
von 1733, die, wie er selbst behauptete, viel Beifall gefunden hatte. Wahr¬
scheinlich hatte er sich aber mit dieser Schrift mehr geschadet als genutzt, und wie
man aus einzelnen Stellen der „Vertrauten Briefe" schließen kann, hatte er
wohl auch hie und da in der Gesellschaft als „Raisonneur" Anstoß erregt,
hatte sich daher vergebens um eine Stellung bemüht, obwohl er ein begabter
und kenntnisreicher Mensch war, war nirgends angekommen, war in Not ge¬
raten und war so schließlich zur Schriftstellerei gedrängt worden. Seine ganze
Galle über dieses Mißgeschick schüttete er in den „Vertrauten Briefen" aus.
Denn ein Pasquill sind sie, ein hagebüchnes Pasquill, so oft sich auch der
Verfasser seiner Unparteilichkeit, seiner Vorsicht, seines Anstandes rühmt, so
auffüllig er auch beflissen ist, den Rat der Stadt gegen ungerechte Anklagen
in Schutz zu nehmen, so oft er auch versichert, daß er weder zum Pasquillanten
noch zum Schmeichler herabsinken wolle, daß es ihm nur um die Wahrheit
zu thun sei, und daß er gegen das viele Gute in Leipzig keineswegs blind sei.
Viele seiner Schilderungen sind stark übertrieben, seine Urteile oft viel zu scharf,
und das übelste: seine sittliche Entrüstung hat gar nichts überzeugendes, sie
wird verdächtig auch da, wo er mit seinen scharfen Urteilen, wie sich beweisen
läßt, und wie eine spätere Zeit bestätigt hat, Recht gehabt hat. Dennoch ist
auch dieses Buch eine unschätzbare und ganz unentbehrliche Ergänzung zu so
kritiklosen, in fortwährender Bewunderung schwimmenden Büchern, wie etwa
Schutzes Beschreibung der Stadt Leipzig vom Jahre 1784. Auch geschrieben
ist das Buch vortrefflich, den Juristen merkt niemand heraus. „Machte ein
gedrückter Mann — sagt der Verfasser einmal an einer Stelle, wo er von den
Klagen über Steuerdruck redet — eine ordentliche Vorstellung, Spruch' er nicht
im Akten-, sondern im ehrlichen Mannesstil darinnen, ich bin gewiß, es würde
ihm geholfen werden." Diesen „ehrlichen Mannesstil" beherrscht er; man sieht
hier schon den Einfluß unsrer großen Schriftsteller.

Poets Buch besteht aus zwanzig Briefen, in die der ganze Stoff planvoll
verteilt ist. Auf einige Bemerkungen über das Äußere der Stadt folgen zu¬
nächst die kirchlichen Zustände, die Universität, an die gleich die Schriftsteller
angeschlossen sind, dann die Schulen, das Stadtregiment und die städtischen
Einrichtungen. Das ist der „politische" Teil. Der „moralische" schildert
die gesellschaftlichen Zustände, besonders eingehend die französische Kolonie,
dann den Kaufmannsstand überhaupt, im Anschluß daran den herrschenden Luxus,
die Vergnügungen und — die Liederlichkeit in allen Schichten der Gesellschaft.
