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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Leipziger Pasquillanteil des achtzehnte" Jahrhunderts

Disputationen, das Theater, den Gottesdienst, die Messe mit ihren unzähligen
Sehenswürdigkeiten, allerhand Volksbelustigungen, wie das Münnerschießen,
das Fischerstechen, die Vogelwiese und die Kletterstange, auch Vergnügungs¬
orte außerhalb der Stadt, und überall kommen sie mit merkwürdigen Personen
in Berührung, die ebenfalls eingehend beschrieben werden. Gelegentlich werden
auch städtische Einrichtungen, Universitätsgebräuche, gesellschaftliche Sitten ge¬
schildert. Aber alle Personen erscheinen unter erdichteten Namen von jener
Art, wie sie in den moralischen Wochenschriften und in den Komödien jener
Zeit üblich waren (der Hofmeister heißt Herr Vollweis, ein Kaufmann Herr
Theuerwaar, der Fechtmeister Herr Stößel, ein feiger Student Herr Ohnemuth),
und selbst Orte und Personen, über die gar kein Zweifel sein konnte, wie
Auerbachs Hof, der Glanzpunkt der Leipziger Messen, Quandts Hof auf der
Nikolaistraße mit seinem kleinen Komödienhause, die Kochsche Schauspieler¬
truppe, die darin spielte, werden mit andern Namen belegt: Edimbachs Hof,
Riechers Haus, die Spielenbergerische Gesellschaft usw. Auch sonst erinnert
das Buch in seiner ganzen Art noch an die moralischen Wochenschriften. Ob¬
wohl unzweifelhaft oft ganz bestimmte Personen "angestochen" sind, schillern
doch die meisten Figuren so zwischen Typen und wirklichen Persönlichkeiten,
daß niemand dem Verfasser etwas anhaben konnte, und ebenso vorsichtig ist der
Ton des Buches, der zwar nicht durchweg, aber doch meistens festgehalten
wird: der Ton ironischer Bewunderung. Die Darstellung ist breit und voller
Abschweifungen, man sieht deutlich das Bestreben des Verfassers, die Hefte zu
füllen; die Sprache ist noch ganz die breitspurige, weitschweifige der ersten
Hülste des achtzehnten Jahrhunderts -- zwanzig Jahre später schrieb man ein
Deutsch, das wie durch ein Jahrhundert davon getrennt erscheint. Dennoch
ist das Buch sür die damaligen gesellschaftlichen Zustünde Leipzigs eine wichtige
Quelle. Ein besondres Interesse gewinnt es noch dadurch, daß die geschilderte
Zeit mit Goethes Leipziger Studentenjahren zusammenfällt. Goethe war vom
Oktober 1765 bis zum August 1768 in Leipzig, am 10. Oktober 1766 wurde
das neue Theater auf der Ranstüdter Bastei eröffnet. Das "Galante Leipzig"
schildert noch die Schaubühne in Quandts Hof; "itzt befindet sie sich an einem
andern Orte, und ich werde Gelegenheit finden, ein andermal davon ausführ¬
licher zu handeln" heißt es Seite 43. Die ganze Schilderung paßt also etwa
auf die Mitte der sechziger Jahre, ohne daß deshalb späteres ganz ausgeschlossen
wäre; so bezieht sich die Erwähnung eines Stndententumults gleich zu Anfange
des zweiten Stücks höchst wahrscheinlich auf die Vorgänge, die in die letzten
Tagen von Goethes Leipziger Aufenthalt spielten (August 1768). Daß Goethe
zu der bekannten Stelle im Faust: "Mein Leipzig lob' ich mir, es ist ein
klein Paris und bildet seine Leute" durch den ersten Satz des "Galanten Leipzig"
angeregt worden sei: "Die Zeit, die ich in Leipzig, welches man mit Grund
der Wahrheit Paris im kleinen nennen kann, zugebracht habe, rechne ich zu


