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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulunterrichts

in Frankreich, die früher ganz unbekannte Schätzung der Volksbildung als
politische Angelegenheit und als Machtmittel geworden ist.

Seit etwa vierzig Jahren begegnet man in der englischen Litteratur dem
Ausdruck Univsrsit^ LxtsnÄon, Ausdehnung oder Ausbreitung der Hochschul¬
bildung. Er bezeichnete zuerst ein unbestimmtes Bestreben, die höhern Bil-
dungsqucllen zugänglich zu machen, mit der Zeit ist er aber zum Namen einer
großen geistigen Bewegung geworden. Diese Bewegung hat ein ganzes, reich
entwickeltes wissenschaftliches Unterrichtswesen mit den Mitteln der Hochschulen
geschaffen, das unabhängig ist von deren überlieferten eigentlichen Aufgaben
und von deren räumlichen und zeitlichen Beschränkungen. Sie ist dann nach
Nordamerika übertragen worden, wo sie noch kräftiger gediehen ist. In beiden
Ländern bezeichnet sie einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den unmittelbar
vorher herrschenden Anschauungen und Einrichtungen. England ist in dieser
Bewegung von einem Punkte ausgegangen, den Deutschland schon Jahrhunderte
hinter sich hatte, nämlich von einer kleinen Zahl von Hochschulen, die schlecht
verteilt, mit allen möglichen Hemmnissen umgeben und infolge dessen, im Ver¬
hältnis zur Volkszahl, schlecht besucht waren. Erst in den fünfziger Jahren
wurden die konfessionellen Beschränkungen weggeräumt, die zu den akademischen
Graden von Oxford und Cambridge nur Glieder der Hochkirche zuließen. Nur
sehr Wohlhabende konnten sich den Luxus des akademischen Studiums gönnen.
Der Grundsatz der staatlichen Förderung des Unterrichts war damals über¬
haupt kaum erkämpft, und in vielen Teilen des Vereinigten Königreichs konnte
die Hälfte der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Dabei waren die
Mittel der wenigen Hochschulen viel größer, als es für die wirklich erreichten
Zwecke erforderlich war, und der rasch zunehmende Reichtum des Landes forderte
geradezu dazu auf, auf nützliche Verwendungen zu denken. Es ist bekannt,
daß England später als Deutschland den mittlern und höhern technischen Unter¬
richt organisirt hat, womit freilich auf den ersten Blick die Thatsache im Wider¬
spruch steht, daß viele Hunderte von englischen Werkmeistern und Ingenieuren
bis in die fünfziger Jahre herein bei uns in Fabriken, bei Eisenbahnen und
Vrückenbauten die Lehrmeister waren. Aber das machte ihre treffliche prak¬
tische Schulung, wie denn auch die Blüte des englischen Handels ohne Handels¬
schüler und dergleichen nur aus der praktischen Richtung des nichtprivilegirtcn
Unterrichts verständlich war und noch ist. Als aber die kontinentale Wett¬
bewerbung drängender wurde, entstanden rasch hinter einander Schulen und
Laboratorien von teilweise staunenswerten Leistungen. Auch die organisirte
Arbeiterschaft suchte ihre Bildungsgelegenheiten zu steigern, zum Teil in
schwerem Kampf mit dem Mangel an Lehrkräften und an anschlußfähigen Or¬
ganisationen.

Die öffentlichen Vorträge hatten schon ihren Höhepunkt überschritten, als
diese Bewegungen begannen. Die Universitätsausdehnung ist in England wie in


Ausdehnung des Hochschulunterrichts

in Frankreich, die früher ganz unbekannte Schätzung der Volksbildung als
politische Angelegenheit und als Machtmittel geworden ist.

