Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Vorbildung unsrer Kolonialbeamten

Fragt man einen Gebildeten, welche wissenschaftliche Fächer er an einer
Kolonialschule für die wichtigsten halten würde, so kann man darauf rechnen,
daß er zuerst Botanik, Geologie, Zoologie, Meteorologie nennen wird, die
Völkerkunde aber, wenn überhaupt, erst nach einigem Besinnen an letzter Stelle.
Eine verhängnisvolle Reihenfolge! Wenn irgend eine Wissenschaft, so hat die
Völkerkunde das Recht, an erster Stelle Berücksichtigung zu verlangen, und
zwar sowohl aus wissenschaftlichen Gründen wie aus rein praktischen.

Die Völkerkunde ist gerade gegenwärtig in einer seltsamen Lage. Der
Größe ihrer Aufgabe und der dringenden Eile gegenüber, mit der viele ihrer
Arbeiten vor dem gänzlichen Verschwinden des ethnologischen Materials erledigt
werden müssen, bilden die ihr zur Verfügung stehenden Mittel einen geradezu
kläglichen Gegensatz. Es ist eine bewundernswerte Leistung des deutschen
Idealismus, daß trotzdem auch in diesem Fache die deutsche Wissenschaft die
Führung zu übernehmen beginnt und selbst den überreich bevorzugten Ameri¬
kanern den Rang abläuft. Noch hat sich kein deutscher Staat gemüssigt ge¬
sunden, einen Lehrstuhl sür Völkerkunde zu errichten, und während minder
dringende Ansprüche stets auf Fürsprecher rechnen können und leicht befriedigt
werden, läßt man eine Wissenschaft verkümmern, die allein imstande wäre, einer
ganzen Reihe stockender Fächer frisches Blut und Leben einzuflößen. Die Gefahr
liegt ungemein nahe, daß auch bei Gründung einer Kolonialschule die Völker¬
kunde wieder die Rolle des Aschenbrödels spielt. Auf diese Weise aber würde
unendlich viel verloren gehen. Die Völkerkunde ist vor allem auf das Studium
der Naturvölker angewiesen, diese aber sind in unaufhaltsamem Rückgang und
verlieren mit unheimlicher Schnelligkeit ihre Eigenart. Das Kolonialwesen trägt
dazu mächtig bei, und es ist wirklich nicht zu viel verlangt, wenn man an¬
gesichts dieser Verhältnisse fordert, daß sich wenigstens der Kolonialbeamte an
dem Rettungswerke beteiligen und vou seiner Negierung zu dieser Aufgabe
fähig gemacht werden soll. Bis jetzt überläßt man das alles dem Zufall oder
spricht wohl den Wunsch aus, daß der Beamte auch die ethnologischen Ver¬
hältnisse beobachten soll, giebt ihm aber nicht die Möglichkeit, dies mit wirk¬
lichem Erfolge zu thun. Statt dessen müßte er sich über die hauptsächlichsten
wissenschaftlichen Fragen klar sein. Wer nicht ethnologisch gebildet ist, dem er¬
scheint vieles als Spielerei, nicht des Erzählens wert, was in Wirklichkeit die
höchste Bedeutung hat, und andrerseits ist er geneigt, mit behaglicher Breite
über Dinge zu berichten, die mit wenigen Worten genügend charakterisirt wären
oder, weil er ihren Sinn verkehrt aufgefaßt hat, ganz unverständlich bleiben.
Der Kolonialbeamte müßte mit Verständnis dahin wirken, daß die alten Sitten
und Bräuche, die zum Teil durch seine eigne Anwesenheit und sein Beispiel
vernichtet werden, nicht ganz und gar zu Grunde gehen, sondern wenigstens
aufgezeichnet werden und somit der Wissenschaft erhalten bleiben. Schon in
diesem Sinne hat die Völkerkunde allen andern Fächern voranzusteheu. Durch


Die Vorbildung unsrer Kolonialbeamten

Fragt man einen Gebildeten, welche wissenschaftliche Fächer er an einer
Kolonialschule für die wichtigsten halten würde, so kann man darauf rechnen,
daß er zuerst Botanik, Geologie, Zoologie, Meteorologie nennen wird, die
Völkerkunde aber, wenn überhaupt, erst nach einigem Besinnen an letzter Stelle.
