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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

Aber nicht nur diese oder jene Arbeit allein, sondern schon die Stellung
eines Dienstmädchens an und für sich wird ja als entwürdigend angesehen.
Obgleich sich die Lage der Dienstmädchen so bedeutend gebessert hat, scheut
sich die weibliche Jugend der Großstädte doch zum großen Teil vor dem Ein¬
gehen eines Dienstverhältnisses, oder sie ist so verwöhnt und anspruchsvoll,
daß anderweitiger Ersatz gesucht wird und die Arbeitskräfte herangezogen
werden ans Gegenden, wo sich die Arbeiterbevölkerung einfachere Anschauungen
und Gewohnheiten bewahrt hat. Für die aus dieser Bevölkerung hervor-
gegcmgnen Mädchen wiederum bedeutet die Übernahme eines städtischen Dienstes
einen Fortschritt. Sie finden in der Stadt günstigere Arbeitsbedingungen und
eine angenehmere Stellung; sie sind von den schwerern körperlichen Anstren¬
gungen der Landarbeit befreit. So zieht diese Bewegung ihre Kreise weit
aufs Land hinaus und hat dort die Knappheit besonders an weiblichen Arbeits¬
kräften zur Folge, über die so sehr geklagt wird. Ich bin kein Freund der
Agrarier, aber ich kann doch dem Unmut vieler ländlichen Arbeitgeber über
die Fahnenflucht der ländlichen Arbeiter nicht die Berechtigung absprechen. Ich
beklage mit ihnen die Abnahme der Lust und Freudigkeit zur Landarbeit.
Freilich kaun das Bestreben, die eigne Lage zu verbessern, keinem verdacht werden,
und es ist auch begreiflich, wenn hierzu ebenso wohl die angenehme Stellung
und die leichtere Arbeit, als die Lohnerhöhung gerechnet wird; es ist begreiflich,
wenn ein Mädchen häusliche Arbeiten dem Kühemelken oder dem Garbenauf-
biudeu im Sonnenbrande vorzieht. Dem Abzüge nach den Großstädten kann
billigerweise nicht durch die von den Agrariern verlangten gesetzlichen Beschrän¬
kungen, sondern nur durch Aufbesserung der Lage der Landarbeiter gewehrt werden.
Aber das Hinströmen nach den Großstädten ist doch nur unter der Voraus¬
setzung berechtigt, daß hier wirklich die Lage des Arbeitsmarktes günstiger ist
als auf dem Lande. Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn die ganze so zu¬
sammengeströmte Bevölkerung als in einer Zwangslage befindlich dargestellt,
der freie Wille in dem Aufsuchen des Wohnplatzes wie in der Auswahl der
Arbeit nicht beachtet wird.

Das Problem spitzt sich also zu folgenden Fragen zu: Können wir einer
beliebig großen Anzahl von Menschen, so viele immer einen bestimmten Wohnort
bevorzugen mögen, verbürgen, daß sie an diesem Ort ihr gutes Auskommen finden
werden? Und ferner: Können wir einer beliebig großen Anzahl von Menschen,
so viele immer ans irgend welchen Gründen sich einen bestimmten Arbeits¬
zweig erwählen mögen, ein gutes Auskommen in diesem Arbeitszweig ver¬
bürgen? Ich glaube, man braucht diese Fragen bloß zu stellen, um sofort
klar zu machen, daß es sich hier um unausführbare Aufgaben handelt. Und doch
wird vielfach die Vorstellung gepflegt, als ob wir etwas vermöchten, wozu
wir nicht imstande sind. Wie den wimmernden und jammernden Agrariern
entgegengehalten werden muß, daß niemand gezwungen ist, Landmann zu


Die Pflicht zur Arbeit

Aber nicht nur diese oder jene Arbeit allein, sondern schon die Stellung
eines Dienstmädchens an und für sich wird ja als entwürdigend angesehen.
Obgleich sich die Lage der Dienstmädchen so bedeutend gebessert hat, scheut
sich die weibliche Jugend der Großstädte doch zum großen Teil vor dem Ein¬
gehen eines Dienstverhältnisses, oder sie ist so verwöhnt und anspruchsvoll,
daß anderweitiger Ersatz gesucht wird und die Arbeitskräfte herangezogen
werden ans Gegenden, wo sich die Arbeiterbevölkerung einfachere Anschauungen
und Gewohnheiten bewahrt hat. Für die aus dieser Bevölkerung hervor-
gegcmgnen Mädchen wiederum bedeutet die Übernahme eines städtischen Dienstes
einen Fortschritt. Sie finden in der Stadt günstigere Arbeitsbedingungen und
eine angenehmere Stellung; sie sind von den schwerern körperlichen Anstren¬
gungen der Landarbeit befreit. So zieht diese Bewegung ihre Kreise weit
aufs Land hinaus und hat dort die Knappheit besonders an weiblichen Arbeits¬
kräften zur Folge, über die so sehr geklagt wird. Ich bin kein Freund der
Agrarier, aber ich kann doch dem Unmut vieler ländlichen Arbeitgeber über
die Fahnenflucht der ländlichen Arbeiter nicht die Berechtigung absprechen. Ich
beklage mit ihnen die Abnahme der Lust und Freudigkeit zur Landarbeit.
Freilich kaun das Bestreben, die eigne Lage zu verbessern, keinem verdacht werden,
und es ist auch begreiflich, wenn hierzu ebenso wohl die angenehme Stellung
und die leichtere Arbeit, als die Lohnerhöhung gerechnet wird; es ist begreiflich,
wenn ein Mädchen häusliche Arbeiten dem Kühemelken oder dem Garbenauf-
biudeu im Sonnenbrande vorzieht. Dem Abzüge nach den Großstädten kann
billigerweise nicht durch die von den Agrariern verlangten gesetzlichen Beschrän¬
kungen, sondern nur durch Aufbesserung der Lage der Landarbeiter gewehrt werden.
Aber das Hinströmen nach den Großstädten ist doch nur unter der Voraus¬
setzung berechtigt, daß hier wirklich die Lage des Arbeitsmarktes günstiger ist
als auf dem Lande. Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn die ganze so zu¬
sammengeströmte Bevölkerung als in einer Zwangslage befindlich dargestellt,
der freie Wille in dem Aufsuchen des Wohnplatzes wie in der Auswahl der
Arbeit nicht beachtet wird.