Der letzte Punkt wird hier zum erstenmal mit erschreckender Offenheit behandelt;
dabei werden, wenn auch ohne Namen, ebenso rücksichtslos eine Menge ein-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0562" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222866"/>
          <fw type="header" place="top"> Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1620" prev="#ID_1619"> richtig: der Verfasser war ein junger Leipziger Jurist, Degenhard Pott. Er<lb/>
stammte aus Braunschweig, wo sein Vater Kaufmann gewesen war, hatte seit<lb/>
1779 in Leipzig Jura studirt, 1784 auch eine Schrift drücke« lassen: Über<lb/>
Bankerotte und Fallimente, eine Kritik des kursächsischen Bankerottirermandats<lb/>
von 1733, die, wie er selbst behauptete, viel Beifall gefunden hatte. Wahr¬<lb/>
scheinlich hatte er sich aber mit dieser Schrift mehr geschadet als genutzt, und wie<lb/>
man aus einzelnen Stellen der &#x201E;Vertrauten Briefe" schließen kann, hatte er<lb/>
wohl auch hie und da in der Gesellschaft als &#x201E;Raisonneur" Anstoß erregt,<lb/>
hatte sich daher vergebens um eine Stellung bemüht, obwohl er ein begabter<lb/>
und kenntnisreicher Mensch war, war nirgends angekommen, war in Not ge¬<lb/>
raten und war so schließlich zur Schriftstellerei gedrängt worden. Seine ganze<lb/>
Galle über dieses Mißgeschick schüttete er in den &#x201E;Vertrauten Briefen" aus.<lb/>
Denn ein Pasquill sind sie, ein hagebüchnes Pasquill, so oft sich auch der<lb/>
Verfasser seiner Unparteilichkeit, seiner Vorsicht, seines Anstandes rühmt, so<lb/>
auffüllig er auch beflissen ist, den Rat der Stadt gegen ungerechte Anklagen<lb/>
in Schutz zu nehmen, so oft er auch versichert, daß er weder zum Pasquillanten<lb/>
noch zum Schmeichler herabsinken wolle, daß es ihm nur um die Wahrheit<lb/>
zu thun sei, und daß er gegen das viele Gute in Leipzig keineswegs blind sei.<lb/>
Viele seiner Schilderungen sind stark übertrieben, seine Urteile oft viel zu scharf,<lb/>
und das übelste: seine sittliche Entrüstung hat gar nichts überzeugendes, sie<lb/>
wird verdächtig auch da, wo er mit seinen scharfen Urteilen, wie sich beweisen<lb/>
läßt, und wie eine spätere Zeit bestätigt hat, Recht gehabt hat. Dennoch ist<lb/>
auch dieses Buch eine unschätzbare und ganz unentbehrliche Ergänzung zu so<lb/>
kritiklosen, in fortwährender Bewunderung schwimmenden Büchern, wie etwa<lb/>
Schutzes Beschreibung der Stadt Leipzig vom Jahre 1784. Auch geschrieben<lb/>
ist das Buch vortrefflich, den Juristen merkt niemand heraus. &#x201E;Machte ein<lb/>
gedrückter Mann &#x2014; sagt der Verfasser einmal an einer Stelle, wo er von den<lb/>
Klagen über Steuerdruck redet &#x2014; eine ordentliche Vorstellung, Spruch' er nicht<lb/>
im Akten-, sondern im ehrlichen Mannesstil darinnen, ich bin gewiß, es würde<lb/>
ihm geholfen werden." Diesen &#x201E;ehrlichen Mannesstil" beherrscht er; man sieht<lb/>
hier schon den Einfluß unsrer großen Schriftsteller.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1621" next="#ID_1622"> Poets Buch besteht aus zwanzig Briefen, in die der ganze Stoff planvoll<lb/>
verteilt ist. Auf einige Bemerkungen über das Äußere der Stadt folgen zu¬<lb/>
nächst die kirchlichen Zustände, die Universität, an die gleich die Schriftsteller<lb/>
angeschlossen sind, dann die Schulen, das Stadtregiment und die städtischen<lb/>
Einrichtungen. Das ist der &#x201E;politische" Teil. Der &#x201E;moralische" schildert<lb/>
die gesellschaftlichen Zustände, besonders eingehend die französische Kolonie,<lb/>
dann den Kaufmannsstand überhaupt, im Anschluß daran den herrschenden Luxus,<lb/>
