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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

dem Fenster lauscht, so ändert er seinen Gang, er zwingt sich in ein nachlässiges
Betragen, will beschäftigt oder im Begriff, einem angesehenen Hause die Cour zu
machen scheinen. Wer ihn nicht kennt, gegen den nimmt er das Air eines vor¬
nehmen Herkommens an. Begegnen sich zwei, die sich nicht kennen, so ists Gefahr,
nicht zu scheitern. Scheitern heißt: die Überlegenheit des andern im stutzermcißigeu
Betragen fürchten und durch ängstliche Bescheidenheit sie zu erkennen geben. Sind
beide in ihrer Kunst geübt, so streckt der eine im Vorbeigehen sogleich die Nase
in die Hohe, wenn es der andre thut, beide sehen nach einer andern Gegend, ver¬
meiden, daß sie sich nicht in Weg kommen und Gefahr laufen, einander mit
Höflichkeit auszuweichen. Sollte dem eiuen etwas in die Augen fallen, das an
dem andern nicht nach der Mode wär, so zeigt er in seiner Miene, daß er ge¬
wonnen Spiel hat, er fängt an, langsamer zu gehen, damit die Beobachtenden in
Vergleichung beider Zeit haben, diesen Modefehler zu bemerken und ihn zu tadeln.
Sind sie Freunde, die sich begegnen, so bleiben sie mitten auf der Straße stehen
und fangen einen Discours an, schielen nach allen Fenstern, ob eine Dame auf sie
Acht hat, und sollte dies sein, so verweilen sie um desto länger -- sxsetvnwr ut,
ixsi. Sie machen sich einige niedliche Verbeugungen, verlassen sich, um sich wieder
in einer andern Straße zu begegnen, und jeder von ihnen glaubt alle Herzen er¬
obert zu habe". Lassen es ihre Geschäfte zu, so besuchen sie die Oper, applau-
diren ohne Geschmack, schreien snoora, und ohne Gefühl für die Musik und ohne
den Text zu verstehe", lachen sie bei einer Posse, die der Schauspieler macht,
überlaut; wenn dann in Gesellschaft eine Dame die gefühlvolle Arie, die gesungen
wurde, lobt, so setzen sie hinzu: Ja, aber der Ponziami ist doch ein drolliger
Mann. Im Conzert^) sitzen sie bei ein paar Damen, damit ihnen die Zeit nicht
lang werde; ohne die Musik gehört zu haben, applaudiren sie länger als Leute,
denen die Hände dann wehthuu, und ists möglich, so reizen sie durch ihr Klatschen
die Anwesenden zum nochmaligen Applaudiren, dann verstecken sie die Köpfe hinter
die Damen und lachen, daß ihnen der Bauch wehthut. Während der Pause laufen
sie vou Dame zu Dame, sagen jeder ein paar Wörtchen Unsinn, damit man sage:
Sie sind ja auch da! und sehe, wie wohlgewählt das Herrchen sich gekleidet habe.

Ein Buch, das 1785 erschien: Freye Bemerkungen über Berlin, Leipzig
und Prag, Original und Kopie (ebenfalls ohne Druckort), soll hier nur der
Vollständigkeit wegen mit erwähnt werden, denn es ist in dem Teil über
Leipzig (S. 89 bis 180) fast nichts, als eine dreiste Abschreiberei aus dem
"Tableau" und in deu beiden andern Teilen wahrscheinlich ebenso dreist aus
Büchern über Berlin und Prag abgeschrieben; eignes enthält es wenig.

(Fortsetzung folgt)





") Gemeine ist das Gcwandhauskonzert.
Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

dem Fenster lauscht, so ändert er seinen Gang, er zwingt sich in ein nachlässiges
Betragen, will beschäftigt oder im Begriff, einem angesehenen Hause die Cour zu
machen scheinen. Wer ihn nicht kennt, gegen den nimmt er das Air eines vor¬
nehmen Herkommens an. Begegnen sich zwei, die sich nicht kennen, so ists Gefahr,
nicht zu scheitern. Scheitern heißt: die Überlegenheit des andern im stutzermcißigeu
Betragen fürchten und durch ängstliche Bescheidenheit sie zu erkennen geben. Sind
beide in ihrer Kunst geübt, so streckt der eine im Vorbeigehen sogleich die Nase
in die Hohe, wenn es der andre thut, beide sehen nach einer andern Gegend, ver¬
meiden, daß sie sich nicht in Weg kommen und Gefahr laufen, einander mit
Höflichkeit auszuweichen. Sollte dem eiuen etwas in die Augen fallen, das an
dem andern nicht nach der Mode wär, so zeigt er in seiner Miene, daß er ge¬
wonnen Spiel hat, er fängt an, langsamer zu gehen, damit die Beobachtenden in
Vergleichung beider Zeit haben, diesen Modefehler zu bemerken und ihn zu tadeln.
Sind sie Freunde, die sich begegnen, so bleiben sie mitten auf der Straße stehen
und fangen einen Discours an, schielen nach allen Fenstern, ob eine Dame auf sie
Acht hat, und sollte dies sein, so verweilen sie um desto länger — sxsetvnwr ut,
ixsi. Sie machen sich einige niedliche Verbeugungen, verlassen sich, um sich wieder
in einer andern Straße zu begegnen, und jeder von ihnen glaubt alle Herzen er¬
obert zu habe». Lassen es ihre Geschäfte zu, so besuchen sie die Oper, applau-
diren ohne Geschmack, schreien snoora, und ohne Gefühl für die Musik und ohne
den Text zu verstehe», lachen sie bei einer Posse, die der Schauspieler macht,
überlaut; wenn dann in Gesellschaft eine Dame die gefühlvolle Arie, die gesungen
wurde, lobt, so setzen sie hinzu: Ja, aber der Ponziami ist doch ein drolliger
Mann. Im Conzert^) sitzen sie bei ein paar Damen, damit ihnen die Zeit nicht
lang werde; ohne die Musik gehört zu haben, applaudiren sie länger als Leute,
denen die Hände dann wehthuu, und ists möglich, so reizen sie durch ihr Klatschen
die Anwesenden zum nochmaligen Applaudiren, dann verstecken sie die Köpfe hinter
die Damen und lachen, daß ihnen der Bauch wehthut. Während der Pause laufen
sie vou Dame zu Dame, sagen jeder ein paar Wörtchen Unsinn, damit man sage:
Sie sind ja auch da! und sehe, wie wohlgewählt das Herrchen sich gekleidet habe.