Das Problem spitzt sich also zu folgenden Fragen zu: Können wir einer
beliebig großen Anzahl von Menschen, so viele immer einen bestimmten Wohnort
bevorzugen mögen, verbürgen, daß sie an diesem Ort ihr gutes Auskommen finden
werden? Und ferner: Können wir einer beliebig großen Anzahl von Menschen,
so viele immer ans irgend welchen Gründen sich einen bestimmten Arbeits¬
zweig erwählen mögen, ein gutes Auskommen in diesem Arbeitszweig ver¬
bürgen? Ich glaube, man braucht diese Fragen bloß zu stellen, um sofort
klar zu machen, daß es sich hier um unausführbare Aufgaben handelt. Und doch
wird vielfach die Vorstellung gepflegt, als ob wir etwas vermöchten, wozu
wir nicht imstande sind. Wie den wimmernden und jammernden Agrariern
entgegengehalten werden muß, daß niemand gezwungen ist, Landmann zu


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[0455] Die Pflicht zur Arbeit Aber nicht nur diese oder jene Arbeit allein, sondern schon die Stellung eines Dienstmädchens an und für sich wird ja als entwürdigend angesehen. Obgleich sich die Lage der Dienstmädchen so bedeutend gebessert hat, scheut sich die weibliche Jugend der Großstädte doch zum großen Teil vor dem Ein¬ gehen eines Dienstverhältnisses, oder sie ist so verwöhnt und anspruchsvoll, daß anderweitiger Ersatz gesucht wird und die Arbeitskräfte herangezogen werden ans Gegenden, wo sich die Arbeiterbevölkerung einfachere Anschauungen und Gewohnheiten bewahrt hat. Für die aus dieser Bevölkerung hervor- gegcmgnen Mädchen wiederum bedeutet die Übernahme eines städtischen Dienstes einen Fortschritt. Sie finden in der Stadt günstigere Arbeitsbedingungen und eine angenehmere Stellung; sie sind von den schwerern körperlichen Anstren¬ gungen der Landarbeit befreit. So zieht diese Bewegung ihre Kreise weit aufs Land hinaus und hat dort die Knappheit besonders an weiblichen Arbeits¬ kräften zur Folge, über die so sehr geklagt wird. Ich bin kein Freund der Agrarier, aber ich kann doch dem Unmut vieler ländlichen Arbeitgeber über die Fahnenflucht der ländlichen Arbeiter nicht die Berechtigung absprechen. Ich beklage mit ihnen die Abnahme der Lust und Freudigkeit zur Landarbeit. Freilich kaun das Bestreben, die eigne Lage zu verbessern, keinem verdacht werden, und es ist auch begreiflich, wenn hierzu ebenso wohl die angenehme Stellung und die leichtere Arbeit, als die Lohnerhöhung gerechnet wird; es ist begreiflich, wenn ein Mädchen häusliche Arbeiten dem Kühemelken oder dem Garbenauf- biudeu im Sonnenbrande vorzieht. Dem Abzüge nach den Großstädten kann billigerweise nicht durch die von den Agrariern verlangten gesetzlichen Beschrän¬ kungen, sondern nur durch Aufbesserung der Lage der Landarbeiter gewehrt werden. Aber das Hinströmen nach den Großstädten ist doch nur unter der Voraus¬ setzung berechtigt, daß hier wirklich die Lage des Arbeitsmarktes günstiger ist als auf dem Lande. Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn die ganze so zu¬ sammengeströmte Bevölkerung als in einer Zwangslage befindlich dargestellt, der freie Wille in dem Aufsuchen des Wohnplatzes wie in der Auswahl der Arbeit nicht beachtet wird. Das Problem spitzt sich also zu folgenden Fragen zu: Können wir einer beliebig großen Anzahl von Menschen, so viele immer einen bestimmten Wohnort bevorzugen mögen, verbürgen, daß sie an diesem Ort ihr gutes Auskommen finden werden? Und ferner: Können wir einer beliebig großen Anzahl von Menschen, so viele immer ans irgend welchen Gründen sich einen bestimmten Arbeits¬ zweig erwählen mögen, ein gutes Auskommen in diesem Arbeitszweig ver¬ bürgen? Ich glaube, man braucht diese Fragen bloß zu stellen, um sofort klar zu machen, daß es sich hier um unausführbare Aufgaben handelt. Und doch wird vielfach die Vorstellung gepflegt, als ob wir etwas vermöchten, wozu wir nicht imstande sind. Wie den wimmernden und jammernden Agrariern entgegengehalten werden muß, daß niemand gezwungen ist, Landmann zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/455>, abgerufen am 22.07.2024.