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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

Inseratenteil noch in den sechziger Jahren bestanden; der Volksmund nannte
ihn die Eselswiese. Heute würde die Aufnahme solcher Inserate wohl überall
sür äußerst unanständig gelten. Dafür behandelt aber jetzt der redaktionelle
Teil vieler Zeitungen gesellschaftliche Zustände und Vorgänge, auch solche von
privatester Natur, auf eine Weise, die von den drei eingangs geforderten
Tugenden oft sehr viel vermissen läßt.

Im vorigen Jahrhundert besorgten dieses Geschäft der Kritik die sogenannten
moralischen Wochenschriften. Wie manchesmal waren da die Züge zu einem
scheinbar ganz allgemein gehaltnen Charakterbilde oder zu der Schilderung
einer gerade in Blüte stehenden Modenarrheit so deutlich dem Leben entlehnt,
daß sich Personen meldeten und sich beschwerten, weil sie sich getroffen fühlten!
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die moralischen Wochen-
schristen aus der Mode kamen, mußten sich solche Schilderungen in besondre
Bücher und Broschüren flüchten, die in den verschiedensten Darstelluugssormen
erschienen, als Gespräche, als Briefe, sogar als Wörterbücher, die aber von
denen, die daran Anstoß nahmen, alle mit dem bösen Worte Pasquill bezeichnet
wurden. Solche Pasquille werden wohl damals über alle größern Städte
Deutschlands geschrieben worden sein; aber besonders zahlreich erschienen sie
über Leipzig. Schon wieder so ein Ding von und sür Leipzig? beginnt die
Vorrede zu "Leipzig im Profil" (1799), einem Buche, das selber zu dieser Klasse
von Schriften gehört. In der That, wohl keine deutsche Stadt hat eine solche
Menge von Pasquilllitteratur über sich ergehen lassen müssen, wie Leipzig im
letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts; die Stadt war damals ein wahrer
Sumpfboden für solche Erzeugnisse.

Über die Ursache dieser Fruchtbarkeit kann kein Zweifel sein: sie liegt in
der eigentümlichen Verbindung des Buchhandels und der Universität in Leipzig.
Die Universität lieferte die Verfasser, meist verbummelte Studenten, deren
ganzes Studium darin bestanden hatte, das Leben der Stadt in allen Schichten,
vor allen Dingen natürlich unten, aber so weit es möglich war, auch oben
kennen zu lernen; und im Buchhandel fanden sich immer wagehalsige Leute,
mitunter ebenfalls verkommne ^(Zg.6Linioi, die solche Erzeugnisse ohne Zensur
drucken ließen und vertrieben, auf die Gefahr hin, eingesperrt und zu hohen
Geldstrafen verurteilt zu werden. Denn wenn ein solches Machwerk Anstoß
erregte, so wurde auf Verfasser, Drucker und Verleger von der "Bücherkom-
mission" gefahndet, der litterarischen Polizeibehörde, die schon seit dem Ende
des siebzehnten Jahrhunderts in Leipzig bestand, aus dem Rate der Stadt und
einem Universitätsprofessor zusammengesetzt war und zum ausführenden Be¬
amten einen "Bücherinspektor" hattet) War das litterarische Vergehen be-



Dieser Bücherinspektor war eine verhaßte Person, man suchte ihn zu hintergehen und
zu ärgern, wie und wo man nur konnte. Als im Januar 1789 in der Wnltherschen Buch¬
handlung (Walther und Pott) das Lustspiel konfiszirt werden sollte, das Barth in Halle gegen
Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts

Inseratenteil noch in den sechziger Jahren bestanden; der Volksmund nannte
ihn die Eselswiese. Heute würde die Aufnahme solcher Inserate wohl überall
sür äußerst unanständig gelten. Dafür behandelt aber jetzt der redaktionelle
Teil vieler Zeitungen gesellschaftliche Zustände und Vorgänge, auch solche von
privatester Natur, auf eine Weise, die von den drei eingangs geforderten
Tugenden oft sehr viel vermissen läßt.

Im vorigen Jahrhundert besorgten dieses Geschäft der Kritik die sogenannten
moralischen Wochenschriften. Wie manchesmal waren da die Züge zu einem
scheinbar ganz allgemein gehaltnen Charakterbilde oder zu der Schilderung
einer gerade in Blüte stehenden Modenarrheit so deutlich dem Leben entlehnt,
daß sich Personen meldeten und sich beschwerten, weil sie sich getroffen fühlten!
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die moralischen Wochen-
schristen aus der Mode kamen, mußten sich solche Schilderungen in besondre
Bücher und Broschüren flüchten, die in den verschiedensten Darstelluugssormen
erschienen, als Gespräche, als Briefe, sogar als Wörterbücher, die aber von
denen, die daran Anstoß nahmen, alle mit dem bösen Worte Pasquill bezeichnet
wurden. Solche Pasquille werden wohl damals über alle größern Städte
Deutschlands geschrieben worden sein; aber besonders zahlreich erschienen sie
über Leipzig. Schon wieder so ein Ding von und sür Leipzig? beginnt die
Vorrede zu „Leipzig im Profil" (1799), einem Buche, das selber zu dieser Klasse
von Schriften gehört. In der That, wohl keine deutsche Stadt hat eine solche
Menge von Pasquilllitteratur über sich ergehen lassen müssen, wie Leipzig im
letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts; die Stadt war damals ein wahrer
Sumpfboden für solche Erzeugnisse.