Eine verhängnisvolle Reihenfolge! Wenn irgend eine Wissenschaft, so hat die
Völkerkunde das Recht, an erster Stelle Berücksichtigung zu verlangen, und
zwar sowohl aus wissenschaftlichen Gründen wie aus rein praktischen.

Die Völkerkunde ist gerade gegenwärtig in einer seltsamen Lage. Der
Größe ihrer Aufgabe und der dringenden Eile gegenüber, mit der viele ihrer
Arbeiten vor dem gänzlichen Verschwinden des ethnologischen Materials erledigt
werden müssen, bilden die ihr zur Verfügung stehenden Mittel einen geradezu
kläglichen Gegensatz. Es ist eine bewundernswerte Leistung des deutschen
Idealismus, daß trotzdem auch in diesem Fache die deutsche Wissenschaft die
Führung zu übernehmen beginnt und selbst den überreich bevorzugten Ameri¬
kanern den Rang abläuft. Noch hat sich kein deutscher Staat gemüssigt ge¬
sunden, einen Lehrstuhl sür Völkerkunde zu errichten, und während minder
dringende Ansprüche stets auf Fürsprecher rechnen können und leicht befriedigt
werden, läßt man eine Wissenschaft verkümmern, die allein imstande wäre, einer
ganzen Reihe stockender Fächer frisches Blut und Leben einzuflößen. Die Gefahr
liegt ungemein nahe, daß auch bei Gründung einer Kolonialschule die Völker¬
kunde wieder die Rolle des Aschenbrödels spielt. Auf diese Weise aber würde
unendlich viel verloren gehen. Die Völkerkunde ist vor allem auf das Studium
der Naturvölker angewiesen, diese aber sind in unaufhaltsamem Rückgang und
verlieren mit unheimlicher Schnelligkeit ihre Eigenart. Das Kolonialwesen trägt
dazu mächtig bei, und es ist wirklich nicht zu viel verlangt, wenn man an¬
gesichts dieser Verhältnisse fordert, daß sich wenigstens der Kolonialbeamte an
dem Rettungswerke beteiligen und vou seiner Negierung zu dieser Aufgabe
fähig gemacht werden soll. Bis jetzt überläßt man das alles dem Zufall oder
spricht wohl den Wunsch aus, daß der Beamte auch die ethnologischen Ver¬
hältnisse beobachten soll, giebt ihm aber nicht die Möglichkeit, dies mit wirk¬
lichem Erfolge zu thun. Statt dessen müßte er sich über die hauptsächlichsten
wissenschaftlichen Fragen klar sein. Wer nicht ethnologisch gebildet ist, dem er¬
scheint vieles als Spielerei, nicht des Erzählens wert, was in Wirklichkeit die
höchste Bedeutung hat, und andrerseits ist er geneigt, mit behaglicher Breite
über Dinge zu berichten, die mit wenigen Worten genügend charakterisirt wären
oder, weil er ihren Sinn verkehrt aufgefaßt hat, ganz unverständlich bleiben.