Seit etwa vierzig Jahren begegnet man in der englischen Litteratur dem
Ausdruck Univsrsit^ LxtsnÄon, Ausdehnung oder Ausbreitung der Hochschul¬
bildung. Er bezeichnete zuerst ein unbestimmtes Bestreben, die höhern Bil-
dungsqucllen zugänglich zu machen, mit der Zeit ist er aber zum Namen einer
großen geistigen Bewegung geworden. Diese Bewegung hat ein ganzes, reich
entwickeltes wissenschaftliches Unterrichtswesen mit den Mitteln der Hochschulen
geschaffen, das unabhängig ist von deren überlieferten eigentlichen Aufgaben
und von deren räumlichen und zeitlichen Beschränkungen. Sie ist dann nach
Nordamerika übertragen worden, wo sie noch kräftiger gediehen ist. In beiden
Ländern bezeichnet sie einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den unmittelbar
vorher herrschenden Anschauungen und Einrichtungen. England ist in dieser
Bewegung von einem Punkte ausgegangen, den Deutschland schon Jahrhunderte
hinter sich hatte, nämlich von einer kleinen Zahl von Hochschulen, die schlecht
verteilt, mit allen möglichen Hemmnissen umgeben und infolge dessen, im Ver¬
hältnis zur Volkszahl, schlecht besucht waren. Erst in den fünfziger Jahren
wurden die konfessionellen Beschränkungen weggeräumt, die zu den akademischen
Graden von Oxford und Cambridge nur Glieder der Hochkirche zuließen. Nur
sehr Wohlhabende konnten sich den Luxus des akademischen Studiums gönnen.
Der Grundsatz der staatlichen Förderung des Unterrichts war damals über¬
haupt kaum erkämpft, und in vielen Teilen des Vereinigten Königreichs konnte
die Hälfte der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Dabei waren die
Mittel der wenigen Hochschulen viel größer, als es für die wirklich erreichten
Zwecke erforderlich war, und der rasch zunehmende Reichtum des Landes forderte
geradezu dazu auf, auf nützliche Verwendungen zu denken. Es ist bekannt,
daß England später als Deutschland den mittlern und höhern technischen Unter¬
richt organisirt hat, womit freilich auf den ersten Blick die Thatsache im Wider¬
spruch steht, daß viele Hunderte von englischen Werkmeistern und Ingenieuren
bis in die fünfziger Jahre herein bei uns in Fabriken, bei Eisenbahnen und
Vrückenbauten die Lehrmeister waren. Aber das machte ihre treffliche prak¬
tische Schulung, wie denn auch die Blüte des englischen Handels ohne Handels¬
schüler und dergleichen nur aus der praktischen Richtung des nichtprivilegirtcn
Unterrichts verständlich war und noch ist. Als aber die kontinentale Wett¬
bewerbung drängender wurde, entstanden rasch hinter einander Schulen und
Laboratorien von teilweise staunenswerten Leistungen. Auch die organisirte
Arbeiterschaft suchte ihre Bildungsgelegenheiten zu steigern, zum Teil in
schwerem Kampf mit dem Mangel an Lehrkräften und an anschlußfähigen Or¬
ganisationen.

Die öffentlichen Vorträge hatten schon ihren Höhepunkt überschritten, als
diese Bewegungen begannen. Die Universitätsausdehnung ist in England wie in


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[0420] Ausdehnung des Hochschulunterrichts in Frankreich, die früher ganz unbekannte Schätzung der Volksbildung als politische Angelegenheit und als Machtmittel geworden ist. Seit etwa vierzig Jahren begegnet man in der englischen Litteratur dem Ausdruck Univsrsit^ LxtsnÄon, Ausdehnung oder Ausbreitung der Hochschul¬ bildung. Er bezeichnete zuerst ein unbestimmtes Bestreben, die höhern Bil- dungsqucllen zugänglich zu machen, mit der Zeit ist er aber zum Namen einer großen geistigen Bewegung geworden. Diese Bewegung hat ein ganzes, reich entwickeltes wissenschaftliches Unterrichtswesen mit den Mitteln der Hochschulen geschaffen, das unabhängig ist von deren überlieferten eigentlichen Aufgaben und von deren räumlichen und zeitlichen Beschränkungen. Sie ist dann nach Nordamerika übertragen worden, wo sie noch kräftiger gediehen ist. In beiden Ländern bezeichnet sie einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den unmittelbar vorher herrschenden Anschauungen und Einrichtungen. England ist in dieser Bewegung von einem Punkte ausgegangen, den Deutschland schon Jahrhunderte hinter sich hatte, nämlich von einer kleinen Zahl von Hochschulen, die schlecht verteilt, mit allen möglichen Hemmnissen umgeben und infolge dessen, im Ver¬ hältnis zur Volkszahl, schlecht besucht waren. Erst in den fünfziger Jahren wurden die konfessionellen Beschränkungen weggeräumt, die zu den akademischen Graden von Oxford und Cambridge nur Glieder der Hochkirche zuließen. Nur sehr Wohlhabende konnten sich den Luxus des akademischen Studiums gönnen. Der Grundsatz der staatlichen Förderung des Unterrichts war damals über¬ haupt kaum erkämpft, und in vielen Teilen des Vereinigten Königreichs konnte die Hälfte der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Dabei waren die Mittel der wenigen Hochschulen viel größer, als es für die wirklich erreichten Zwecke erforderlich war, und der rasch zunehmende Reichtum des Landes forderte geradezu dazu auf, auf nützliche Verwendungen zu denken. Es ist bekannt, daß England später als Deutschland den mittlern und höhern technischen Unter¬ richt organisirt hat, womit freilich auf den ersten Blick die Thatsache im Wider¬ spruch steht, daß viele Hunderte von englischen Werkmeistern und Ingenieuren bis in die fünfziger Jahre herein bei uns in Fabriken, bei Eisenbahnen und Vrückenbauten die Lehrmeister waren. Aber das machte ihre treffliche prak¬ tische Schulung, wie denn auch die Blüte des englischen Handels ohne Handels¬ schüler und dergleichen nur aus der praktischen Richtung des nichtprivilegirtcn Unterrichts verständlich war und noch ist. Als aber die kontinentale Wett¬ bewerbung drängender wurde, entstanden rasch hinter einander Schulen und Laboratorien von teilweise staunenswerten Leistungen. Auch die organisirte Arbeiterschaft suchte ihre Bildungsgelegenheiten zu steigern, zum Teil in schwerem Kampf mit dem Mangel an Lehrkräften und an anschlußfähigen Or¬ ganisationen. Die öffentlichen Vorträge hatten schon ihren Höhepunkt überschritten, als diese Bewegungen begannen. Die Universitätsausdehnung ist in England wie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/420>, abgerufen am 22.07.2024.