Über die Ursache dieser Fruchtbarkeit kann kein Zweifel sein: sie liegt in
der eigentümlichen Verbindung des Buchhandels und der Universität in Leipzig.
Die Universität lieferte die Verfasser, meist verbummelte Studenten, deren
ganzes Studium darin bestanden hatte, das Leben der Stadt in allen Schichten,
vor allen Dingen natürlich unten, aber so weit es möglich war, auch oben
kennen zu lernen; und im Buchhandel fanden sich immer wagehalsige Leute,
mitunter ebenfalls verkommne ^(Zg.6Linioi, die solche Erzeugnisse ohne Zensur
drucken ließen und vertrieben, auf die Gefahr hin, eingesperrt und zu hohen
Geldstrafen verurteilt zu werden. Denn wenn ein solches Machwerk Anstoß
erregte, so wurde auf Verfasser, Drucker und Verleger von der „Bücherkom-
mission" gefahndet, der litterarischen Polizeibehörde, die schon seit dem Ende
des siebzehnten Jahrhunderts in Leipzig bestand, aus dem Rate der Stadt und
einem Universitätsprofessor zusammengesetzt war und zum ausführenden Be¬
amten einen „Bücherinspektor" hattet) War das litterarische Vergehen be-



Dieser Bücherinspektor war eine verhaßte Person, man suchte ihn zu hintergehen und
zu ärgern, wie und wo man nur konnte. Als im Januar 1789 in der Wnltherschen Buch¬
handlung (Walther und Pott) das Lustspiel konfiszirt werden sollte, das Barth in Halle gegen
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[0472] Leipziger Pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts Inseratenteil noch in den sechziger Jahren bestanden; der Volksmund nannte ihn die Eselswiese. Heute würde die Aufnahme solcher Inserate wohl überall sür äußerst unanständig gelten. Dafür behandelt aber jetzt der redaktionelle Teil vieler Zeitungen gesellschaftliche Zustände und Vorgänge, auch solche von privatester Natur, auf eine Weise, die von den drei eingangs geforderten Tugenden oft sehr viel vermissen läßt. Im vorigen Jahrhundert besorgten dieses Geschäft der Kritik die sogenannten moralischen Wochenschriften. Wie manchesmal waren da die Züge zu einem scheinbar ganz allgemein gehaltnen Charakterbilde oder zu der Schilderung einer gerade in Blüte stehenden Modenarrheit so deutlich dem Leben entlehnt, daß sich Personen meldeten und sich beschwerten, weil sie sich getroffen fühlten! In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die moralischen Wochen- schristen aus der Mode kamen, mußten sich solche Schilderungen in besondre Bücher und Broschüren flüchten, die in den verschiedensten Darstelluugssormen erschienen, als Gespräche, als Briefe, sogar als Wörterbücher, die aber von denen, die daran Anstoß nahmen, alle mit dem bösen Worte Pasquill bezeichnet wurden. Solche Pasquille werden wohl damals über alle größern Städte Deutschlands geschrieben worden sein; aber besonders zahlreich erschienen sie über Leipzig. Schon wieder so ein Ding von und sür Leipzig? beginnt die Vorrede zu „Leipzig im Profil" (1799), einem Buche, das selber zu dieser Klasse von Schriften gehört. In der That, wohl keine deutsche Stadt hat eine solche Menge von Pasquilllitteratur über sich ergehen lassen müssen, wie Leipzig im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts; die Stadt war damals ein wahrer Sumpfboden für solche Erzeugnisse. Über die Ursache dieser Fruchtbarkeit kann kein Zweifel sein: sie liegt in der eigentümlichen Verbindung des Buchhandels und der Universität in Leipzig. Die Universität lieferte die Verfasser, meist verbummelte Studenten, deren ganzes Studium darin bestanden hatte, das Leben der Stadt in allen Schichten, vor allen Dingen natürlich unten, aber so weit es möglich war, auch oben kennen zu lernen; und im Buchhandel fanden sich immer wagehalsige Leute, mitunter ebenfalls verkommne ^(Zg.6Linioi, die solche Erzeugnisse ohne Zensur drucken ließen und vertrieben, auf die Gefahr hin, eingesperrt und zu hohen Geldstrafen verurteilt zu werden. Denn wenn ein solches Machwerk Anstoß erregte, so wurde auf Verfasser, Drucker und Verleger von der „Bücherkom- mission" gefahndet, der litterarischen Polizeibehörde, die schon seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Leipzig bestand, aus dem Rate der Stadt und einem Universitätsprofessor zusammengesetzt war und zum ausführenden Be¬ amten einen „Bücherinspektor" hattet) War das litterarische Vergehen be- Dieser Bücherinspektor war eine verhaßte Person, man suchte ihn zu hintergehen und zu ärgern, wie und wo man nur konnte. Als im Januar 1789 in der Wnltherschen Buch¬ handlung (Walther und Pott) das Lustspiel konfiszirt werden sollte, das Barth in Halle gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/472>, abgerufen am 24.08.2024.