Der Kolonialbeamte müßte mit Verständnis dahin wirken, daß die alten Sitten
und Bräuche, die zum Teil durch seine eigne Anwesenheit und sein Beispiel
vernichtet werden, nicht ganz und gar zu Grunde gehen, sondern wenigstens
aufgezeichnet werden und somit der Wissenschaft erhalten bleiben. Schon in
diesem Sinne hat die Völkerkunde allen andern Fächern voranzusteheu. Durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222706"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Vorbildung unsrer Kolonialbeamten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1166"> Fragt man einen Gebildeten, welche wissenschaftliche Fächer er an einer<lb/>
Kolonialschule für die wichtigsten halten würde, so kann man darauf rechnen,<lb/>
daß er zuerst Botanik, Geologie, Zoologie, Meteorologie nennen wird, die<lb/>
Völkerkunde aber, wenn überhaupt, erst nach einigem Besinnen an letzter Stelle.<lb/>
Eine verhängnisvolle Reihenfolge! Wenn irgend eine Wissenschaft, so hat die<lb/>
Völkerkunde das Recht, an erster Stelle Berücksichtigung zu verlangen, und<lb/>
zwar sowohl aus wissenschaftlichen Gründen wie aus rein praktischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1167" next="#ID_1168"> Die Völkerkunde ist gerade gegenwärtig in einer seltsamen Lage. Der<lb/>
Größe ihrer Aufgabe und der dringenden Eile gegenüber, mit der viele ihrer<lb/>
Arbeiten vor dem gänzlichen Verschwinden des ethnologischen Materials erledigt<lb/>
werden müssen, bilden die ihr zur Verfügung stehenden Mittel einen geradezu<lb/>
kläglichen Gegensatz. Es ist eine bewundernswerte Leistung des deutschen<lb/>
Idealismus, daß trotzdem auch in diesem Fache die deutsche Wissenschaft die<lb/>
Führung zu übernehmen beginnt und selbst den überreich bevorzugten Ameri¬<lb/>
kanern den Rang abläuft. Noch hat sich kein deutscher Staat gemüssigt ge¬<lb/>
sunden, einen Lehrstuhl sür Völkerkunde zu errichten, und während minder<lb/>
dringende Ansprüche stets auf Fürsprecher rechnen können und leicht befriedigt<lb/>
werden, läßt man eine Wissenschaft verkümmern, die allein imstande wäre, einer<lb/>
ganzen Reihe stockender Fächer frisches Blut und Leben einzuflößen. Die Gefahr<lb/>
liegt ungemein nahe, daß auch bei Gründung einer Kolonialschule die Völker¬<lb/>
kunde wieder die Rolle des Aschenbrödels spielt. Auf diese Weise aber würde<lb/>
unendlich viel verloren gehen. Die Völkerkunde ist vor allem auf das Studium<lb/>
der Naturvölker angewiesen, diese aber sind in unaufhaltsamem Rückgang und<lb/>
verlieren mit unheimlicher Schnelligkeit ihre Eigenart. Das Kolonialwesen trägt<lb/>
dazu mächtig bei, und es ist wirklich nicht zu viel verlangt, wenn man an¬<lb/>
gesichts dieser Verhältnisse fordert, daß sich wenigstens der Kolonialbeamte an<lb/>
dem Rettungswerke beteiligen und vou seiner Negierung zu dieser Aufgabe<lb/>
fähig gemacht werden soll. Bis jetzt überläßt man das alles dem Zufall oder<lb/>
spricht wohl den Wunsch aus, daß der Beamte auch die ethnologischen Ver¬<lb/>
hältnisse beobachten soll, giebt ihm aber nicht die Möglichkeit, dies mit wirk¬<lb/>
lichem Erfolge zu thun. Statt dessen müßte er sich über die hauptsächlichsten<lb/>
wissenschaftlichen Fragen klar sein. Wer nicht ethnologisch gebildet ist, dem er¬<lb/>
scheint vieles als Spielerei, nicht des Erzählens wert, was in Wirklichkeit die<lb/>
höchste Bedeutung hat, und andrerseits ist er geneigt, mit behaglicher Breite<lb/>
über Dinge zu berichten, die mit wenigen Worten genügend charakterisirt wären<lb/>
oder, weil er ihren Sinn verkehrt aufgefaßt hat, ganz unverständlich bleiben.<lb/>
Der Kolonialbeamte müßte mit Verständnis dahin wirken, daß die alten Sitten<lb/>
