Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches den obrigkeitlichen Zwang und gegen die individuelle Freiheit wirken, und wenn Bei der Entscheidung für die reaktionäre Strömung in den Wirtschaftsfragen Nicht allein verlieren die Schlagwörter des Bundes ihre Zugkraft, sondern Grenzboten II 1896 6
Maßgebliches und Unmaßgebliches den obrigkeitlichen Zwang und gegen die individuelle Freiheit wirken, und wenn Bei der Entscheidung für die reaktionäre Strömung in den Wirtschaftsfragen Nicht allein verlieren die Schlagwörter des Bundes ihre Zugkraft, sondern Grenzboten II 1896 6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0049" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222353"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_166" prev="#ID_165"> den obrigkeitlichen Zwang und gegen die individuelle Freiheit wirken, und wenn<lb/> sie den untern Klassen die Anerkennung der Gleichberechtigung verweigern, das<lb/> sieht ein Blinder. Wollen sie bei solchen Grundsätzen die Mehrheit erlangen, dann<lb/> müssen sie durch einen Staatsstreich den untern Klassen ihr Wahlrecht verkürzen<lb/> oder nehmen. Den Staatsstreich herbeizuführen, dürften aber die ewigen Jammer¬<lb/> artikel nicht das geeignete Mittel sein, da man an der entscheidenden Stelle wahr¬<lb/> scheinlich weder Zeit noch Lust hat, sie zu lesen. Was freilich aus dein Reiche<lb/> werden wird, wenn ihm die unbemittelte Mehrheit des Volkes mit deuselben Ge¬<lb/> fühlen gegenübersteht wie jetzt den Regierungen von Preußen und Sachsen, wenn<lb/> sich das Kaisertum, wie Professor Delbrück im neuesten Hefte seiner Zeitschrift<lb/> schreibt, mit der großen Mehrheit des Volkes in einen dauernden, unausgleichbareu<lb/> Zwiespalt versetzt, das ist die andre Frage. Außerdem werden dann die Herren<lb/> in der Notnbelnversammluug, die sie an die Stelle der Volksvertretung setzen möchten,<lb/> mit der Kreuzzeituugspartei um die Herrschaft zu ringen haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_167"> Bei der Entscheidung für die reaktionäre Strömung in den Wirtschaftsfragen<lb/> glauben nun allerdings die Mittclparteiler den klügsten Teil erwählt zu haben, weil<lb/> ja diese Strömung gerade vo» deu Massen getragen zu werden scheint. Indes ist<lb/> das doch eben nur Schein, und ein Schein, der nicht mehr lauge vorhalten wird.<lb/> Der Antisemitismus ist in der Auflösung begriffen. Die Zünftler machen zwar<lb/> immer noch das größte Geschrei im Handwerkerstande, aber sie bilden mich immer<lb/> noch nur einen kleinen Teil dieses Standes. Der Bund der Landwirte endlich<lb/> ist mit seinem Latein zu Ende. Zwar werden seine Blätter und seine Wander-<lb/> redner noch einige Zeit fortfahren, den Bauern mit der Berechnung der Vorteile,<lb/> die ihnen das Getreidemonopol und die Doppelwährung bringen würden, den Kopf<lb/> schwindlig zu machen, aber da sich die beiden „großen" Mittel nun einmal nicht<lb/> durchsetzen lassen, so werden es die Bauern, nüchtern wie sie sind, bald satt be¬<lb/> kommen, sich mit Lustschlössern unterhalten zu lassen. Seit der Erklärung, die die<lb/> englische Regierung am 17. März im Unterhause abgegeben hat, und die das Wort<lb/> der Grenzboten in Ur. 11, S. 505 bestätigt, daß in England sieben bimetallistische<lb/> Minister noch lange kein bimetallistisches Ministerium bedeuten, seit dieser Er¬<lb/> klärung ist der Bimetallismus endgiltig aus der Reihe der politischen Fragen in<lb/> das Reich der Phantasien versetzt. Fünfzehn Jahre lang ist Herr von Kardorff<lb/> mit seiner Silberrede, die er bei jeder passenden und bei jeder unpassenden Ge¬<lb/> legenheit losließ, der Schrecken des Reichstags gewesen, aber in der Sitzung vom<lb/> 23. Mürz hat er keine gehalten, obgleich sich der Abgeordnete Barth das boshafte<lb/> Vergnügen machte, die Wnhruugsfrage anzuschneiden, sondern mit Betrübnis zu¬<lb/> gestanden, daß es „vorläufig" nichts sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_168" next="#ID_169"> Nicht allein verlieren die Schlagwörter des Bundes ihre Zugkraft, sondern<lb/> die Opposition der Landwirte gegen ihn wird immer stärker. Die vereinzelten<lb/> Stimmen tüchtiger Landwirte, die sich, da ihnen die Spalten der konservativen<lb/> Blätter verschlossen blieben, in freisinnigen äußern mußten, wurden wie so manche<lb/> gegen den Bund gerichtete Erklärung pommerscher Vereine totgeschwiegen; die Oppo¬<lb/> sition der Landwirte Westfalens und der Rheinprovinz wurde als ein Werk der<lb/> Zentrumspartei abgethan. Jetzt wird aber eine Stimme laut, die man nicht wird<lb/> überhören können, und mit der die Zentrumspartei nichts zu schaffen hat. Herr<lb/> Dettweiler in Laubenheim, der dem Vorstande des Landesausschusses der hessischen<lb/> landwirtschaftlichen Vereine und dem Verbandsvorstande der hessischen landwirt¬<lb/> schaftlichen Genossenschaften angehört, berichtet in der Zeitschrift der hessischen land¬<lb/> wirtschaftlichen Vereine über die Lage der deutschen Landwirtschaft, kritisirt dabei</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1896 6</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