Leipziger Pasquillanteil des achtzehnte» Jahrhunderts

Disputationen, das Theater, den Gottesdienst, die Messe mit ihren unzähligen
Sehenswürdigkeiten, allerhand Volksbelustigungen, wie das Münnerschießen,
das Fischerstechen, die Vogelwiese und die Kletterstange, auch Vergnügungs¬
orte außerhalb der Stadt, und überall kommen sie mit merkwürdigen Personen
in Berührung, die ebenfalls eingehend beschrieben werden. Gelegentlich werden
auch städtische Einrichtungen, Universitätsgebräuche, gesellschaftliche Sitten ge¬
schildert. Aber alle Personen erscheinen unter erdichteten Namen von jener
Art, wie sie in den moralischen Wochenschriften und in den Komödien jener
Zeit üblich waren (der Hofmeister heißt Herr Vollweis, ein Kaufmann Herr
Theuerwaar, der Fechtmeister Herr Stößel, ein feiger Student Herr Ohnemuth),
und selbst Orte und Personen, über die gar kein Zweifel sein konnte, wie
Auerbachs Hof, der Glanzpunkt der Leipziger Messen, Quandts Hof auf der
Nikolaistraße mit seinem kleinen Komödienhause, die Kochsche Schauspieler¬
truppe, die darin spielte, werden mit andern Namen belegt: Edimbachs Hof,
Riechers Haus, die Spielenbergerische Gesellschaft usw. Auch sonst erinnert
das Buch in seiner ganzen Art noch an die moralischen Wochenschriften. Ob¬
wohl unzweifelhaft oft ganz bestimmte Personen „angestochen" sind, schillern
doch die meisten Figuren so zwischen Typen und wirklichen Persönlichkeiten,
daß niemand dem Verfasser etwas anhaben konnte, und ebenso vorsichtig ist der
Ton des Buches, der zwar nicht durchweg, aber doch meistens festgehalten
wird: der Ton ironischer Bewunderung. Die Darstellung ist breit und voller
Abschweifungen, man sieht deutlich das Bestreben des Verfassers, die Hefte zu
füllen; die Sprache ist noch ganz die breitspurige, weitschweifige der ersten
Hülste des achtzehnten Jahrhunderts — zwanzig Jahre später schrieb man ein
Deutsch, das wie durch ein Jahrhundert davon getrennt erscheint. Dennoch
ist das Buch sür die damaligen gesellschaftlichen Zustünde Leipzigs eine wichtige
Quelle. Ein besondres Interesse gewinnt es noch dadurch, daß die geschilderte
Zeit mit Goethes Leipziger Studentenjahren zusammenfällt. Goethe war vom
Oktober 1765 bis zum August 1768 in Leipzig, am 10. Oktober 1766 wurde
das neue Theater auf der Ranstüdter Bastei eröffnet. Das „Galante Leipzig"
schildert noch die Schaubühne in Quandts Hof; „itzt befindet sie sich an einem
andern Orte, und ich werde Gelegenheit finden, ein andermal davon ausführ¬
licher zu handeln" heißt es Seite 43. Die ganze Schilderung paßt also etwa
auf die Mitte der sechziger Jahre, ohne daß deshalb späteres ganz ausgeschlossen
wäre; so bezieht sich die Erwähnung eines Stndententumults gleich zu Anfange
des zweiten Stücks höchst wahrscheinlich auf die Vorgänge, die in die letzten
Tagen von Goethes Leipziger Aufenthalt spielten (August 1768). Daß Goethe
zu der bekannten Stelle im Faust: „Mein Leipzig lob' ich mir, es ist ein
klein Paris und bildet seine Leute" durch den ersten Satz des „Galanten Leipzig"
angeregt worden sei: „Die Zeit, die ich in Leipzig, welches man mit Grund
der Wahrheit Paris im kleinen nennen kann, zugebracht habe, rechne ich zu


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[0477] Leipziger Pasquillanteil des achtzehnte» Jahrhunderts Disputationen, das Theater, den Gottesdienst, die Messe mit ihren unzähligen Sehenswürdigkeiten, allerhand Volksbelustigungen, wie das Münnerschießen, das Fischerstechen, die Vogelwiese und die Kletterstange, auch Vergnügungs¬ orte außerhalb der Stadt, und überall kommen sie mit merkwürdigen Personen in Berührung, die ebenfalls eingehend beschrieben werden. Gelegentlich werden auch städtische Einrichtungen, Universitätsgebräuche, gesellschaftliche Sitten ge¬ schildert. Aber alle Personen erscheinen unter erdichteten Namen von jener Art, wie sie in den moralischen Wochenschriften und in den Komödien jener Zeit üblich waren (der Hofmeister heißt Herr Vollweis, ein Kaufmann Herr Theuerwaar, der Fechtmeister Herr Stößel, ein feiger Student Herr Ohnemuth), und selbst Orte und Personen, über die gar kein Zweifel sein konnte, wie Auerbachs Hof, der Glanzpunkt der Leipziger Messen, Quandts Hof auf der Nikolaistraße mit seinem kleinen Komödienhause, die Kochsche Schauspieler¬ truppe, die darin spielte, werden mit andern Namen belegt: Edimbachs Hof, Riechers Haus, die Spielenbergerische Gesellschaft usw. Auch sonst erinnert das Buch in seiner ganzen Art noch an die moralischen Wochenschriften. Ob¬ wohl unzweifelhaft oft ganz bestimmte Personen „angestochen" sind, schillern doch die meisten Figuren so zwischen Typen und wirklichen Persönlichkeiten, daß niemand dem Verfasser etwas anhaben konnte, und ebenso vorsichtig ist der Ton des Buches, der zwar nicht durchweg, aber doch meistens festgehalten wird: der Ton ironischer Bewunderung. Die Darstellung ist breit und voller Abschweifungen, man sieht deutlich das Bestreben des Verfassers, die Hefte zu füllen; die Sprache ist noch ganz die breitspurige, weitschweifige der ersten Hülste des achtzehnten Jahrhunderts — zwanzig Jahre später schrieb man ein Deutsch, das wie durch ein Jahrhundert davon getrennt erscheint. Dennoch ist das Buch sür die damaligen gesellschaftlichen Zustünde Leipzigs eine wichtige Quelle. Ein besondres Interesse gewinnt es noch dadurch, daß die geschilderte Zeit mit Goethes Leipziger Studentenjahren zusammenfällt. Goethe war vom Oktober 1765 bis zum August 1768 in Leipzig, am 10. Oktober 1766 wurde das neue Theater auf der Ranstüdter Bastei eröffnet. Das „Galante Leipzig" schildert noch die Schaubühne in Quandts Hof; „itzt befindet sie sich an einem andern Orte, und ich werde Gelegenheit finden, ein andermal davon ausführ¬ licher zu handeln" heißt es Seite 43. Die ganze Schilderung paßt also etwa auf die Mitte der sechziger Jahre, ohne daß deshalb späteres ganz ausgeschlossen wäre; so bezieht sich die Erwähnung eines Stndententumults gleich zu Anfange des zweiten Stücks höchst wahrscheinlich auf die Vorgänge, die in die letzten Tagen von Goethes Leipziger Aufenthalt spielten (August 1768). Daß Goethe zu der bekannten Stelle im Faust: „Mein Leipzig lob' ich mir, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute" durch den ersten Satz des „Galanten Leipzig" angeregt worden sei: „Die Zeit, die ich in Leipzig, welches man mit Grund der Wahrheit Paris im kleinen nennen kann, zugebracht habe, rechne ich zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/477>, abgerufen am 22.07.2024.