die Vergnügungen und &#x2014; die Liederlichkeit in allen Schichten der Gesellschaft.<lb/>
Der letzte Punkt wird hier zum erstenmal mit erschreckender Offenheit behandelt;<lb/>
dabei werden, wenn auch ohne Namen, ebenso rücksichtslos eine Menge ein-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0562] Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts richtig: der Verfasser war ein junger Leipziger Jurist, Degenhard Pott. Er stammte aus Braunschweig, wo sein Vater Kaufmann gewesen war, hatte seit 1779 in Leipzig Jura studirt, 1784 auch eine Schrift drücke« lassen: Über Bankerotte und Fallimente, eine Kritik des kursächsischen Bankerottirermandats von 1733, die, wie er selbst behauptete, viel Beifall gefunden hatte. Wahr¬ scheinlich hatte er sich aber mit dieser Schrift mehr geschadet als genutzt, und wie man aus einzelnen Stellen der „Vertrauten Briefe" schließen kann, hatte er wohl auch hie und da in der Gesellschaft als „Raisonneur" Anstoß erregt, hatte sich daher vergebens um eine Stellung bemüht, obwohl er ein begabter und kenntnisreicher Mensch war, war nirgends angekommen, war in Not ge¬ raten und war so schließlich zur Schriftstellerei gedrängt worden. Seine ganze Galle über dieses Mißgeschick schüttete er in den „Vertrauten Briefen" aus. Denn ein Pasquill sind sie, ein hagebüchnes Pasquill, so oft sich auch der Verfasser seiner Unparteilichkeit, seiner Vorsicht, seines Anstandes rühmt, so auffüllig er auch beflissen ist, den Rat der Stadt gegen ungerechte Anklagen in Schutz zu nehmen, so oft er auch versichert, daß er weder zum Pasquillanten noch zum Schmeichler herabsinken wolle, daß es ihm nur um die Wahrheit zu thun sei, und daß er gegen das viele Gute in Leipzig keineswegs blind sei. Viele seiner Schilderungen sind stark übertrieben, seine Urteile oft viel zu scharf, und das übelste: seine sittliche Entrüstung hat gar nichts überzeugendes, sie wird verdächtig auch da, wo er mit seinen scharfen Urteilen, wie sich beweisen läßt, und wie eine spätere Zeit bestätigt hat, Recht gehabt hat. Dennoch ist auch dieses Buch eine unschätzbare und ganz unentbehrliche Ergänzung zu so kritiklosen, in fortwährender Bewunderung schwimmenden Büchern, wie etwa Schutzes Beschreibung der Stadt Leipzig vom Jahre 1784. Auch geschrieben ist das Buch vortrefflich, den Juristen merkt niemand heraus. „Machte ein gedrückter Mann — sagt der Verfasser einmal an einer Stelle, wo er von den Klagen über Steuerdruck redet — eine ordentliche Vorstellung, Spruch' er nicht im Akten-, sondern im ehrlichen Mannesstil darinnen, ich bin gewiß, es würde ihm geholfen werden." Diesen „ehrlichen Mannesstil" beherrscht er; man sieht hier schon den Einfluß unsrer großen Schriftsteller. Poets Buch besteht aus zwanzig Briefen, in die der ganze Stoff planvoll verteilt ist. Auf einige Bemerkungen über das Äußere der Stadt folgen zu¬ nächst die kirchlichen Zustände, die Universität, an die gleich die Schriftsteller angeschlossen sind, dann die Schulen, das Stadtregiment und die städtischen Einrichtungen. Das ist der „politische" Teil. Der „moralische" schildert die gesellschaftlichen Zustände, besonders eingehend die französische Kolonie, dann den Kaufmannsstand überhaupt, im Anschluß daran den herrschenden Luxus, die Vergnügungen und — die Liederlichkeit in allen Schichten der Gesellschaft. Der letzte Punkt wird hier zum erstenmal mit erschreckender Offenheit behandelt; dabei werden, wenn auch ohne Namen, ebenso rücksichtslos eine Menge ein-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/562
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/562>, abgerufen am 24.08.2024.