Ein Buch, das 1785 erschien: Freye Bemerkungen über Berlin, Leipzig
und Prag, Original und Kopie (ebenfalls ohne Druckort), soll hier nur der
Vollständigkeit wegen mit erwähnt werden, denn es ist in dem Teil über
Leipzig (S. 89 bis 180) fast nichts, als eine dreiste Abschreiberei aus dem
„Tableau" und in deu beiden andern Teilen wahrscheinlich ebenso dreist aus
Büchern über Berlin und Prag abgeschrieben; eignes enthält es wenig.

(Fortsetzung folgt)





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[0482] Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts dem Fenster lauscht, so ändert er seinen Gang, er zwingt sich in ein nachlässiges Betragen, will beschäftigt oder im Begriff, einem angesehenen Hause die Cour zu machen scheinen. Wer ihn nicht kennt, gegen den nimmt er das Air eines vor¬ nehmen Herkommens an. Begegnen sich zwei, die sich nicht kennen, so ists Gefahr, nicht zu scheitern. Scheitern heißt: die Überlegenheit des andern im stutzermcißigeu Betragen fürchten und durch ängstliche Bescheidenheit sie zu erkennen geben. Sind beide in ihrer Kunst geübt, so streckt der eine im Vorbeigehen sogleich die Nase in die Hohe, wenn es der andre thut, beide sehen nach einer andern Gegend, ver¬ meiden, daß sie sich nicht in Weg kommen und Gefahr laufen, einander mit Höflichkeit auszuweichen. Sollte dem eiuen etwas in die Augen fallen, das an dem andern nicht nach der Mode wär, so zeigt er in seiner Miene, daß er ge¬ wonnen Spiel hat, er fängt an, langsamer zu gehen, damit die Beobachtenden in Vergleichung beider Zeit haben, diesen Modefehler zu bemerken und ihn zu tadeln. Sind sie Freunde, die sich begegnen, so bleiben sie mitten auf der Straße stehen und fangen einen Discours an, schielen nach allen Fenstern, ob eine Dame auf sie Acht hat, und sollte dies sein, so verweilen sie um desto länger — sxsetvnwr ut, ixsi. Sie machen sich einige niedliche Verbeugungen, verlassen sich, um sich wieder in einer andern Straße zu begegnen, und jeder von ihnen glaubt alle Herzen er¬ obert zu habe». Lassen es ihre Geschäfte zu, so besuchen sie die Oper, applau- diren ohne Geschmack, schreien snoora, und ohne Gefühl für die Musik und ohne den Text zu verstehe», lachen sie bei einer Posse, die der Schauspieler macht, überlaut; wenn dann in Gesellschaft eine Dame die gefühlvolle Arie, die gesungen wurde, lobt, so setzen sie hinzu: Ja, aber der Ponziami ist doch ein drolliger Mann. Im Conzert^) sitzen sie bei ein paar Damen, damit ihnen die Zeit nicht lang werde; ohne die Musik gehört zu haben, applaudiren sie länger als Leute, denen die Hände dann wehthuu, und ists möglich, so reizen sie durch ihr Klatschen die Anwesenden zum nochmaligen Applaudiren, dann verstecken sie die Köpfe hinter die Damen und lachen, daß ihnen der Bauch wehthut. Während der Pause laufen sie vou Dame zu Dame, sagen jeder ein paar Wörtchen Unsinn, damit man sage: Sie sind ja auch da! und sehe, wie wohlgewählt das Herrchen sich gekleidet habe. Ein Buch, das 1785 erschien: Freye Bemerkungen über Berlin, Leipzig und Prag, Original und Kopie (ebenfalls ohne Druckort), soll hier nur der Vollständigkeit wegen mit erwähnt werden, denn es ist in dem Teil über Leipzig (S. 89 bis 180) fast nichts, als eine dreiste Abschreiberei aus dem „Tableau" und in deu beiden andern Teilen wahrscheinlich ebenso dreist aus Büchern über Berlin und Prag abgeschrieben; eignes enthält es wenig. (Fortsetzung folgt) ") Gemeine ist das Gcwandhauskonzert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/482>, abgerufen am 24.08.2024.