den obrigkeitlichen Zwang und gegen die individuelle Freiheit wirken, und wenn
sie den untern Klassen die Anerkennung der Gleichberechtigung verweigern, das
sieht ein Blinder. Wollen sie bei solchen Grundsätzen die Mehrheit erlangen, dann
müssen sie durch einen Staatsstreich den untern Klassen ihr Wahlrecht verkürzen
oder nehmen. Den Staatsstreich herbeizuführen, dürften aber die ewigen Jammer¬
artikel nicht das geeignete Mittel sein, da man an der entscheidenden Stelle wahr¬
scheinlich weder Zeit noch Lust hat, sie zu lesen. Was freilich aus dein Reiche
werden wird, wenn ihm die unbemittelte Mehrheit des Volkes mit deuselben Ge¬
fühlen gegenübersteht wie jetzt den Regierungen von Preußen und Sachsen, wenn
sich das Kaisertum, wie Professor Delbrück im neuesten Hefte seiner Zeitschrift
schreibt, mit der großen Mehrheit des Volkes in einen dauernden, unausgleichbareu
Zwiespalt versetzt, das ist die andre Frage. Außerdem werden dann die Herren
in der Notnbelnversammluug, die sie an die Stelle der Volksvertretung setzen möchten,
mit der Kreuzzeituugspartei um die Herrschaft zu ringen haben.
Bei der Entscheidung für die reaktionäre Strömung in den Wirtschaftsfragen
glauben nun allerdings die Mittclparteiler den klügsten Teil erwählt zu haben, weil
ja diese Strömung gerade vo» deu Massen getragen zu werden scheint. Indes ist
das doch eben nur Schein, und ein Schein, der nicht mehr lauge vorhalten wird.
Der Antisemitismus ist in der Auflösung begriffen. Die Zünftler machen zwar
immer noch das größte Geschrei im Handwerkerstande, aber sie bilden mich immer
noch nur einen kleinen Teil dieses Standes. Der Bund der Landwirte endlich
ist mit seinem Latein zu Ende. Zwar werden seine Blätter und seine Wander-
redner noch einige Zeit fortfahren, den Bauern mit der Berechnung der Vorteile,
die ihnen das Getreidemonopol und die Doppelwährung bringen würden, den Kopf
schwindlig zu machen, aber da sich die beiden „großen" Mittel nun einmal nicht
durchsetzen lassen, so werden es die Bauern, nüchtern wie sie sind, bald satt be¬
kommen, sich mit Lustschlössern unterhalten zu lassen. Seit der Erklärung, die die
englische Regierung am 17. März im Unterhause abgegeben hat, und die das Wort
der Grenzboten in Ur. 11, S. 505 bestätigt, daß in England sieben bimetallistische
Minister noch lange kein bimetallistisches Ministerium bedeuten, seit dieser Er¬
klärung ist der Bimetallismus endgiltig aus der Reihe der politischen Fragen in
das Reich der Phantasien versetzt. Fünfzehn Jahre lang ist Herr von Kardorff
mit seiner Silberrede, die er bei jeder passenden und bei jeder unpassenden Ge¬
legenheit losließ, der Schrecken des Reichstags gewesen, aber in der Sitzung vom
23. Mürz hat er keine gehalten, obgleich sich der Abgeordnete Barth das boshafte
Vergnügen machte, die Wnhruugsfrage anzuschneiden, sondern mit Betrübnis zu¬
gestanden, daß es „vorläufig" nichts sei.
Nicht allein verlieren die Schlagwörter des Bundes ihre Zugkraft, sondern
die Opposition der Landwirte gegen ihn wird immer stärker. Die vereinzelten
Stimmen tüchtiger Landwirte, die sich, da ihnen die Spalten der konservativen
Blätter verschlossen blieben, in freisinnigen äußern mußten, wurden wie so manche
gegen den Bund gerichtete Erklärung pommerscher Vereine totgeschwiegen; die Oppo¬
sition der Landwirte Westfalens und der Rheinprovinz wurde als ein Werk der
Zentrumspartei abgethan. Jetzt wird aber eine Stimme laut, die man nicht wird
überhören können, und mit der die Zentrumspartei nichts zu schaffen hat. Herr
Dettweiler in Laubenheim, der dem Vorstande des Landesausschusses der hessischen
landwirtschaftlichen Vereine und dem Verbandsvorstande der hessischen landwirt¬
schaftlichen Genossenschaften angehört, berichtet in der Zeitschrift der hessischen land¬
wirtschaftlichen Vereine über die Lage der deutschen Landwirtschaft, kritisirt dabei
Grenzboten II 1896 6
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