und Bräuche, die zum Teil durch seine eigne Anwesenheit und sein Beispiel<lb/>
vernichtet werden, nicht ganz und gar zu Grunde gehen, sondern wenigstens<lb/>
aufgezeichnet werden und somit der Wissenschaft erhalten bleiben. Schon in<lb/>
diesem Sinne hat die Völkerkunde allen andern Fächern voranzusteheu. Durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0402] Die Vorbildung unsrer Kolonialbeamten Fragt man einen Gebildeten, welche wissenschaftliche Fächer er an einer Kolonialschule für die wichtigsten halten würde, so kann man darauf rechnen, daß er zuerst Botanik, Geologie, Zoologie, Meteorologie nennen wird, die Völkerkunde aber, wenn überhaupt, erst nach einigem Besinnen an letzter Stelle. Eine verhängnisvolle Reihenfolge! Wenn irgend eine Wissenschaft, so hat die Völkerkunde das Recht, an erster Stelle Berücksichtigung zu verlangen, und zwar sowohl aus wissenschaftlichen Gründen wie aus rein praktischen. Die Völkerkunde ist gerade gegenwärtig in einer seltsamen Lage. Der Größe ihrer Aufgabe und der dringenden Eile gegenüber, mit der viele ihrer Arbeiten vor dem gänzlichen Verschwinden des ethnologischen Materials erledigt werden müssen, bilden die ihr zur Verfügung stehenden Mittel einen geradezu kläglichen Gegensatz. Es ist eine bewundernswerte Leistung des deutschen Idealismus, daß trotzdem auch in diesem Fache die deutsche Wissenschaft die Führung zu übernehmen beginnt und selbst den überreich bevorzugten Ameri¬ kanern den Rang abläuft. Noch hat sich kein deutscher Staat gemüssigt ge¬ sunden, einen Lehrstuhl sür Völkerkunde zu errichten, und während minder dringende Ansprüche stets auf Fürsprecher rechnen können und leicht befriedigt werden, läßt man eine Wissenschaft verkümmern, die allein imstande wäre, einer ganzen Reihe stockender Fächer frisches Blut und Leben einzuflößen. Die Gefahr liegt ungemein nahe, daß auch bei Gründung einer Kolonialschule die Völker¬ kunde wieder die Rolle des Aschenbrödels spielt. Auf diese Weise aber würde unendlich viel verloren gehen. Die Völkerkunde ist vor allem auf das Studium der Naturvölker angewiesen, diese aber sind in unaufhaltsamem Rückgang und verlieren mit unheimlicher Schnelligkeit ihre Eigenart. Das Kolonialwesen trägt dazu mächtig bei, und es ist wirklich nicht zu viel verlangt, wenn man an¬ gesichts dieser Verhältnisse fordert, daß sich wenigstens der Kolonialbeamte an dem Rettungswerke beteiligen und vou seiner Negierung zu dieser Aufgabe fähig gemacht werden soll. Bis jetzt überläßt man das alles dem Zufall oder spricht wohl den Wunsch aus, daß der Beamte auch die ethnologischen Ver¬ hältnisse beobachten soll, giebt ihm aber nicht die Möglichkeit, dies mit wirk¬ lichem Erfolge zu thun. Statt dessen müßte er sich über die hauptsächlichsten wissenschaftlichen Fragen klar sein. Wer nicht ethnologisch gebildet ist, dem er¬ scheint vieles als Spielerei, nicht des Erzählens wert, was in Wirklichkeit die höchste Bedeutung hat, und andrerseits ist er geneigt, mit behaglicher Breite über Dinge zu berichten, die mit wenigen Worten genügend charakterisirt wären oder, weil er ihren Sinn verkehrt aufgefaßt hat, ganz unverständlich bleiben. Der Kolonialbeamte müßte mit Verständnis dahin wirken, daß die alten Sitten und Bräuche, die zum Teil durch seine eigne Anwesenheit und sein Beispiel vernichtet werden, nicht ganz und gar zu Grunde gehen, sondern wenigstens aufgezeichnet werden und somit der Wissenschaft erhalten bleiben. Schon in diesem Sinne hat die Völkerkunde allen andern Fächern voranzusteheu. Durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/402
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/402>, abgerufen am 26.06.2024.